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Sollen Frauen mit HIV-Infektion in der Schweiz stillen?
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Christian Kahlert
Leitender Arzt Infektiologie und Spitalhygiene am Ostschweizer Kinderspital und am Kantonsspital St. Gallen<br> E-Mail: christian.kahlert@kispisg.ch
Autor:
Prakt. med. Tabea Sutter
Assistenzärztin Pädiatrie<br> Stiftung Ostschweizer Kinderspital<br> E-Mail: tabea.sutter@kispisg.ch
30
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16.10.2018
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<p class="article-intro">Derzeit wird Frauen mit HIV-Infektion in allen entwickelten Ländern vom Stillen abgeraten. Grund ist, dass eine Infektionsübertragung weiterhin nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Andererseits sind die Vorteile von Muttermilchernährung für Mutter und Kind inzwischen sehr gut dokumentiert. Daher ist Stillen auch für HIV-exponierte Kinder wünschenswert. Doch dürfen wir daraus folgend den Stillwunsch von Frauen mit HIVInfektion und Stillwunsch unterstützen?</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Vorteile der Muttermilchernährung sind gut dokumentiert. Daher empfehlen Fachgesellschaften die Muttermilchernährung zu Beginn des Lebens. Folglich wäre auch für Säuglinge HIV-positiver Mütter die Muttermilchernährung wünschenswert.</li> <li>Leider fehlen weiterhin Daten, die eine HIV-Übertragung von der Mutter auf das Kind (MTCT) durch Stillen unter optimalen Bedingungen sicher ausschliessen. Aktuelle Studien zeigen aber eine sehr kleine Übertragungswahrscheinlichkeit von 0,3 % nach 6 Monaten.</li> <li>In einem «optimalen Szenario » werden die Risiken einer MTCT sehr klein und die Vorteile des Stillens entsprechend gewichtiger. Dennoch kann derzeit Stillen bei mütterlicher HIV-Infektion in Entwicklungsländern noch nicht generell empfohlen werden.</li> <li>Eine Expertengruppe empfiehlt in der Situation aber für die Schweiz, Frauen über die Vorteile und Risiken aufzuklären und in einem «shared decision-making» mit den werdenden Eltern die Entscheidung für oder gegen das Stillen gemeinsam zu treffen.</li> </ul> </div> <p>Weltweit leben über zwei Millionen Kinder unter 15 Jahren mit HIV, die meisten davon in Subsahara-Afrika.<sup>1</sup> 90 % der Kinder haben ihre Infektion durch eine Mutter-Kind-Übertragung (MTCT) erworben. Ohne Präventionsmassnahmen beträgt die Rate der Übertragung von der Mutter auf das Kind während der Schwangerschaft, Geburt und Stillperiode 25– 40 % .<sup>2</sup> In der Schweizerischen Mutter-und- Kind-HIV-Kohortenstudie (MoCHiV) wurden in den letzten Jahren ca. 50 Geburten pro Jahr dokumentiert.<sup>3</sup> Zu einer MTCT ist es dank Umsetzung von Präventionsmassnahmen nicht gekommen.<br /> Die vier klassischen Präventionsmassnahmen beinhalten 1. die mütterliche antiretrovirale Therapie während der gesamten Schwangerschaft, 2. den primären Kaiserschnitt, 3. die neonatale Postexpositionsprophylaxe und 4. den Verzicht auf das Stillen.<sup>4</sup> Dadurch konnte die Rate der Übertragung von HIV von der Mutter auf das Kind auf unter 1 % gesenkt werden.<sup>5</sup> Mit zunehmender Effektivität der antiretroviralen Therapie hinsichtlich Supprimierung der Viruslast in den letzten 18 Jahren wurde in der Schweiz schrittweise erst der elektive Kaiserschnitt (2009) und und dann die neonatale Postexpositionsprophylaxe (2016) verlassen. In diesem Artikel werden neue Erkenntnisse zum Thema Stillen bei HIV-Infektion kurz dargestellt und die neuen Empfehlungen in der Schweiz von 2018 für das Stillen diskutiert.