
Weibliche Genitalbeschneidung – «female genital mutilation» (FGM)
Autoren:
Dr. med. Nadja Schneider
Dr. med. Peter Martin Fehr
Frauenklinik Fontana, Kantonsspital Graubünden, Chur
Korrespondierende Autorin:
Dr. med. Nadja Schneider
E-Mail: nadja.schneider@ksgr.ch
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Weltweit gibt es 200 Millionen Opfer weiblicher Genitalbeschneidung und jeden Tag werden es ein paar Tausend mehr – ein Kampf gegen Tradition und Mythen, ein lebenslanges Leiden und eine interdisziplinäre Herausforderung.
Keypoints
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FGM ist eine globale Angelegenheit mit physischen, psychischen und sexuellen Auswirkungen auf die Betroffenen.
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FGM stellt durch medizinische, rechtliche, kulturelle und ethische Aspekte eine grosse Herausforderung für das Gesundheitspersonal dar.
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Unterschieden werden vier verschiedene Typen, wobei die Infibulation (Typ III) mit den grössten Komplikationen vergesellschaftet ist.
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Fundierte Fachkenntnisse über medizinische Aspekte, aber auch rechtliche, kulturelle und ethische Hintergründe sind entscheidend, um eine sachliche, professionelle Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten, wobei eine multidisziplinäre Herangehensweise empfehlenswert ist.
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Die effektivste Methode zur Behandlung der Infibulation und deren Folgen ist die Defibulation.
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In der Schweiz besteht ein nationales Netzwerk zur Intervention bei und Prävention von FGM.
Etwa alle 11 Sekunden wird ein Mädchen auf der Welt beschnitten. Das sind rund 8000 Mädchen jeden Tag, wobei weltweit nach Schätzung der UNICEF etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen von der Genitalbeschneidung (englisch: «female genital mutilation», FGM) betroffen sind. Die höchste Prävalenz findet sich in afrikanischen Ländern, betont im Nordwesten und Nordosten mit den höchsten Zahlen in Somalia (98%), Guinea (96%), Dschibuti, Ägypten und Eritrea (88%). Aber auch in Südostasien ist die Prävalenz hoch. Durch die zunehmende Migration ist FGM aber schon lange kein lokales Problem mehr, sondern hat eine globale Dimension angenommen. In der Schweiz sind gemäss Schätzungen des BAG etwa 22000 Mädchen bzw. Frauen betroffen.
Der folgende Artikel soll eine Übersicht über Hintergründe und Formen der FGM, deren medizinische Folgen und Behandlungsmöglichkeiten sowie Organisationen und nationale Netzwerke zur Intervention und Prävention geben.
Was ist FGM?
FGM beschreibt nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) «alle Verfahren, welche die teilweise oder vollständige Entfernung des äusseren Genitales oder andere Verletzungen der weiblichen Organe zum Ziel haben, ob aus kulturellen oder anderen nicht therapeutischen Gründen». Dass dies eine gravierende Verletzung der Menschenrechte der Betroffenen darstellt, ist für uns offensichtlich. Die Tatsache, dass die Praxis, welche schon etwa 2000 vor Christus in Ägypten ausgeübt wurde, weiterhin aufrechterhalten wird, obwohl in vielen Ländern mittlerweile mit Aufklärungskampagnen und Gesetzen dagegen vorgegangen wird, zeigt, wie elementar der Ritus verwurzelt ist. FGM ist in der Schweiz, wie in vielen weiteren Ländern auch, strafbar und wird gemäss Artikel 124 des Schweizerischen Strafgesetzbuches mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 10 Jahren bestraft.
Was sind Gründe für FGM?
Hauptmotiv für FGM ist die Kontrolle der weiblichen Sexualität (Bewahrung der Jungfräulichkeit bis zur Ehe und dadurch Aufrechterhalten der Familienehre) und damit verbunden sind wirtschaftliche und soziale Gründe (Jungfräulichkeit als Voraussetzung für Heirat und hohen Brautpreis). Des Weiteren soll FGM auch als Initiationsritual dienen: Ein Mädchen wird Frau. Sie wird auch als Symbol der Weiblichkeit und ethnischen Zugehörigkeit betrachtet, wodurch das Mädchen in die Gemeinschaft aufgenommen wird. Weiter werden ästhetische, hygienische und gesundheitliche Faktoren zur Rechtfertigung aufgeführt. Und nicht zuletzt werden auch religiöse Gründe genannt, welche aber keineswegs belegt sind. Dass sich multiple Gründe für die Notwendigkeit einer Beschneidung durchsetzen können, kann häufig auf einen schlechten Bildungsstatus der Mädchen und Frauen zurückgeführt werden. Wer sich FGM widersetzt, widersetzt sich auch der sozialen Norm in der Gemeinschaft. Die Folgen sind, dass die Frauen und Familien von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und dass unbeschnittene Frauen nicht verheiratet werden können, was schliesslich enorme soziale und teils auch finanzielle Folgen für die Familien haben kann.
