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Sollen Frauen mit HIV-Infektion in der Schweiz stillen?

<p class="article-intro">Derzeit wird Frauen mit HIV-Infektion in allen entwickelten Ländern vom Stillen abgeraten. Grund ist, dass eine Infektionsübertragung weiterhin nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Andererseits sind die Vorteile von Muttermilchernährung für Mutter und Kind inzwischen sehr gut dokumentiert. Daher ist Stillen auch für HIV-exponierte Kinder wünschenswert. Doch dürfen wir daraus folgend den Stillwunsch von Frauen mit HIVInfektion und Stillwunsch unterstützen?</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Vorteile der Muttermilchern&auml;hrung sind gut dokumentiert. Daher empfehlen Fachgesellschaften die Muttermilchern&auml;hrung zu Beginn des Lebens. Folglich w&auml;re auch f&uuml;r S&auml;uglinge HIV-positiver M&uuml;tter die Muttermilchern&auml;hrung w&uuml;nschenswert.</li> <li>Leider fehlen weiterhin Daten, die eine HIV-&Uuml;bertragung von der Mutter auf das Kind (MTCT) durch Stillen unter optimalen Bedingungen sicher ausschliessen. Aktuelle Studien zeigen aber eine sehr kleine &Uuml;bertragungswahrscheinlichkeit von 0,3 % nach 6 Monaten.</li> <li>In einem &laquo;optimalen Szenario &raquo; werden die Risiken einer MTCT sehr klein und die Vorteile des Stillens entsprechend gewichtiger. Dennoch kann derzeit Stillen bei m&uuml;tterlicher HIV-Infektion in Entwicklungsl&auml;ndern noch nicht generell empfohlen werden.</li> <li>Eine Expertengruppe empfiehlt in der Situation aber f&uuml;r die Schweiz, Frauen &uuml;ber die Vorteile und Risiken aufzukl&auml;ren und in einem &laquo;shared decision-making&raquo; mit den werdenden Eltern die Entscheidung f&uuml;r oder gegen das Stillen gemeinsam zu treffen.</li> </ul> </div> <p>Weltweit leben &uuml;ber zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren mit HIV, die meisten davon in Subsahara-Afrika.<sup>1</sup> 90 % der Kinder haben ihre Infektion durch eine Mutter-Kind-&Uuml;bertragung (MTCT) erworben. Ohne Pr&auml;ventionsmassnahmen betr&auml;gt die Rate der &Uuml;bertragung von der Mutter auf das Kind w&auml;hrend der Schwangerschaft, Geburt und Stillperiode 25&ndash; 40 % .<sup>2</sup> In der Schweizerischen Mutter-und- Kind-HIV-Kohortenstudie (MoCHiV) wurden in den letzten Jahren ca. 50 Geburten pro Jahr dokumentiert.<sup>3</sup> Zu einer MTCT ist es dank Umsetzung von Pr&auml;ventionsmassnahmen nicht gekommen.<br /> Die vier klassischen Pr&auml;ventionsmassnahmen beinhalten 1. die m&uuml;tterliche antiretrovirale Therapie w&auml;hrend der gesamten Schwangerschaft, 2. den prim&auml;ren Kaiserschnitt, 3. die neonatale Postexpositionsprophylaxe und 4. den Verzicht auf das Stillen.<sup>4</sup> Dadurch konnte die Rate der &Uuml;bertragung von HIV von der Mutter auf das Kind auf unter 1 % gesenkt werden.<sup>5</sup> Mit zunehmender Effektivit&auml;t der antiretroviralen Therapie hinsichtlich Supprimierung der Viruslast in den letzten 18 Jahren wurde in der Schweiz schrittweise erst der elektive Kaiserschnitt (2009) und und dann die neonatale Postexpositionsprophylaxe (2016) verlassen. In diesem Artikel werden neue Erkenntnisse zum Thema Stillen bei HIV-Infektion kurz dargestellt und die neuen Empfehlungen in der Schweiz von 2018 f&uuml;r das Stillen diskutiert.