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Blasenfunktionsstörungen

Neurourologische Rehabilitation

Die neurourologische Rehabilitation befasst sich mit der Behandlung von Funktionsstörungen des unteren Harntrakts. Ziel ist es, die Lebensqualität Betroffener anhand spezifischer Behandlungspläne zu steigern und die Kontrolle über die Blasenfunktion wiederherzustellen oder zu verbessern.

Zur Wiederherstellung der Funktion des unteren Harntrakts bedient sich die Neurourologie der üblichen Elemente der allgemeinen Rehabilitation: verhaltenstherapeutischer Maßnahmen, des gezielten Einsatzes von Hilfsmitteln, der Physiotherapie und allen voran der elektrischen und auch magnetischen Stimulationstherapien.

Blasentagebuch

Die Bedeutung eines Blasentagebuchs in der Rehabilitation kann nicht überschätzt werden. Es dient nicht nur zur Diagnostik und zur Dokumentation des Behandlungserfolgs, sondern kann auch als wichtige verhaltenstherapeutische Maßnahme die Wiedererlangung einer Blasensensibilität unterstützen und helfen, schädliche Überdehnungen der Blasenmuskulatur zu vermeiden. Ähnliches gilt auch für die Miktion nach Uhrzeit, das „timed voiding“, bzw. für den Toilettengang nach Aufforderung, das „prompted voiding“. Letzteres kommt insbesondere bei Patient:innen mit kognitiven Einschränkungen zum Einsatz.

Art der Katheterversorgung

Die Art der Katheterversorgung kann ebenfalls die Erholung der Blasenfunktion beeinflussen. Dies gilt insbesondere für den intermittierenden Katheterismus, der der Dauerableitung nach gynäkologischen Eingriffen, zum Beispiel für Zervixneoplasien, hinsichtlich Inzidenz von Harnwegsinfekten und Restharnbildung überlegen ist.1 Hingegen ist das vielfach praktizierte routinemäßige Abklemmen eines Dauerkatheters zum Zwecke des „Blasentrainings“ kritisch zu betrachten. Es begünstigt die Entstehung von Harnwegsinfekten und verzögert die Zeit bis zur ersten Miktion nach Katheterentfernung.2 Gerade im heutigen Klinikalltag mit knappen Personalressourcen besteht zudem für die Patient:innen die Gefahr der Überdehnung der Blase, die dann weitere rehabilitatorische Maßnahmen unnötig erschwert.

Physiotherapie

Ein sinnvoller Einsatz der Physiotherapie in der Neurourologie setzt voraus, dass keine komplette neurologische Läsion vorliegt und die Patient:innen über ausreichende kognitive Fähigkeiten und Motivation verfügen. Die Physiotherapie stützt sich auf drei Säulen. Das aktive neuromuskuläre Training (PFMT), unglücklicherweise häufig als Beckenbodengymnastik bezeichnet, besteht aus einer heterogenen Gruppe von Übungen mit unterschiedlichen, je nach Pathologie und Strukturen spezifischen Therapiezielen. Sie dienen nicht allein der Stärkung der Muskelkraft, sondern müssen bei neurologischen Patient:innen den Fokus auf Koordination richten. Die ausschließliche Durchführung von Kegelübungen kann zum Beispiel gerade bei Patient:innen mit Multipler Sklerose sogar Schäden verursachen. Passiven Charakter hat die lumbopelvine Manualtherapie parietaler und viszeraler Strukturen, deren Mobilität, Tonus und Hämozirkulation sie günstig beeinflusst. Als dritte Säule der Physiotherapie kommt die Edukation der Patient:innen zum Tragen, wobei durch Verhaltensmaßnahmen die Ergonomie der Beckenorgane bzw. des Beckengürtels günstig beeinflusst wird. Sie dient zum Beispiel der Erlernung von Drangkontrolltechniken, von geeigneten Körperhaltungen zur Miktion und Defäkation und zur Kontrolle relevanter intraabdomineller Drücke. Darüber hinaus ereignet sich ein wesentlicher Effekt der Physiotherapie auch auf zerebraler Ebene. So wurde in einer zerebralen fMRI-Studie zur Belastungsinkontinenz beschrieben, wie sich durch PFMT über 12 Wochen die Fokussierung der zerebralen Aktivation im Bereich der kortikalen Repräsentation des unteren Harntrakts (LUT) verbessert.3 Gleichzeitiges Ausbleiben bzw. verminderte Aktivierung der supplementären motorischen und prämotorischen Areale bzw. in Insula, frontalem Operculum dex und ACC (anteriorer cingulärer Kortex) wurden als Hinweise auf eine Automatisierung einer verbesserten Motorik bzw. Veränderung der emotionalen Reaktion gewertet. Die kortikalen Veränderungen standen in Relation zur Abnahme der Inkontinenz und zur Zunahme der EMG-Aktivität des Beckenbodens.