</p> <h2>Vorteile des Stillens</h2> <p>Die aktuellen Richtlinien zur Ernährung eines gesunden Neugeborenen durch die europäische Fachgesellschaft (ESPGHAN) empfehlen wie auch die eidgenössische Ernährungskommission in der Schweiz die ausschliessliche Muttermilchernährung für die ersten 4 Lebensmonate, gefolgt von Muttermilchernährung mit Beikost für die ersten 6 Lebensmonate.<sup>6</sup> Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von praktischen Gesichtspunkten über biologische Aspekte bis zu kulturellen Beweggründen. Stillen ist die natürlichste Ernährung, es ist praktisch und die Kosten sind verglichen mit Muttermilchersatz gering. Muttermilch enthält neben Laktose und Lipiden als dritthäufigste Komponente kurzkettige Zuckermoleküle, sogenannte humane Milch-Oligosaccharide (HMO). Bisher sind mehr als 100–200 HMO molekular charakterisiert. Menge, Komposition und Anteil fucosylierter (50–80 % ) bzw. sialylierter (10–30 % ) HMO unterscheiden sich von Frau zu Frau und es resultiert ein individueller HMO-Mix jeder Mutter für ihr Kind. Interessanterweise metabolisiert der Säugling die HMO praktisch nicht. Die Moleküle beeinflussen hingegen direkt die Zusammensetzung des Darmmikrobioms der Säuglinge. Dabei gefördert werden insbesondere Bifidobacterium longum subsp. infantis. Gleichzeitig werden pathogene Bakterien gehemmt, z.B. Gruppe-B-Streptokokokken oder E. coli.<sup>7</sup> Das Mikrobiom wird inzwischen als eigenständiges Organ betrachtet und erleichtert nicht nur die Aufnahme von Nährstoffen, die dem Wirt sonst nicht zugänglich wären, sondern trainiert und moduliert zentral auch das Immunsystem und schützt damit vor pathogenen Organismen.<sup>8</sup> So wird verständlich, dass Infektionskrankheiten durch Stillen auch in entwickelten Ländern um ca. 30–50 % reduziert werden.<sup>9</sup> Stillen trägt somit direkt zum Aufbau und zur Balance des Mikrobioms bei. Ein dysbalanciertes Mikrobiom wird mit verschiedenen chronischen Krankheiten im Erwachsenenalter in Verbindung gebracht.<sup>10</sup> Doch nicht nur das Kind profitiert vom Stillen, auch Vorteile für die Mutter sind inzwischen gut dokumentiert.<sup>11</sup> Berücksichtigt werden sollten auch die kulturelle Bedeutung und teilweise ein sozialer Druck, zu stillen, v.a. für Frauen aus afrikanischen Ländern.<sup>12</sup></p> <h2>Risiken durch das Stillen</h2> <p>Bisher zeigen alle Studien eine HIVÜbertragung währen des Stillens, jedoch erfüllen in keiner der Studien alle Frauen die Bedingungen eines «optimalen Szenarios ». Dieses liegt dann vor, wenn die Mutter in regelmässiger Behandlung ist, zuverlässig eine antiretrovirale Therapie einnimmt und dies in einer nicht nachweisbaren HI-Viruslast resultiert. Die beiden neusten Untersuchungen zur HIVMTCT bleiben in der Aussage diesbezüglich leider bisher unklar. In einer grossen prospektiven Multicenterstudie in verschiedenen afrikanischen Ländern und Indien zeigt sich eine Mutter-Kind-Übertragung von nur 0,3 % nach 6 Monaten bei 2416 gestillten Kindern, aber für die Schweiz sind es inakzeptable 0,9 % nach 24 Monaten.<sup>13</sup> Das Problem dieser wichtigen Studie ist, dass bisher keine Resultate zu den Viruslastbestimmungen während der Stillzeit veröffentlich wurden. Gezeigt wurde aber, dass nach der Geburt lediglich 36 % der Frauen eine vollständig supprimierte HI-Viruslast hatten. Eine kleinere Kohortenstudie aus Tansania fand zwar keine Mutter-Kind-Übertragung im «optimalen Szenario».