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Paradigmenwechsel in der Hämophiliebehandlung
Jatros
30
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12.07.2018
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<p class="article-intro">Prof. Dr. Guy Young, Los Angeles/USA, war Lead Investigator der wegweisenden HAVEN-2-Studie. Diese war ausschlaggebend für die vor Kurzem erfolgte Zulassung des bispezifischen Antikörpers Emicizumab zur Behandlung von Patienten mit Hämophilie A und erworbenen Autoantikörpern (Hemmkörpern) gegen Faktor-VIIISubstitutionspräparate.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p><strong>In den Studien HAVEN 1 und 2 zeigte Emicizumab eine hohe Wirksamkeit in der Blutungsprophylaxe bei Patienten mit Hämophilie und Hemmkörpern. Was bedeutet die Möglichkeit einer effektiven Prophylaxe für diese Patienten konkret?<br /><br /> G. Young:</strong> Wir haben bei manchen Patienten mit Hemmkörpern bereits zuvor eine Blutungsprophylaxe versucht. In HAVEN 2 erhielten insgesamt 74 Prozent der Patienten eine Prophylaxe mit sogenannten Bypassing Agents: entweder mit aktiviertem Prothrombinkomplex- Konzentrat (APCC) oder mit rekombinanten Faktor-VIIa-Konzentraten (rFVIIa). Es hat sich aber gezeigt, nicht nur in der Klinik, sondern auch anhand von Studiendaten, dass diese Therapieregime in der Blutungsprophylaxe nicht besonders wirksam sind. Patienten mit Hemmkörpern erleiden immer noch viele – auch schwere – Blutungen und sie entwickeln Arthropathien. Bei manchen Patienten scheint die Prophylaxe mit Bypassing Agents gut zu funktionieren, aber sie ist nach wie vor mit einer sehr intensiven Behandlung verbunden. Mit Emicizumab haben wir die Option, Blutungen bei Patienten mit Hemmkörpern durch eine einfache, einmal wöchentlich applizierte Infusion zu verhindern. Diese Möglichkeit mit einem Mittel, das so wirksam und zugleich so einfach in der Anwendung ist, hatten wir noch nie. <br /><br /><strong>Eine offene Frage ist die Behandlung von schweren akuten Blutungen bei Patienten mit Hemmkörpern unter Emicizumab-Prophylaxe. Wie ist hier vorzugehen?<br /><br /> G. Young:</strong> Durchbruchblutungen zu behandeln ist eine Herausforderung, da wir an die unerwünschten, thromboembolischen Effekte denken müssen, die wir unter der Kombination von Emicizumab und APCC gesehen haben. Aufgrund dieser Nebenwirkungen wurden die Empfehlungen zur Behandlung von Durchbruchblutungen auch geändert. Seit dem Auftreten dieses Warnsignals, das nun 15, 16 Monate zurückliegt, sind keine zusätzlichen unerwünschten Wirkungen beobachtet worden. Es gab einen Patienten, bei dem die Empfehlung nicht befolgt wurde, weil er so stark blutete. Infolge dieses Problems haben wir fünf unerwünschte Effekte in fünf Monaten verzeichnet. Sie traten also innerhalb kürzester Zeit auf, konnten aber verhindert werden, wenn wir bei diesen Patienten auf APCC verzichteten oder, wo wir es einsetzen mussten, die Dosis reduzierten. Ich bin also nicht besorgt wegen der Therapie von Durchbruchblutungen, da wir bereits einiges dabei gelernt haben. Wenn das Medikament nun zugelassen und in großem Umfang eingesetzt wird, können wir auch Durchbruchblutungen erfolgreich behandeln, indem wir nur rFVIIa einsetzen.<br /><br /><strong> Welche Folgen wird die Verfügbarkeit von Emicizumab für die Anwendung der Immuntoleranzinduktion (ITI) bei Patienten mit Hemmkörpern haben?<br /><br /> G. Young:</strong> Wenn man die Ergebnisse der HAVEN-2-Studie betrachtet, die tatsächlich die Patientenpopulation einschloss, die normalerweise eine ITI erhält, dann sieht man, dass fast alle Patienten nicht mehr bluteten. Es stellt sich deshalb die Frage, ob wir bei diesen Patienten die ITI überhaupt versuchen sollten, denn sie ist eine sehr intensive Therapie: Sie ist für die Eltern und die Patienten sehr schwierig umzusetzen und sie ist sehr teuer. Selbst wenn man sich dafür entscheidet, wirkt sie im besten Fall in 70 Prozent, vielleicht nur in 50 Prozent aller Fälle. Die Diskussion wäre anders, wenn die ITI zu 100 Prozent effektiv wäre. Dann wäre es schwierig, sie aufzugeben. Da aber Emicizumab 99 Prozent der Blutungen verhindert, warum sollten wir es nicht einfach einsetzen und die ITI bei Kindern, die Hemmkörper entwickeln, hinter uns lassen?