Klassifikation bzw. Typen der Genitalbeschneidung
In einer gemeinsamen Publikation internationaler Institutionen, wie UNICEF, WHO und UNESCO, werden seit 2008 vier Typen von FGM unterschieden, wobei die Kenntnis darüber entscheidend ist, um FGM einerseits zu erkennen und andererseits die daraus resultierenden unterschiedlichen medizinischen Konsequenzen ableiten zu können. Zu erwähnen ist auch, dass die einzelnen Formen teils fliessend ineinander übergehen, was eine genaue Unterscheidung erschwert (Tab. 1, Abb. 1).
Was sind die Folgen von FGM?
Die Tatsache, dass die Eingriffe meist durch nicht medizinisches Personal mit nicht medizinischem Instrumentarium ohne jegliche Anästhesie und ohne Einhalten der Asepsis durchgeführt werden, macht verständlich, dass neben Langzeitfolgen auch lebensbedrohliche gesundheitliche Sofortkomplikationen auftreten können, wobei die Zahl unmittelbarer Todesfälle auf 10% geschätzt wird. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, dass die Operation mit gerade verfügbaren Instrumentarien, wie Messern, Skalpellen, Glasscherben oder Rasierklingen, ohne Wahrung der Asepsis durchgeführt wird, zur Blutstillung Kräutersalben oder auch Asche verwendet werden und bei der Infibulation die Wundränder beispielsweise mit Dornen oder Seide zusammengehalten werden. Die langfristigen Auswirkungen hängen von der Art der Beschneidung ab und sind nach Infibulation am gravierendsten. Neben akuten und Langzeitkomplikationen unterteilt man die Folgen in 3 Hauptbereiche: gynäkologisch, geburtshilflich und sexuelle Gesundheit bzw. psychologisch. (Tab. 2, Tab. 3).
Tab. 2: Akute Komplikationen bei FGM (Quelle: Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Guideline. Patientinnen mit genitaler Beschneidung: Schweizerische Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Pflegefachkräfte. 2013)
Tab. 3: Chronische Komplikationen nach FGM (Quelle: Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe: Guideline. Patientinnen mit genitaler Beschneidung: Schweizerische Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Pflegefachkräfte. 2013)
Bedeutung von FGM für eine gynäkologische Konsultation
Frauenärzte, aber auch Hebammen sind am häufigsten mit den praktischen Problemen der betroffenen Frauen konfrontiert. Aufgrund der Komplexität sind wir nicht nur durch eine medizinische, sondern auch durch eine rechtliche sowie kulturelle und ethische Problematik sehr gefordert. Das oftmals zugrundeliegende Fehlen fundierter Fachkenntnisse über die einzelnen FGM-Typen und deren Auswirkungen sowie der Sensibilisierung und Erfahrung im Umgang mit Betroffenen kann eine adäquate, professionelle Beratung und Behandlung erschweren oder verunmöglichen.
Für eine gynäkologische Konsultation sollte genügend Zeit eingeplant werden. Eine gute Anamnese, allenfalls mit Unterstützung einer Dolmetscherin (vorzugsweise eine erwachsene Frau ohne familiären Bezug zur Patientin), ist unabdingbar, wobei hier auch die Einstellung der Patientin zu FGM eruiert werden sollte. Im Gespräch mit den Betroffenen sollte nicht der Terminus FGM, sondern der Begriff «Beschneidung» verwendet werden. Es empfiehlt sich auch die Verwendung von schematischen Abbildungen zur Darstellung der Anatomie, weil Fotos gegebenenfalls schockierend wirken können. Ebenfalls sollten psychologische und sexuelle Probleme Inhalt des Gesprächs sein. Zu erwähnen ist hierbei, dass grosse individuelle Unterschiede bezüglich sexuellen Erlebens nach FGM bestehen. Was in diesem Zusammenhang sicherlich sinnvoll ist, ist, die anatomische Diversität des weiblichen Genitales aufzuzeigen (Abb. 2). Dies könnte sich auch positiv auf die Akzeptanz anatomischer Veränderungen z.B. nach Defibulation auswirken.
