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Differenzialdiagnose des Thoraxschmerzes im höheren Lebensalter
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Jens D. W. Lohrmann
Kardiologie, Universitätsspital Basel
Autor:
PD Dr. med. Christian H. Nickel
Notfallzentrum, Universitätsspital Basel<br> Petersgraben 2<br> 4031 Basel<br> E-Mail: christian.nickel@usb.ch<br> Twitter: @replynickel
30
Min. Lesezeit
01.03.2018
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<p class="article-intro">Thoraxschmerz gehört zu den häufigsten Notfallsymptomen, aber nur 10 % von allen Patienten mit Thoraxschmerz erhalten die Diagnose «akuter Myokardinfarkt».<sup>1</sup> In der Notfallsituation müssen lebensbedrohliche Ursachen von Thoraxschmerz rasch erkannt werden. Bei der Differenzialdiagnose wird häufig von den sogenannten «Big 5» gesprochen: Myokardinfarkt, Lungenembolie, Aortendissektion, Spannungspneumothorax sowie das seltene Boerhaave-Syndrom. Bei älteren Patienten gilt es, Besonderheiten zu beachten, die in diesem Artikel beleuchtet werden sollen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Differenzialdiagnose des Thoraxschmerzes im höheren Lebensalter ist breit und reicht von benignen bis zu lebensbedrohlichen Ursachen. Die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen Ätiologie, eines komplizierten oder ungünstigen Verlaufs steigt mit dem Lebensalter.</li> <li>Unspezifische Beschwerden wie allgemeine Schwäche und Müdigkeit können primär harmlos anmuten, müssen aber nicht unbedingt eine benigne Ätiologie haben.</li> <li>Ältere Patienten mit Thoraxschmerzen werden oft verzögert behandelt und es dauert länger, bis sie hospitalisiert werden. Die Selbsteinschätzung der Beschwerden durch die Patienten und die darauf basierende Inanspruchnahme zunächst ambulanter Gesundheitsdienste mögen dazu beitragen.</li> <li>Eine auf Alter und Begleitumstände ausgerichtete Kommunikation und Instruktion des Patienten ist bedeudent.</li> </ul> </div> <h2>Die Big 5</h2> <p><strong>Akutes Koronarsyndrom</strong><br /> Die grösste Herausforderung beim akuten Koronarsyndrom im höheren Lebensalter ist die atypische Präsentation – definiert als Abwesenheit von Thoraxschmerz –, die bei etwa einem Drittel der Patienten zu finden ist (Abb. 1).<sup>2</sup> Dieser Anteil steigt bei über 80-Jährigen auf ca. 50 % .<sup>3</sup> Dies kann zu einer verspäteten Spitaleinweisung,<sup>4</sup> einer weniger aggressiven Behandlung und einer deutlich erhöhten Mortalität führen.<sup>2</sup> Aus dem GRACE-Register wissen wir, dass Dyspnoe und Kaltschweissigkeit, Nausea und Erbrechen sowie Synkope die häufigsten atypischen Symptome sind.<sup>5</sup> Selbst bei Patienten mit nachgewiesenem STEMI zeigte sich eine Prävalenz von etwa 22 % mit atypischer Krankheitspräsentation. Je älter die Patienten waren, desto häufiger traten Dyspnoe oder das harmlos anmutende Symptom allgemeine Schwäche sowie akute Verwirrtheit, Bauchschmerz und Synkope auf.<sup>6</sup> Andere mit einer atypischen Präsentation assoziierte Faktoren sind Diabetes mellitus, weibliches Geschlecht und eine Vorgeschichte von Schlaganfall oder Herzinsuffizienz.<sup>2</sup><br /> Das EKG ist im höheren Lebensalter weniger häufig diagnostisch, da häufig bereits Baseline-Veränderungen bestehen (z.B. Linksschenkelblock, Schrittmacher- EKG etc.).<sup>3</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Innere_1801_Weblinks_lo_innere_medizin_1801_s40_abb1.jpg" alt="" width="687" height="509" /></p> <p><strong>Lungenembolie</strong><br /> Höheres Lebensalter ist ein wichtiger Risikofaktor für tiefe Beinvenenthrombose und Lungenembolie.