
«Langzyklen können im individuellen Fall Vorteile bieten»
Unsere Gesprächspartnerin:
Dr. med. Janna Pape
Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital, Bern
Das Interview führte Dr. med. Felicitas Witte
Klagt eine Frau über Beschwerden im hormonfreien Intervall der Pilleneinnahme, sollte an hormonsensitive Krankheiten gedacht werden. Diese Frauen können möglicherweise von einem angepassten Verhütungsschema profitieren.
In einigen Fachartikeln taucht der Begriff «hormone withdrawal-associated symptoms» (HWAS) auf.1–3 Gibt es diesen Symptomenkomplex wirklich?
J. Pape: Ich habe vom Krankheitsbild HWAS vor Ihrer Anfrage zu diesem Interview nur am Rande gehört und den Begriff selbst nie verwendet. Aus meiner Erfahrung steckt bei Frauen mit dieser Problematik meist etwas anderes dahinter. Wir erleben in der Sprechstunde immer wieder Frauen, die im hormonfreien Intervall über somatische und psychische Symptome klagen, zum Beispiel über Unterbauchschmerzen, allgemeines Unwohlsein, Kopfschmerzen, depressive Verstimmungen oder Ähnliches. Die Frage, die man sich dann zunächst stellen sollte: Besteht eine andere, hormonsensitive Grunderkrankung? Zu denken ist dabei an eine menstruationsabhängige Migräne, an eine Endometriose oder an ein prämenstruelles Syndrom.
Was haben diese Grunderkrankungen mit den Symptomen im hormonfreien Intervall zu tun?
J. Pape: Ein Östrogenabfall beziehungsweise Östrogenschwankungen im ovulatorischen Zyklus triggern beispielsweise das Auftreten von Migräne. Der Östrogenabfall ist im hormonfreien Intervall einer hormonellen Kontrazeption zwar kleiner, kann aber auch eine Migräneattacke auslösen. Ähnlich können auch bei Endometriose oder bei einem prämenstruellen Syndrom (PMS) Hormonschwankungen bzw. eine Hormondysbalance die Symptome der Grundkrankheit verstärken, beispielsweise Unterleibsschmerzen oder psychische Symptome wie Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Wutanfälle, Ängstlichkeit, depressive Verstimmung, Antriebslosigkeit, Interesselosigkeit, vermindertes Selbstwertgefühl oder das Gefühl der Überforderung. In all diesen Fällen möchten wir ein hormonfreies Intervall vermeiden.
Ist HWAS eine Krankheit?
J. Pape: Es ist fragwürdig, ob wir HWAS als Krankheitsbild bezeichnen sollen oder ob wir nicht eher von einer falschen Kontrazeptionsmethode bei Frauen mit einer hormonell getriggerten Grunderkrankung sprechen müssen. Unsere S3-Leitlinie schreibt hierzu (Evidenzgrad 2–), dass bei menstruationsassoziierten Beschwerden (Dysmenorrhö, katameniale Kopfschmerzen, intestinale Irritationen, Blutungstage) kombinierte hormonelle Kontrazeptiva im Langzyklus der konventionellen Anwendung überlegen sind.4
Wie oft treten solche Symptome auf?
J. Pape: Weil das Krankheitsbild nicht klar definiert ist, gibt es keine grossen, systematischen Studien, die uns valide Daten dazu geben.
Wie beschreiben die Frauen ihre Beschwerden?
J. Pape: Häufig berichten sie von psychischen und/oder somatischen Symptomen vor Mensbeginn – vor allem ohne hormonelle Kontrazeption. In dem Fall liegt häufig ein PMS zugrunde: Bis zu 30% aller Frauen leiden unter behandlungsbedürftigen zyklusabhängigen Symptomen, davon 3–8% unter einer schweren Form, die als prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS) bezeichnet wird.5
In einer Studie wurde der Einfluss eines klassischen Pillenregimes auf HWAS mit dem eines Schemas mit einem kürzeren hormonfreien Intervall verglichen. Das Fazit der doppelblinden, randomisierten Studie: Beide Schemata linderten die Symptome.3 Heisst das, ein kürzeres hormonfreies Intervall bietet keine Vorteile?