</p> <h2>Vorteile des Stillens</h2> <p>Die aktuellen Richtlinien zur Ern&auml;hrung eines gesunden Neugeborenen durch die europ&auml;ische Fachgesellschaft (ESPGHAN) empfehlen wie auch die eidgen&ouml;ssische Ern&auml;hrungskommission in der Schweiz die ausschliessliche Muttermilchern&auml;hrung f&uuml;r die ersten 4 Lebensmonate, gefolgt von Muttermilchern&auml;hrung mit Beikost f&uuml;r die ersten 6 Lebensmonate.<sup>6</sup> Die Gr&uuml;nde daf&uuml;r sind vielf&auml;ltig und reichen von praktischen Gesichtspunkten &uuml;ber biologische Aspekte bis zu kulturellen Beweggr&uuml;nden. Stillen ist die nat&uuml;rlichste Ern&auml;hrung, es ist praktisch und die Kosten sind verglichen mit Muttermilchersatz gering. Muttermilch enth&auml;lt neben Laktose und Lipiden als dritth&auml;ufigste Komponente kurzkettige Zuckermolek&uuml;le, sogenannte humane Milch-Oligosaccharide (HMO). Bisher sind mehr als 100&ndash;200 HMO molekular charakterisiert. Menge, Komposition und Anteil fucosylierter (50&ndash;80 % ) bzw. sialylierter (10&ndash;30 % ) HMO unterscheiden sich von Frau zu Frau und es resultiert ein individueller HMO-Mix jeder Mutter f&uuml;r ihr Kind. Interessanterweise metabolisiert der S&auml;ugling die HMO praktisch nicht. Die Molek&uuml;le beeinflussen hingegen direkt die Zusammensetzung des Darmmikrobioms der S&auml;uglinge. Dabei gef&ouml;rdert werden insbesondere Bifidobacterium longum subsp. infantis. Gleichzeitig werden pathogene Bakterien gehemmt, z.B. Gruppe-B-Streptokokokken oder E. coli.<sup>7</sup> Das Mikrobiom wird inzwischen als eigenst&auml;ndiges Organ betrachtet und erleichtert nicht nur die Aufnahme von N&auml;hrstoffen, die dem Wirt sonst nicht zug&auml;nglich w&auml;ren, sondern trainiert und moduliert zentral auch das Immunsystem und sch&uuml;tzt damit vor pathogenen Organismen.<sup>8</sup> So wird verst&auml;ndlich, dass Infektionskrankheiten durch Stillen auch in entwickelten L&auml;ndern um ca. 30&ndash;50 % reduziert werden.<sup>9</sup> Stillen tr&auml;gt somit direkt zum Aufbau und zur Balance des Mikrobioms bei. Ein dysbalanciertes Mikrobiom wird mit verschiedenen chronischen Krankheiten im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht.<sup>10</sup> Doch nicht nur das Kind profitiert vom Stillen, auch Vorteile f&uuml;r die Mutter sind inzwischen gut dokumentiert.<sup>11</sup> Ber&uuml;cksichtigt werden sollten auch die kulturelle Bedeutung und teilweise ein sozialer Druck, zu stillen, v.a. f&uuml;r Frauen aus afrikanischen L&auml;ndern.<sup>12</sup></p> <h2>Risiken durch das Stillen</h2> <p>Bisher zeigen alle Studien eine HIV&Uuml;bertragung w&auml;hren des Stillens, jedoch erf&uuml;llen in keiner der Studien alle Frauen die Bedingungen eines &laquo;optimalen Szenarios &raquo;. Dieses liegt dann vor, wenn die Mutter in regelm&auml;ssiger Behandlung ist, zuverl&auml;ssig eine antiretrovirale Therapie einnimmt und dies in einer nicht nachweisbaren HI-Viruslast resultiert. Die beiden neusten Untersuchungen zur HIVMTCT bleiben in der Aussage diesbez&uuml;glich leider bisher unklar. In einer grossen prospektiven Multicenterstudie in verschiedenen afrikanischen L&auml;ndern und Indien zeigt sich eine Mutter-Kind-&Uuml;bertragung von nur 0,3 % nach 6 Monaten bei 2416 gestillten Kindern, aber f&uuml;r die Schweiz sind es inakzeptable 0,9 % nach 24 Monaten.<sup>13</sup> Das Problem dieser wichtigen Studie ist, dass bisher keine Resultate zu den Viruslastbestimmungen w&auml;hrend der Stillzeit ver&ouml;ffentlich wurden. Gezeigt wurde aber, dass nach der Geburt lediglich 36 % der Frauen eine vollst&auml;ndig supprimierte HI-Viruslast hatten. Eine kleinere Kohortenstudie aus Tansania fand zwar keine Mutter-Kind-&Uuml;bertragung im &laquo;optimalen Szenario&raquo;.