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Paradigmenwechsel in der Hämophiliebehandlung

<p class="article-intro">Prof. Dr. Guy Young, Los Angeles/USA, war Lead Investigator der wegweisenden HAVEN-2-Studie. Diese war ausschlaggebend für die vor Kurzem erfolgte Zulassung des bispezifischen Antikörpers Emicizumab zur Behandlung von Patienten mit Hämophilie A und erworbenen Autoantikörpern (Hemmkörpern) gegen Faktor-VIIISubstitutionspräparate.</p> <hr /> <p class="article-content"><p><strong>In den Studien HAVEN 1 und 2 zeigte Emicizumab eine hohe Wirksamkeit in der Blutungsprophylaxe bei Patienten mit H&auml;mophilie und Hemmk&ouml;rpern. Was bedeutet die M&ouml;glichkeit einer effektiven Prophylaxe f&uuml;r diese Patienten konkret?<br /><br /> G. Young:</strong> Wir haben bei manchen Patienten mit Hemmk&ouml;rpern bereits zuvor eine Blutungsprophylaxe versucht. In HAVEN 2 erhielten insgesamt 74 Prozent der Patienten eine Prophylaxe mit sogenannten Bypassing Agents: entweder mit aktiviertem Prothrombinkomplex- Konzentrat (APCC) oder mit rekombinanten Faktor-VIIa-Konzentraten (rFVIIa). Es hat sich aber gezeigt, nicht nur in der Klinik, sondern auch anhand von Studiendaten, dass diese Therapieregime in der Blutungsprophylaxe nicht besonders wirksam sind. Patienten mit Hemmk&ouml;rpern erleiden immer noch viele &ndash; auch schwere &ndash; Blutungen und sie entwickeln Arthropathien. Bei manchen Patienten scheint die Prophylaxe mit Bypassing Agents gut zu funktionieren, aber sie ist nach wie vor mit einer sehr intensiven Behandlung verbunden. Mit Emicizumab haben wir die Option, Blutungen bei Patienten mit Hemmk&ouml;rpern durch eine einfache, einmal w&ouml;chentlich applizierte Infusion zu verhindern. Diese M&ouml;glichkeit mit einem Mittel, das so wirksam und zugleich so einfach in der Anwendung ist, hatten wir noch nie. <br /><br /><strong>Eine offene Frage ist die Behandlung von schweren akuten Blutungen bei Patienten mit Hemmk&ouml;rpern unter Emicizumab-Prophylaxe. Wie ist hier vorzugehen?<br /><br /> G. Young:</strong> Durchbruchblutungen zu behandeln ist eine Herausforderung, da wir an die unerw&uuml;nschten, thromboembolischen Effekte denken m&uuml;ssen, die wir unter der Kombination von Emicizumab und APCC gesehen haben. Aufgrund dieser Nebenwirkungen wurden die Empfehlungen zur Behandlung von Durchbruchblutungen auch ge&auml;ndert. Seit dem Auftreten dieses Warnsignals, das nun 15, 16 Monate zur&uuml;ckliegt, sind keine zus&auml;tzlichen unerw&uuml;nschten Wirkungen beobachtet worden. Es gab einen Patienten, bei dem die Empfehlung nicht befolgt wurde, weil er so stark blutete. Infolge dieses Problems haben wir f&uuml;nf unerw&uuml;nschte Effekte in f&uuml;nf Monaten verzeichnet. Sie traten also innerhalb k&uuml;rzester Zeit auf, konnten aber verhindert werden, wenn wir bei diesen Patienten auf APCC verzichteten oder, wo wir es einsetzen mussten, die Dosis reduzierten. Ich bin also nicht besorgt wegen der Therapie von Durchbruchblutungen, da wir bereits einiges dabei gelernt haben. Wenn das Medikament nun zugelassen und in gro&szlig;em Umfang eingesetzt wird, k&ouml;nnen wir auch Durchbruchblutungen erfolgreich behandeln, indem wir nur rFVIIa einsetzen.<br /><br /><strong> Welche Folgen wird die Verf&uuml;gbarkeit von Emicizumab f&uuml;r die Anwendung der Immuntoleranzinduktion (ITI) bei Patienten mit Hemmk&ouml;rpern haben?<br /><br /> G. Young:</strong> Wenn man die Ergebnisse der HAVEN-2-Studie betrachtet, die tats&auml;chlich die Patientenpopulation einschloss, die normalerweise eine ITI erh&auml;lt, dann sieht man, dass fast alle Patienten nicht mehr bluteten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir bei diesen Patienten die ITI &uuml;berhaupt versuchen sollten, denn sie ist eine sehr intensive Therapie: Sie ist f&uuml;r die Eltern und die Patienten sehr schwierig umzusetzen und sie ist sehr teuer. Selbst wenn man sich daf&uuml;r entscheidet, wirkt sie im besten Fall in 70 Prozent, vielleicht nur in 50 Prozent aller F&auml;lle. Die Diskussion w&auml;re anders, wenn die ITI zu 100 Prozent effektiv w&auml;re. Dann w&auml;re es schwierig, sie aufzugeben. Da aber Emicizumab 99 Prozent der Blutungen verhindert, warum sollten wir es nicht einfach einsetzen und die ITI bei Kindern, die Hemmk&ouml;rper entwickeln, hinter uns lassen?