J. Pape: Nein, keinesfalls. Zwar ist die Studie vom Design her gut gemacht und schliesst auch genügend Frauen ein. Doch sie hat einige Mängel. Leider haben die Autoren die medizinische Vorgeschichte der Frauen nicht erfasst – also all die hormonell getriggerten Grunderkrankungen wie Endometriose, PMS oder Migräne, die von einem kürzeren hormonfreien Intervall profitieren können. Um das Krankheitsbild HWAS zu untersuchen, hätten die Autoren diese Confounder ausschliessen müssen. Hinzu kommt die Angabe der Symptome mittels Likert-Skala nur über einen Zeitraum von vier Zyklen. Gerade in den ersten drei Monaten mit einer neuen hormonellen Verhütung treten Nebenwirkungen gehäuft auf. Es wäre interessant gewesen, die Studie über ein Jahr zu führen und die Ergebnisse zwischen Einschluss der Studie und nach einem Jahr miteinander zu vergleichen. Statt der Likert-Skala wären auch validierte Fragebögen zur Selbsteinschätzung der PMS-Symptomatik als Messinstrumente denkbar gewesen. Das könnten zum Beispiel der «Daily Record of Severity of Problems» (DRSP), der «Calendar Of Premenstrual Experiences» (COPS) oder das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» 5 (DSM-5) zum PMS sein. Aufgrund des kurzen Studiendesigns, der fraglichen Sensitivität der Likert-Skala als Messinstrument, der inhomogenen Bevölkerung verschiedenster Regionen sowie der fehlenden Spezifizierung der Studienteilnehmerinnen hinsichtlich Grunderkrankungen wunderte es mich nicht, dass keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen gefunden wurden.
Wie beurteilen Sie die Wahl des Vergleichskontrazeptivums (20µg Ethinylestradiol + 3mg Drospirenon) mit kürzerem hormonfreiem Intervall in dieser Studie?
J. Pape: Interessanterweise ist genau dieses Kontrazeptivum in den USA offiziell zur Behandlung von PMS zugelassen. Neben der wasserausschwemmenden Wirkung von Drospirenon können diese Frauen ebenfalls von einem kürzeren hormonfreien Intervall 24/4 profitieren, die Evidenz hierzu ist jedoch nicht gegeben. Darauf weist auch die S3-Leitlinie hin: Einige Untersuchungen deuten auf eine Reduktion der Beschwerden hin. Aufgrund der Variation der Länge der kontinuierlichen Einnahme und der häufig fehlenden exakten Diagnosekriterien für ein PMS ist jedoch noch keine eindeutige Aussage möglich.4
Welcher Frau empfehlen Sie eine kombinierte hormonelle Kontrazeption mit einem kürzeren hormonfreien Intervall?
J. Pape: Grundsätzlich versuche ich allen Frauen ein Kontrazeptivum vorzuschlagen, das ihren Bedürfnissen und ihrem medizinischen Risikoprofil am besten entspricht. Hat die Frau beispielsweise eine menstruell getriggerte Migräne, diskutiere ich mit ihr ein Kontrazeptivum im Langzyklus. Denn dieser könnte hormonfreie Intervalle und das damit einhergehende Risiko von Hormonschwankungen und einer Migräneattacke vermeiden helfen. Ebenso könnte eine Frau mit Endometriose oder einem ausgeprägten PMS mit somatischen Beschwerden von einem kürzeren hormonfreien Intervall profitieren. Für die Frau mit PMS wirkt sich noch zusätzlich die wasserausschwemmende Wirkung von Drospirenon günstig aus.
Wie genau ist «Langzyklus» definiert?
J. Pape: Langzyklus bedeutet, dass kein hormonfreies Intervall auftritt. Die Frau nimmt also täglich aktive, Hormon enthaltende Pillen bzw. trägt Pflaster oder Ring ständig. Die Zyklen können hierbei insgesamt sehr unterschiedlich dauern, theoretisch ist sogar eine durchgängige Einnahme ohne Pillenpause bis zur Menopause möglich. Die Faculty of Sexual & Reproductive Healthcare (FSRH), eine Expertengruppe der britischen Fachgesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, nennt das in ihrer Leitlinie «continuous use». Zwei andere Schemata nennt die FSRH «extended use», also eine verlängerte Anwendung über 9 Wochen oder «flexible extended use», eine flexible verlängerte Anwendung. Hier soll die Frau die aktiven Pillen, Pflaster oder Ringe kontinuierlich verwenden, bis eine Durchbruchblutung für drei bis vier Tage einsetzt (Tab. 1).7
Tab. 1: Standardregime und individuelle Regimes für die Kontrazeption mit monophasischen kombinierten hormonellen Kontrazeptiva (Quelle: www.fsrh.org )7
So eine flexible verlängerte Anwendung würde man doch keiner Frau empfehlen, wenn sie überraschend und unplanbar Blutungen bekommt?
J. Pape: Bei der flexiblen verlängerten Anwendung ist eigentlich der Langzyklus das Ziel, also die durchgängige Einnahme ohne Blutung, allerdings gibt es auch Frauen, bei denen sich die Schleimhaut während der Pilleneinnahme über die Zeit doch etwas aufbaut oder bei denen die Schleimhaut irgendwann instabil wird und abblutet. Wenn es dazu kommt, braucht man eine Pause von 4 Tagen mit Blutung, damit die Schleimhaut wieder dünn wird und man wieder von vorn beginnen kann.