<sup>14</sup> Es konnten aber nur 186 der urspr&uuml;nglich 228 Kinder nachkontrolliert werden. Somit bleibt derzeit die komplett fehlende HIV-MTCT unter optimalen Bedingungen eine Annahme.<sup>15</sup> Bei der Beurteilung des &Uuml;bertragungsrisikos durch Stillen kommt erschwerend hinzu, dass die Geburt eines Kindes f&uuml;r die Familie immer auch eine neue Herausforderung bedeutet und sich dadurch nachweisbar die Adh&auml;renz verschlechtern kann. Die konsequente Einnahme einer antiretroviralen Therapie zur Suppression der Viruslast ist aber der wichtigste Grundpfeiler f&uuml;r die Verhinderung einer &Uuml;bertragung und muss daher in dieser Zeit speziell unterst&uuml;tzt werden. Weitere eher theoretische &Uuml;berlegungen sind erh&ouml;hte &Uuml;bertragungsrisiken durch eine Mastitis, durch kombinierte Ern&auml;hrung (Stillen und Beikost) und &uuml;ber Zellassoziierte HI-Viren, welche in Muttermilch nachgewiesen wurden. Gewichtiger ist m&ouml;glicherweise aber, dass durch die Stillzeit eine verl&auml;ngerte Exposition gegen&uuml;ber den antiretroviralen Substanzen stattfindet, welche die Mutter einnimmt und die in die Muttermilch &uuml;bertreten. Die Kenntnisse dazu sind unvollst&auml;ndig. Die Konzentrationen bisher getesteter Substanzen liegen unter den Konzentrationen, die das Kind durch eine therapeutische Einnahme erreichen w&uuml;rde. Leider liegen aber keine Daten zu allen Substanzen vor, weshalb die Rolle der Toxizit&auml;t aktuell ebenfalls unklar bleibt.</p> <h2>Stillempfehlung oder weiterhin Verzicht auf das Stillen bei HIVInfektion f&uuml;r die Schweiz?</h2> <p>Die WHO empfiehlt das Stillen bei HIVInfektion bisher nur in Entwicklungsl&auml;ndern.<sup>16</sup> Grund ist die Abw&auml;gung der Vorteile (Infektpr&auml;vention durch Muttermilch) und Nachteile (HIV MTCT) f&uuml;r diese Regionen. K&uuml;rzlich hat eine Expertengruppe, zusammengesetzt aus Gyn&auml;kologen/Geburtshelfern, Kinder&auml;rzten und Infektiologen, diese Abw&auml;gung nun erneut f&uuml;r die Schweiz durchgef&uuml;hrt. Der Konsensus war, dass neu in einem &laquo;optimalen Szenario&raquo; das Stillen in der Schweiz zwar nicht empfohlen werden kann, dass aber eine Aufkl&auml;rung &uuml;ber Vor- und Nachteile erfolgen soll.<sup>15</sup> In diese Abw&auml;gung eingeflossen ist auch der Aspekt, dass die Autonomie der werdenden Mutter, einer unklar notwendigen Intervention zuzustimmen oder diese abzulehnen, gewahrt werden sollte.<sup>17</sup> Mitber&uuml;cksichtigt wurden auch die Erkenntnisse zur heterosexuellen &Uuml;bertragung. Hier gilt inzwischen ganz klar, dass bei supprimierter Viruslast keine &Uuml;bertragungen mehr stattfinden (&laquo;undetectable equals untransmissible&raquo; bzw. U=U). Insgesamt erscheint es damit heute nicht mehr vertretbar, M&uuml;ttern mit starkem Wunsch, ihr Kind zu stillen, dies zu verbieten. Die neuen Empfehlungen in der Schweiz beinhalten vor der Geburt eine Aufkl&auml;rung &uuml;ber Vorteile und Risiken, gefolgt von einem &laquo;shared decision-making&raquo;, d.h., die werdende Mutter (zusammen mit dem Vater) und die betreuenden &Auml;rzte legen gemeinsam fest, ob post partum gestillt oder abgestillt wird. Hierf&uuml;r wurde eine Argumentationsliste erarbeitet und die Umsetzbarkeit des &laquo;shared decision-making&raquo; wird im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (www.shcs.ch) begleitet und ausgewertet.