<sup>7</sup> Die Abschätzung der Vortestwahrscheinlichkeit für Lungenembolie mittels altersadaptierter D-Dimer- Werte und Entscheidungshilfen, wie z.B. Wells- oder Geneva-Score, ist mittlerweile Standard. Es gibt Hinweise, dass der Geneva-Score für ältere Patienten besser geeignet ist (geringerer Anteil an falsch negativen Befunden).<sup>8</sup> Für eine Lungenembolie typische Symptome treten im höheren Lebensalter allerdings seltener auf; in einer Kohorte von über 60-jährigen Patienten mit nachgewiesener Lungenembolie beklagten 64 % Dyspnoe und nur 37 % pleuritische Thoraxschmerzen.<sup>9</sup> Synkopen scheinen im höheren Lebensalter hingegen häufiger aufzutreten.<sup>10, 11</sup> An eine Lungenembolie sollte auch im Falle einer sonst unerklärten COPD-Exazerbation gedacht werden.<sup>12</sup></p> <p><strong>Aortendissektion</strong><br /> Die Aortendissektion ist eine seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von 5–30/ Mio. Patienten pro Jahr. Bis zu ein Drittel aller Patienten mit einer Typ-A-Dissektion ist älter als 70 Jahre. Risikofaktoren für eine Aortendissektion, wie Hypertonie, Riesenzellarteriitis, intraaortale Katheterisierung, St. n. herzchirurgischem Eingriff, insbesondere Aortenklappenersatz, sind im höheren Lebensalter häufiger anzutreffen. Wegen des oft fatalen Outcomes sollte immer an eine Aortendissektion gedacht werden. Der typische «aortale Schmerz», ein plötzlich einsetzender, reissender Schmerz in Brust oder Rücken, der nach distal wandern kann, sowie ein Pulsdefizit oder Herzgeräusch kommen bei älteren Patienten seltener vor.<sup>13</sup> Auch bei Patienten mit Thoraxschmerz in Kombination mit Schlaganfall, Synkope oder Mesenterialischämie sollte an eine Aortendissektion gedacht werden.</p> <p><strong>Pneumothorax</strong><br /> Das Leitsymptom beim Pneumothorax im höheren Lebensalter ist die Dyspnoe, die bei 82 % der Betroffenen auftritt. Von den älteren Patienten beklagen allerdings weniger als 20 % Thoraxschmerzen. Bei jüngeren Patienten sind es etwa zwei Drittel.<sup>14</sup></p> <p><strong>Ösophagusperforation (Boerhaave-Syndrom)</strong><br /> Patienten mit Ösophagusperforation können sich ebenfalls mit Thoraxschmerz präsentieren. Häufig ist eine Ösophagusperforation Folge von forciertem Erbrechen, einer Ösophagitis oder iatrogen bedingt durch Manipulationen; sie ist assoziiert mit einer relevanten Morbidität und Mortalität und verläuft unbehandelt ungünstig. Für die Diagnosestellung kann die Röntgenaufnahme hilfreich sein, die in bis zu 97 % der Fälle Auffälligkeiten zeigt. Bei ungefähr 27 % wird Luft im Mediastinum beobachtet, der häufigste Befund ist allerdings der Pleuraerguss, der in 61 % der Fälle zu finden ist.<sup>15</sup> Literatur zu Besonderheiten bei älteren Patienten ist den Autoren nicht bekannt.</p> <h2>Andere Ursachen für Thoraxschmerzen</h2> <p>Ein Drittel aller über 65-Jährigen stürzt mindestens einmal im Jahr, bei den über 80-Jährigen etwa die Hälfte.<sup>16</sup> Traumafolgen, wie z.B. Pneumothorax oder Rippenfrakturen, sollten bei älteren Menschen mit Thoraxschmerzen daher ausgeschlossen werden. Ältere Patienten mit Rippenfrakturen haben ein erhöhtes Risiko für Morbidität und Mortalität, das mit jeder zusätzlich gebrochenen Rippe steigt. Die Mortalität nimmt für jede zusätzliche gebrochene Rippe um 19 % zu und das Pneumonierisiko um 27 % .<sup>17</sup> Mithilfe einer guten Analgesie, z.B. mit einer Regionalanästhesie, kann dieses Risiko relevant vermindert werden.<sup>18</sup><br /> Die degenerativ bedingte kalzifizierende Aortenstenose ist eine Erkrankung des fortgeschrittenen Lebensalters. Die Inzidenz einer mittelschweren oder schweren Aortenstenose liegt bei über 75-Jährigen bei 12 % .<sup>19</sup> Thoraxschmerz, Synkope, Dyspnoe und Herzinsuffizienzzeichen sind typische Symptome, die bei älteren immobilen Patienten jedoch in geringerem Ausmass vorliegen können.