Warum sollte eine Frau ein Schema mit einem kürzeren hormonfreien Intervall anwenden?
J. Pape: Mit einem individuellen Regime steigen die Zufriedenheit der Patientin6 und damit die Compliance der Einnahme. Insbesondere bei Nebenwirkungen unter hormonellen Kontrazeptiva kann es zu einer allgemeinen Ablehnung jeglicher Hormonanwendung kommen und damit unter Umständen zu mehr Schwangerschaftsabbrüchen gerade bei sehr jungen und fertilen Frauen.
Hängt Ihre Empfehlung auch von den Begleitkrankheiten ab?
J. Pape: Natürlich, diese müssen immer berücksichtigt werden, insbesondere das Risiko für Thrombosen, zum Beispiel bei Nikotinkonsum, einem Alter über 35 Jahre, Übergewicht oder einer familiären Belastung. Ich bin immer wieder erstaunt, dass Frauen in unserem Zentrum erscheinen, für die eine orale hormonelle Kontrazeption eigentlich kontraindiziert wäre.
Wie starten Sie das Schema mit kürzerem hormonfreiem Intervall, wenn eine Frau sich dafür entscheidet?
J. Pape: Ich behalte gerne das bestehende kombinierte Pillenpräparat bei, sofern es monophasisch ist und jede Pille die gleiche Menge an Östrogen und Gestagen enthält. Ich sage der Frau, sie möge nur die hormonhaltigen Pillen einnehmen und die anderen Pillen in der Packung entsorgen. Treten Zwischenblutungen über 3–4 Tage auf, so halte ich mich an die Empfehlung der FSRH:7 Die Frau sollte dann aufhören, die Pille zu nehmen, damit es zu einer kräftigeren Abbruchblutung kommen kann. Nach dem Abbluten der Gebärmutterschleimhaut kann die Frau die Pille wieder nehmen. Zwischenblutungen können nämlich bei einer dickeren, instabilen Schleimhaut entstehen.
Ist der kontrazeptive Schutz genauso hoch?
J. Pape: Mindestens. Kein oder zumindest ein kürzeres hormonfreies Intervall kann sogar die kontrazeptive Sicherheit erhöhen. Im hormonfreien Intervall kann nämlich die Follikelaktivität wieder einsetzen. Vergisst die Frau in diesem Fenster eine Pille, kann sich das hormonfreie Intervall weiter verlängern, sodass es zu einem Eisprung und in der Folge zu einer Schwangerschaft kommen kann. Einen «entgangenen Eisprung», also einen, der unter Pilleneinnahme auftritt, etwa weil die Pilleneinnahme vergessen wurde, würde die Frau erst durch eine überraschende und vermutlich unerwünschte Schwangerschaft merken.
Muss eine Frau eigentlich eine Menstruation bekommen, wenn sie die Pille nimmt?
J. Pape: Nein. Grundsätzlich besteht keine Notwendigkeit eines hormonfreien Intervalls mit Abbruchblutung. Wir als behandelnde Ärzt*innen sollten gut erklären, dass Langzyklen grundsätzlich sicher sind und im individuellen Fall auch viele Vorteile bieten können. Passend ist hier auch das Statement in der S-3-Leitlinie: «Kombinierte hormonelle Kontrazeptiva besitzen im konventionellen Einnahmezyklus und im Langzyklus eine gleich hohe kontrazeptive Sicherheit. Es gibt keinen Hinweis auf unterschiedliche Gesundheitsrisiken. Menstruations-assoziierte Beschwerden treten in Langzyklen in geringerem Masse auf als bei einer konventionellen KOK-Anwendung.»
Weiterführende Informationen zum Thema:
Individuelles Pillenregime
Literatur:
1 Bitzer J: Gynecol Endocrinol 2013; 29: 530-5 2 Jensen JT et al.: Eur J Contracept Reprod Health Care 2020; 25: 98-105 3 Bitzer J et al.: Int J Womens Health 2015; 18: 501-9 4 Hormonelle Empfängnisverhütung. Leitlinie der DGGG, SGGG and OEGGG (S3-Level, AWMF Registry No. 015/015, November 2019). http://www.awmf.org/leitlinien/detail/II/015- 015.html 5 Stute P et al.: Gynecol Endocrinol 2017; 33: 342-8 6 Bullington BW et al.: Open Access J Contracept 2022; 13: 121-9 7 The Faculty of Sexual & Reproductive Healthcare: FSRH Guideline Combined Hormonal Contarception. 2019. https://www.fsrh.org/standards-and-guidance/documents/combined-hormonal-contraception/
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