<sup>15</sup> Unterst&uuml;tzt wurde das Vorgehen inzwischen durch die neusten Empfehlungen in den USA und England. Aufgrund der berechtigten Sorge, dass sich Frauen mit starkem Wunsch, zu stillen, den &auml;rztlichen Kontrollen entziehen k&ouml;nnten, sollen diese pragmatisch beim Stillen unterst&uuml;tzt werden.<sup>18</sup></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Joint United Nations Program on HIV/AIDS ( UNAIDS): Global Report: UNAIDS report on the global AIDS epidemic 2010. Geneva, 2010, http://www.unaids.org/globalreport/ documents/20101123_GlobalReport_full_en.pdf <strong>2</strong> De Cock KM et al.: Prevention of mother-to-child HIV transmission in resource-poor countries: translating research into policy and practice. JAMA 2000; 283(9): 1175-82 <strong>3</strong> http://www.shcs.ch/156-mochiv-key-data-figures <strong>4</strong> http://www.eacsociety.org/guidelines/eacsguidelines/ eacs-guidelines.html <strong>5</strong> Townsend CL et al.: Earlier initiation of ART and further decline in mother-tochild HIV transmission rates, 2000-2011. AIDS 2014; 28: 1049-57 <strong>6</strong> Fewtrell M et al.: Complementary feeding: a position paper by the European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN) Committee on Nutrition. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2017; 64(1): 119-32 <strong>7</strong> Hennet T, Borsig L: Breastfed at Tiffany's. Trends Biochem Sci 2016; 41(6): 508-18 <strong>8</strong> Kahlert C, M&uuml;ller P: Mikrobiom &ndash; die Entdeckung eines Organs. Schweiz Med Forum 2014; 14(1617): 342-4 <strong>9</strong> Tromp I et al.: Breastfeeding and the risk of respiratory tract infections after infancy: the Generation R Study. PLoS One 2017; 12(2): e0172763 <strong>10</strong> Clemente JC et al.: The role of the gut microbiome in systemic inflammatory disease. BMJ 2018; 360: j5145 <strong>11</strong> Victora CG et al.: Breastfeeding in the 21<sup>st</sup> century: epidemiology, mechanisms, and lifelong effect. Lancet 2016; 387(10017): 475-90 <strong>12</strong> Tariq S et al.: &laquo;It pains me because as a woman you have to breastfeed your baby&raquo;: decision-making about infant feeding among African women living with HIV in the UK. Sex Transm Infect 2016; 92: 331-6 <strong>13</strong> Flynn PM et al.: Prevention of HIV-1 transmission through breastfeeding: efficacy and safety of maternal antiretroviral therapy versus infant nevirapine prophylaxis for duration of breastfeeding in HIV-1-infected women with high CD4 cell count (IMPAACT PROMISE): a randomized, open label, clinical trial. J Acquir Immune Defic Syndr 2017; 77(4): 383-92 <strong>14</strong> Luoga E et al.: No HIV transmission from virally suppressed mothers during breastfeeding in rural Tanzania. J Acquir Immune Defic Syndr 2018 May 16. doi: 10.1097/QAI.0000000000001758. [Epub ahead of print] <strong>15</strong> Kahlert C et al.: Is breastfeeding an equipoise option in effectively treated HIV-infected mothers in a high-income setting? Swiss Med Wkly 2018; 148: w14648 <strong>16</strong> Updates on HIV and infant feeding. Guideline der WHO 2016, http://www.who.int/maternal_child_adolescent/ documents/hiv-infant-feeding-2016/en/ <strong>17</strong> Hurst S: Ein paar Gedanken zum Thema Autonomie &hellip; Schweiz &Auml;rzteztg 2016; 97(2829): 0 <strong>18</strong> British HIV Association guidelines for the management of HIV infection in pregnant women 2018, http://www.bhiva.org/documents/ Guidelines/Pregnancy/2018/BHIVA-Pregnancyguidelines- consultation-draft-final.pdf</p> </div> </p>
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