<br /><br /><strong> In diesem Zusammenhang wird aktuell diskutiert, ob die Faktorsubstitution wirklich ganz aufgegeben werden kann, ohne langfristig das Risiko einer Hemmkörperentwicklung zu steigern. Wie stehen Sie dazu?<br /><br /> G. Young:</strong> Wenn wir irgendwann in der Zukunft die Möglichkeit haben, Emicizumab allen Patienten, mit oder ohne Hemmkörper, zu geben, selbst solchen, die nie zuvor eine Faktorsubstitution erhalten haben, könnten wir möglicherweise mehr Hemmkörper sehen. Denn dann würden wir Faktorpräparate nur in den schwersten Fällen einsetzen: bei intrakranialen Blutungen, großen Operationen. Und intensive Therapien wie in diesen Fällen erhöhen das Risiko der Hemmkörperbildung. Die andere Frage, die mich weniger beschäftigt als andere, ist, ob der Faktor VIII noch weitere physiologische Funktionen hat, die dann unerfüllt blieben. Die Realität ist: Wenn ich mir manche meiner älteren Patienten anschaue, junge Erwachsene mit Hämophilie, dann haben sie keine anderen medizinischen Probleme als Blutungen und in der Folge Gelenkserkrankungen. Selbst Patienten, die nur nach Bedarf behandeln und nicht ständig Faktor substituieren, scheinen keine weiteren schwerwiegenden medizinischen Probleme zu haben. Wenn der Faktor VIII also außerhalb des Gerinnungssystems eine weitere Rolle spielt, kann ich nicht erkennen, dass dies klinisch relevant ist.<br /><br /><strong> Wir erleben derzeit einen Paradigmenwechsel in der Behandlung der Hämophilie, der die gut etablierte Faktorsubstitutionstherapie betrifft. Wie würden Sie diesen Wandel konkret beschreiben?<br /><br /> G. Young:</strong> Die Verfügbarkeit einer effektiven Faktorsubstitution und die Einführung der Therapie zu Hause waren die erste Revolution in der Hämophiliebehandlung. Derzeit erleben wir eine zweite Revolution: Wir bewegen uns weg von der Faktortherapie wegen ihrer Einschränkungen wie der Notwendigkeit intravenöser Infusionen mehrmals pro Woche oder Spitzen- und Talspiegel ohne vollständige Blutungskontrolle. Nach dem neuen Paradigma können wir unterschiedliche Medikamente und verschiedene Wirkungsmechanismen nutzen, die nicht nur effektiver sind, sondern auch die Belastung durch die Therapie mindern. Emicizumab ist das erste dieser Medikamente. Ich glaube, dass wir in den nächsten zwei oder drei Jahren ein bis zwei weitere Substanzen des neuen Typs haben werden. Und wenn wir noch weiter in die Zukunft schauen, dann steht mit der Gentherapie die dritte Revolution bevor. Dann wird es tatsächlich möglich sein, die Hämophilie zu heilen. Ich denke, es wird noch fünf weitere Jahre dauern, bis die Gentherapie marktreif ist. Selbst dann wird sie zunächst bei ausgewählten Patienten eingesetzt werden, die dafür geeignet und daran interessiert sind.<br /><br /><strong> Wie wird die Option einer Antikörpertherapie wie mit Emicizumab das Konzept der Faktorsubstitution insgesamt verändern?<br /><br /> G. Young:</strong> Meiner Meinung nach werden wir einen Rückgang der Faktoranwendung sehen. In den nächsten drei bis zehn Jahren wird der Faktorgebrauch generell nachlassen. Möglicherweise werden Faktorkonzentrate kostengünstig genug werden, sodass sie vermehrt in Ländern eingesetzt werden, wo die Ressourcen und der Zugang zu Faktorpräparaten derzeit eingeschränkt sind. Ich denke, wir werden erleben, dass immer weniger Faktorkonzentrate und zunehmend die neuen Therapien verordnet werden. Dies wird den Weg für die Gentherapie ebnen. Die Resultate, die wir bisher verzeichnet haben, zeigen, dass Patienten nach einer Gentherapie überhaupt keine Faktorpräparate mehr angewandt haben. Es ist der Anfang vom Ende der Faktorsubstitution. Ich glaube nicht, dass sie vollständig verschwinden wird, aber es wird einen dramatischen Rückgang ihrer Anwendung geben.<br /><br /> <strong>Vielen Dank für das Gespräch!</strong></p></p>
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