<sup>14</sup> Es konnten aber nur 186 der ursprünglich 228 Kinder nachkontrolliert werden. Somit bleibt derzeit die komplett fehlende HIV-MTCT unter optimalen Bedingungen eine Annahme.<sup>15</sup> Bei der Beurteilung des Übertragungsrisikos durch Stillen kommt erschwerend hinzu, dass die Geburt eines Kindes für die Familie immer auch eine neue Herausforderung bedeutet und sich dadurch nachweisbar die Adhärenz verschlechtern kann. Die konsequente Einnahme einer antiretroviralen Therapie zur Suppression der Viruslast ist aber der wichtigste Grundpfeiler für die Verhinderung einer Übertragung und muss daher in dieser Zeit speziell unterstützt werden. Weitere eher theoretische Überlegungen sind erhöhte Übertragungsrisiken durch eine Mastitis, durch kombinierte Ernährung (Stillen und Beikost) und über Zellassoziierte HI-Viren, welche in Muttermilch nachgewiesen wurden. Gewichtiger ist möglicherweise aber, dass durch die Stillzeit eine verlängerte Exposition gegenüber den antiretroviralen Substanzen stattfindet, welche die Mutter einnimmt und die in die Muttermilch übertreten. Die Kenntnisse dazu sind unvollständig. Die Konzentrationen bisher getesteter Substanzen liegen unter den Konzentrationen, die das Kind durch eine therapeutische Einnahme erreichen würde. Leider liegen aber keine Daten zu allen Substanzen vor, weshalb die Rolle der Toxizität aktuell ebenfalls unklar bleibt.</p> <h2>Stillempfehlung oder weiterhin Verzicht auf das Stillen bei HIVInfektion für die Schweiz?</h2> <p>Die WHO empfiehlt das Stillen bei HIVInfektion bisher nur in Entwicklungsländern.<sup>16</sup> Grund ist die Abwägung der Vorteile (Infektprävention durch Muttermilch) und Nachteile (HIV MTCT) für diese Regionen. Kürzlich hat eine Expertengruppe, zusammengesetzt aus Gynäkologen/Geburtshelfern, Kinderärzten und Infektiologen, diese Abwägung nun erneut für die Schweiz durchgeführt. Der Konsensus war, dass neu in einem «optimalen Szenario» das Stillen in der Schweiz zwar nicht empfohlen werden kann, dass aber eine Aufklärung über Vor- und Nachteile erfolgen soll.<sup>15</sup> In diese Abwägung eingeflossen ist auch der Aspekt, dass die Autonomie der werdenden Mutter, einer unklar notwendigen Intervention zuzustimmen oder diese abzulehnen, gewahrt werden sollte.<sup>17</sup> Mitberücksichtigt wurden auch die Erkenntnisse zur heterosexuellen Übertragung. Hier gilt inzwischen ganz klar, dass bei supprimierter Viruslast keine Übertragungen mehr stattfinden («undetectable equals untransmissible» bzw. U=U). Insgesamt erscheint es damit heute nicht mehr vertretbar, Müttern mit starkem Wunsch, ihr Kind zu stillen, dies zu verbieten. Die neuen Empfehlungen in der Schweiz beinhalten vor der Geburt eine Aufklärung über Vorteile und Risiken, gefolgt von einem «shared decision-making», d.h., die werdende Mutter (zusammen mit dem Vater) und die betreuenden Ärzte legen gemeinsam fest, ob post partum gestillt oder abgestillt wird. Hierfür wurde eine Argumentationsliste erarbeitet und die Umsetzbarkeit des «shared decision-making» wird im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (www.shcs.ch) begleitet und ausgewertet.<sup>15</sup> Unterstützt wurde das Vorgehen inzwischen durch die neusten Empfehlungen in den USA und England. Aufgrund der berechtigten Sorge, dass sich Frauen mit starkem Wunsch, zu stillen, den ärztlichen Kontrollen entziehen könnten, sollen diese pragmatisch beim Stillen unterstützt werden.<sup>18</sup></p></p>