<sup>20</sup><br /> Thoraxschmerz kann das einzige Symptom bei älteren Patienten mit einer Pneumonie sein. Bei bis zu 10 % der älteren Patienten mit nachgewiesener Pneumonie fehlen Dyspnoe, Husten und Fieber.<sup>21</sup> Überraschenderweise ist die Mortalität der ambulant erworbenen Pneumonie in der älteren Bevölkerung trotz zunehmend ambulanter Behandlung zurückgegangen. Dazu beigetragen haben vermutlich die besseren Guidelines zur Antibiotikatherapie sowie evidenzbasierte Entscheidungsalgorithmen (z.B. Pneumonia Severity Index, PSI), aber auch Impfungen, z.B. gegen Pneumokokken.<sup>22, 23</sup><br /> Etwa 50 % aller Herpes-zoster-Infektionen treten bei Patienten auf, die älter als 50 Jahre sind. In der Hälfte der Fälle ist ein thorakales Dermatom betroffen. Das typische Herpes-zoster-Exanthem tritt 4 bis 14 Tage nach Schmerzbeginn auf.<sup>24</sup> Eine genaue Inspektion des Integuments kann hier hilfreich sein.<br /> Auch Krankheitsentitäten, die normalerweise als «abdominal» gelten, müssen bei der Differenzialdiagnose des Thoraxschmerzes berücksichtigt werden. Hier sind vor allem Pankreatitis, Ulzera, maligne Prozesse und Gallenblasenpathologien zu nennen.<br /> Die Diagnose muskuloskelettaler Thoraxschmerz ist eine Ausschlussdiagnose, die schwierig vom Thoraxschmerz aufgrund gefährlicher Ätiologien abgrenzbar sein kann. Der durch Druck auslösbare Thoraxschmerz ist hierfür nicht beweisend, da er auch bei einem nicht unerheblichen Anteil von Patienten mit nachgewiesenem Myokardinfarkt anzutreffen ist (etwa 6 % in einer Studie mit hospitalisierten Patienten).<sup>25</sup></p> <h2>Atypische Krankheitspräsentation im höheren Lebensalter</h2> <p>Warum ältere Menschen häufig atypische Symptome präsentieren, wird noch nicht ausreichend verstanden. Allerdings ist die verzögerte medizinische Versorgung älterer Patienten mit Thoraxschmerzen in der Primärliteratur evident und wird auch in den Leitlinien gewürdigt.<sup>26–29</sup> Bei kardialen Erkrankungen wurde eine veränderte Schmerzwahrnehmung postuliert.<sup>30</sup> Vermutlich spielen aber auch Faktoren wie kognitive Veränderungen (Demenz, Delir), Polypharmazie oder verzögertes Auftreten von Veränderungen der Vitalparameter eine Rolle. Triviale Kommunikationshindernisse wie Presbyakusis können ebenso von Bedeutung sein. Hilfreich bei der initialen Risikoeinschätzung ist jeweils der Vergleich mit Ausgangswerten des Mentalstatus, der funktionellen Kapazität und der Vitalparameter, die gegebenenfalls mittels Fremdanamnese zu erheben sind. Jede Veränderung kann hier bedeutsam sein.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Mockel M et al.: Chief complaints in medical emergencies: do they relate to underlying disease and outcome? The Charité Emergency Medicine Study (CHARITEM). Eur J Emerg Med 2013; 20: 103-8 <strong>2</strong> Canto JG et al.: Prevalence, clinical characteristics, and mortality among patients with myocardial infarction presenting without chest pain. JAMA 2000; 283: 3223-9 <strong>3</strong> Rich MW: Epidemiology, clinical features, and prognosis of acute myocardial infarction in the elderly. Am J Geriatr Cardiol 2006; 15: 7-11 <strong>4</strong> Ouellet GM et al.: Prehospital delay in older adults with acute myocardial infarction: the ComprehenSIVe Evaluation of Risk Factors in Older Patients with Acute Myocardial Infarction Study. J Am Geriatr Soc 2017; 65: 2391-6 <strong>5</strong> Brieger D et al.: Acute coronary syndromes without chest pain, an underdiagnosed and undertreated high-risk group: insights from the Global Registry of Acute Coronary Events. 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