Elektrostimulation

Elektrostimulationen werden zu Heilzwecken seit der Antike mit Erfolg durchgeführt. Obwohl ihr genauer Wirkmechanismus noch nicht endgültig bekannt ist, stellen sie seit Jahrzehnten eine wichtige Therapieform in der Neurourologie dar. Beeinflusst wird ihr Erfolg durch zahlreiche Faktoren wie die Patient:innenselektion und den Ort der Applikation der Stimulation. Von vorrangiger Bedeutung sind aber die unterschiedlichen Eigenschaften der angewandten Ströme (Wellenform, Phase, Frequenz, Impulsdauer, Intensität etc.) sowie Dauer und Häufigkeit der Sitzungen.

Bei der intravesikalen Elektrostimulation (IVES) wird eine in einem Katheter liegende Elektrode in die Blase eingeführt und suprapubisch eine Klebeelektrode angebracht. Die verabreichten Ströme aktivieren über Mechanorezeptoren in der Blasenwand und Aϑ-Fasern spinale Reflexe und ihre zerebrale Steuerung. Die Absenkung der Aktivationsschwelle der Mechanozeptoren erzielt eine Verbesserung der Blasensensibilität, die wichtig ist für die Einleitung und Aufrechterhaltung des Miktionsreflexes und somit den Patient:innen eine Wiedererlangung der physiologischen Kontrolle des LUT ermöglicht. Die IVES ist somit die einzige Stimulationstechnik, die auf den gesamten Reflexbogen einwirkt, im Gegensatz zu den anderen Techniken, die proximaler ansetzen. Sie findet heutzutage ihre hauptsächliche Anwendung in der Rehabilitation bei Detrusorhypokontraktilität bei inkompletten traumatischen und nichttraumatischen Läsionen sowie bei pädiatrischen neurologischen Pathologien. Im Gegensatz zur IVES wird die sakrale Neuromodulation zu rehabilitatorischen Zwecken derzeit noch als zu teuer und zu invasiv angesehen und hat daher meist eine prothetische Indikation.

Wegen ihres einfachen Gebrauchs erfreut sich die Stimulation des Nervus tibialis (PTNS), des distalen Astes des N. sciaticus, der sich mit dem N. pudendus die Sakralwurzeln S2–3 teilt, seit einigen Jahren zunehmender Beliebtheit. Sie kann perkutan, transkutan und auch per Implantat erfolgen. Zuerst vorgestellt durch Stoller zur Behandlung bei interstitieller Zystitis, wird sie hauptsächlich bei neurogenen und nichtneurogenen Beschwerden einer überaktiven Blase (OAB) verwendet.

Die Stimulation des N. dorsalis clitoridis bzw. des N. dorsalis penis wirkt auf die terminalen Äste des N. pudendus. Sie hat ähnliche Indikationen wie die PTNS, insbesondere aber bei Genitalschmerzen.

Die Elektrostimulation steht vor dem technischen Problem, dass sich die Hautimpedanz invers proportional zur Frequenz verhält. Das bedeutet, dass zur Neuromodulation tiefer liegender Strukturen mit den üblichen therapeutischen Frequenzen die Stromstärke auf intolerabel hohe Werte eingestellt werden muss. Mit der Verwendung interferenzieller Ströme lässt sich dieses Dilemma überwinden: Im Kreuzungsbereich zweier mittelfrequenter Ströme, die alleine zwar keinen therapeutischen Nutzen haben, aber dafür tiefer in den Körper eindringen können, entsteht ein Stimulationsfeld mit einer Frequenz, die sich aus der Differenz der beiden applizierten Ströme berechnet (z.B.: 4030Hz–4000Hz=30Hz). Auf diese Weise gelingt es, mit tolerablen therapeutischen Parametern weite Körperregionen zu erreichen. Eine Indikation findet diese Technik bei der Behandlung von Schmerzen und diversen Funktionsstörungen des LUT. Ebenso kann sie in Situationen in Betracht gezogen werden, in denen eine sakrale Neuromodulation nicht infrage kommt, wie in einem pädiatrischen Setting oder mangels Verfügbarkeit.

Magnetstimulation

Bei der transkranialen Magnetstimulation wird auf nichtinvasive Weise im Bereich des primären Motorkortex die neuronale Erregungsfähigkeit modifiziert. Die Zielregionen werden zuvor mit EEG- oder MRT-kontrollierten Probestimulationen identifiziert. In der Urologie wird sie bei bislang noch begrenzter Evidenz für die Behandlung neurogener Funktionsstörungen durch Multiple Sklerose oder Morbus Parkinson oder beim Blasenschmerzsyndrom verwendet.

1 Wang J et al.: Effects of clean intermittent catheterization and transurethral indwelling catheterization on the management of urinary retention after gynecological surgery: a systematic review and meta-analysis. Transl Androl Urol 2023; 12(5): 744-60 2 Ma S et al.: Need to clamp indwelling urinary catheters before removal after different durations: a systematic review and meta-analysis. BMJ Open 2023; 13(2): e064075 3 Di Gangi Herms AMR et al.: Functional imaging of stress urinary incontinence. Neuroimage 2006; 29(1): 267-75

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