<br /><br /><strong> In diesem Zusammenhang wird aktuell diskutiert, ob die Faktorsubstitution wirklich ganz aufgegeben werden kann, ohne langfristig das Risiko einer Hemmk&ouml;rperentwicklung zu steigern. Wie stehen Sie dazu?<br /><br /> G. Young:</strong> Wenn wir irgendwann in der Zukunft die M&ouml;glichkeit haben, Emicizumab allen Patienten, mit oder ohne Hemmk&ouml;rper, zu geben, selbst solchen, die nie zuvor eine Faktorsubstitution erhalten haben, k&ouml;nnten wir m&ouml;glicherweise mehr Hemmk&ouml;rper sehen. Denn dann w&uuml;rden wir Faktorpr&auml;parate nur in den schwersten F&auml;llen einsetzen: bei intrakranialen Blutungen, gro&szlig;en Operationen. Und intensive Therapien wie in diesen F&auml;llen erh&ouml;hen das Risiko der Hemmk&ouml;rperbildung. Die andere Frage, die mich weniger besch&auml;ftigt als andere, ist, ob der Faktor VIII noch weitere physiologische Funktionen hat, die dann unerf&uuml;llt blieben. Die Realit&auml;t ist: Wenn ich mir manche meiner &auml;lteren Patienten anschaue, junge Erwachsene mit H&auml;mophilie, dann haben sie keine anderen medizinischen Probleme als Blutungen und in der Folge Gelenkserkrankungen. Selbst Patienten, die nur nach Bedarf behandeln und nicht st&auml;ndig Faktor substituieren, scheinen keine weiteren schwerwiegenden medizinischen Probleme zu haben. Wenn der Faktor VIII also au&szlig;erhalb des Gerinnungssystems eine weitere Rolle spielt, kann ich nicht erkennen, dass dies klinisch relevant ist.<br /><br /><strong> Wir erleben derzeit einen Paradigmenwechsel in der Behandlung der H&auml;mophilie, der die gut etablierte Faktorsubstitutionstherapie betrifft. Wie w&uuml;rden Sie diesen Wandel konkret beschreiben?<br /><br /> G. Young:</strong> Die Verf&uuml;gbarkeit einer effektiven Faktorsubstitution und die Einf&uuml;hrung der Therapie zu Hause waren die erste Revolution in der H&auml;mophiliebehandlung. Derzeit erleben wir eine zweite Revolution: Wir bewegen uns weg von der Faktortherapie wegen ihrer Einschr&auml;nkungen wie der Notwendigkeit intraven&ouml;ser Infusionen mehrmals pro Woche oder Spitzen- und Talspiegel ohne vollst&auml;ndige Blutungskontrolle. Nach dem neuen Paradigma k&ouml;nnen wir unterschiedliche Medikamente und verschiedene Wirkungsmechanismen nutzen, die nicht nur effektiver sind, sondern auch die Belastung durch die Therapie mindern. Emicizumab ist das erste dieser Medikamente. Ich glaube, dass wir in den n&auml;chsten zwei oder drei Jahren ein bis zwei weitere Substanzen des neuen Typs haben werden. Und wenn wir noch weiter in die Zukunft schauen, dann steht mit der Gentherapie die dritte Revolution bevor. Dann wird es tats&auml;chlich m&ouml;glich sein, die H&auml;mophilie zu heilen. Ich denke, es wird noch f&uuml;nf weitere Jahre dauern, bis die Gentherapie marktreif ist. Selbst dann wird sie zun&auml;chst bei ausgew&auml;hlten Patienten eingesetzt werden, die daf&uuml;r geeignet und daran interessiert sind.<br /><br /><strong> Wie wird die Option einer Antik&ouml;rpertherapie wie mit Emicizumab das Konzept der Faktorsubstitution insgesamt ver&auml;ndern?<br /><br /> G. Young:</strong> Meiner Meinung nach werden wir einen R&uuml;ckgang der Faktoranwendung sehen. In den n&auml;chsten drei bis zehn Jahren wird der Faktorgebrauch generell nachlassen. M&ouml;glicherweise werden Faktorkonzentrate kosteng&uuml;nstig genug werden, sodass sie vermehrt in L&auml;ndern eingesetzt werden, wo die Ressourcen und der Zugang zu Faktorpr&auml;paraten derzeit eingeschr&auml;nkt sind. Ich denke, wir werden erleben, dass immer weniger Faktorkonzentrate und zunehmend die neuen Therapien verordnet werden. Dies wird den Weg f&uuml;r die Gentherapie ebnen. Die Resultate, die wir bisher verzeichnet haben, zeigen, dass Patienten nach einer Gentherapie &uuml;berhaupt keine Faktorpr&auml;parate mehr angewandt haben. Es ist der Anfang vom Ende der Faktorsubstitution. Ich glaube nicht, dass sie vollst&auml;ndig verschwinden wird, aber es wird einen dramatischen R&uuml;ckgang ihrer Anwendung geben.<br /><br /> <strong>Vielen Dank f&uuml;r das Gespr&auml;ch!</strong></p></p>
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