Grundsätzlich sollte sowohl die Untersuchung als auch die Behandlung einer Frau mit FGM durch erfahrene Ärzte bzw. Hebammen erfolgen, wobei die Wahrung der Intimität sicherlich ein wichtiger Aspekt ist. Eine gynäkologische Untersuchung kann insbesondere nach Infibulation sehr schwierig bis unmöglich sein.
Und nicht zuletzt sollten neben einer guten Aufklärung auch die Nachsorge und Präventionsgespräche Teil einer gynäkologischen Konsultation sein.
Welche Gründe und chirurgischen Interventionstypen gibt es?
Mögliche Gründe für eine chirurgische Intervention sind funktionale Beschwerden, Anliegen betreffend Sexualität, ästhetische Probleme sowie die Wiederherstellung der körperlichen Identität bzw. Integrität.
Als Interventionstypen sind die Defibulation oder Separation der fusionierten Labien, die Exzision von u.a. Zysten mit oder ohne Rekonstruktion sowie klitoridale oder klitoridal-labiale Rekonstruktionen zu nennen.
Um eine spätere Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Operation zu vermeiden, sind auch die Erwartungen der Patientin zu eruieren und allenfalls aufgrund der Komplexität zu relativieren. Eine Behebung funktioneller Probleme im Urogenitaltrakt ist meist realisierbar. Demgegenüber sind ein «normales Aussehen» oder eine Verbesserung des sexuellen Empfindens schwer zu fassen, da die Betroffenen vorwiegend keinerlei Vorstellung diesbezüglich oder von der Variationsbreite haben. Zu bedenken ist auch, dass nur ein verbliebenes Potenzial rekonstruiert werden kann.
Die WHO empfiehlt zur funktionellen Verbesserung nach Infibulation in vielen Bereichen eine Defibulation unter adäquater Anästhesie zur Vermeidung einer weiteren Traumatisierung. Sie ist die effektivste Behandlungsmöglichkeit bei Komplikationen. Dabei wird die Infibulationsnarbe wiedereröffnet, wobei die grossen und kleinen Labien rekonstruiert werden, wodurch der Introitus vaginae, der Meatus urethrae externus sowie eventuell die Klitoris sichtbar werden. Ein visuelles Lerninstrument zur Defibulation, entwickelt von Abdulcadir und Kolleginnen, bietet dem Gesundheitspersonal einen Leitfaden zum sicheren chirurgischen Umgang, zur Patientinnenkommunikation, zur Nachsorge sowie zur Beratung von Frauen nach Infibulation. Relevante Vorteile der Defibulation sind eine mögliche Linderung der Dyspareunie, die Ermöglichung von Geschlechtsverkehr mit vaginaler Penetration, die Normalisierung der Miktion und des Menstruationsflusses sowie eine bessere Überwachung unter der Geburt. Sollte eine Frau postpartal eine Reinfibulation wünschen, sollte in Hinblick auf die gesundheitlichen Nachteile dringend davon abgeraten werden. Anzumerken ist hierbei, dass eine Reinfibulation grundsätzlich analog der Infibulation strafbar ist, wobei die subjektiv empfundene körperliche Integrität einer Frau eine Ausnahme darstellt.
Rekonstruktive Verfahren wie die Klitorisrekonstruktion, die ursprünglich in Burkina Faso entwickelt wurde, dienen der Wiederherstellung der eigenen Identität, der Verbesserung der Sexualität sowie der Schmerzreduktion und werden auch in der Schweiz angeboten und durchgeführt, beispielsweise an der Frauenklinik des Universitätsspitals Genf von Jasmine Abdulcadir. Entscheidend ist hierbei ein interdisziplinäres Management (Ärzte, Pflegefachkräfte, Psychologen und Sexualtherapeuten).
Netzwerk gegen FGM
In der Schweiz existiert ein nationales Netzwerk zur Intervention bei und Prävention von FGM, wobei folgende Organisationen integriert sind: SGGG, Brava (ehemals TERRE DES FEMMES Schweiz), UNICEF Schweiz, Caritas, Bundesamt für Gesundheit (BAG), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).