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<p><strong>1</strong> Joint United Nations Program on HIV/AIDS ( UNAIDS): Global Report: UNAIDS report on the global AIDS epidemic 2010. Geneva, 2010, http://www.unaids.org/globalreport/ documents/20101123_GlobalReport_full_en.pdf <strong>2</strong> De Cock KM et al.: Prevention of mother-to-child HIV transmission in resource-poor countries: translating research into policy and practice. JAMA 2000; 283(9): 1175-82 <strong>3</strong> http://www.shcs.ch/156-mochiv-key-data-figures <strong>4</strong> http://www.eacsociety.org/guidelines/eacsguidelines/ eacs-guidelines.html <strong>5</strong> Townsend CL et al.: Earlier initiation of ART and further decline in mother-tochild HIV transmission rates, 2000-2011. AIDS 2014; 28: 1049-57 <strong>6</strong> Fewtrell M et al.: Complementary feeding: a position paper by the European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN) Committee on Nutrition. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2017; 64(1): 119-32 <strong>7</strong> Hennet T, Borsig L: Breastfed at Tiffany's. Trends Biochem Sci 2016; 41(6): 508-18 <strong>8</strong> Kahlert C, Müller P: Mikrobiom – die Entdeckung eines Organs. Schweiz Med Forum 2014; 14(1617): 342-4 <strong>9</strong> Tromp I et al.: Breastfeeding and the risk of respiratory tract infections after infancy: the Generation R Study. PLoS One 2017; 12(2): e0172763 <strong>10</strong> Clemente JC et al.: The role of the gut microbiome in systemic inflammatory disease. BMJ 2018; 360: j5145 <strong>11</strong> Victora CG et al.: Breastfeeding in the 21<sup>st</sup> century: epidemiology, mechanisms, and lifelong effect. Lancet 2016; 387(10017): 475-90 <strong>12</strong> Tariq S et al.: «It pains me because as a woman you have to breastfeed your baby»: decision-making about infant feeding among African women living with HIV in the UK. Sex Transm Infect 2016; 92: 331-6 <strong>13</strong> Flynn PM et al.: Prevention of HIV-1 transmission through breastfeeding: efficacy and safety of maternal antiretroviral therapy versus infant nevirapine prophylaxis for duration of breastfeeding in HIV-1-infected women with high CD4 cell count (IMPAACT PROMISE): a randomized, open label, clinical trial. J Acquir Immune Defic Syndr 2017; 77(4): 383-92 <strong>14</strong> Luoga E et al.: No HIV transmission from virally suppressed mothers during breastfeeding in rural Tanzania. J Acquir Immune Defic Syndr 2018 May 16. doi: 10.1097/QAI.0000000000001758. [Epub ahead of print] <strong>15</strong> Kahlert C et al.: Is breastfeeding an equipoise option in effectively treated HIV-infected mothers in a high-income setting? Swiss Med Wkly 2018; 148: w14648 <strong>16</strong> Updates on HIV and infant feeding. Guideline der WHO 2016, http://www.who.int/maternal_child_adolescent/ documents/hiv-infant-feeding-2016/en/ <strong>17</strong> Hurst S: Ein paar Gedanken zum Thema Autonomie … Schweiz Ärzteztg 2016; 97(2829): 0 <strong>18</strong> British HIV Association guidelines for the management of HIV infection in pregnant women 2018, http://www.bhiva.org/documents/ Guidelines/Pregnancy/2018/BHIVA-Pregnancyguidelines- consultation-draft-final.pdf</p>
</div>
</p>