
©
Getty Images
Ist unsere operative Experimentierfreudigkeit außerhalb von Studien lege artis?
Jatros
Autor:
Prof. Dr. Dr. h.c. Eckhard Petri
Urogynäkologie<br> Universitäts-Frauenklinik Greifswald<br> Ärztl. Mitglied der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern Hannover<br> E-Mail: profpetri@gmx.de
30
Min. Lesezeit
06.12.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Aus der Pharmakotherapie kennen wir das Phänomen, dass trotz extensiver Zulassungsstudien unter strengen Kriterien unbekannte, bis dahin nie beobachtete Komplikationen auftreten können. Umgekehrt verlangen Akutereignisse die schnelle Entwicklung von Therapien, z.B. bei lebensbedrohlichen Epidemien in Afrika. Würde man an Impfstoffe die gleichen harten Entwicklungsprinzipen anlegen wie an neue Medizinprodukte, könnten ganze Volksgruppen ohne Hilfe sterben. Immer schon hat es heroische Ärzte gegeben, die im Selbstversuch und an Freiwilligen neue Konzepte erprobt haben.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Nach einer Epoche der explosionsartigen Entwicklung neuer Operationstechniken zur Rekonstruktion des Beckenbodens, Dutzenden von Modifikationen und Modifikatiönchen, wesentlich induziert durch die Entwicklung des spannungsfreien Polypropylenbandes (TVT) durch Ulmsten und Petros1, ist jetzt nach einer Euphoriephase, in der man alle tradierten Operationstechniken über Bord geworfen hat, eine neue Ära des kritischen Realismus eingekehrt. Nach Bekanntwerden vieler neuer, nicht vorhergesehener, auch unbekannter Komplikationen trat in vielen Ländern eine Zurückhaltung ein, welche oft eher paramedizinisch begründet ist, z.B. durch mediko-legale Auseinandersetzungen mit z.T. bisher unvorstellbaren Kompensationssummen. Hersteller haben ihre Produkte vom Markt nehmen lassen oder die Politik glaubte, regulierend eingreifen zu müssen, indem Produkte mit einem Bann belegt wurden. Die gleiche, in der Laienpresse geschürte, fast hysterische Reaktion kennen wir von den Silikon-Brustprothesen, den Morcellatoren und den „Robodoc“-Hüftprothesen. Wie weit Presse, Funk und Fernsehen mittlerweile Indikationen verändern, zeigt sich in England, wo nach mehreren Sendungen der BBC zur besten Sendezeit von Patientinnen spannungsfreie Bänder abgelehnt werden, obgleich die internationalen Fachgesellschaften in Urologie und Gynäkologie diese einhellig als Standard zur Behandlung der Belastungsinkontinenz der Frau und des Mannes erklärt haben.<sup>2</sup></p> <h2>Situation in den USA</h2> <p>Zunehmend wurde die Zulassung neuer Produkte in den USA ohne jegliche vorherige Prüfung unter Anwendung der „Äquivalenzbeurteilung“ bei neuen Medizinprodukten kritisiert. So musste lediglich als „premarket notification“ ein FDA- 510(k)-Antrag eingereicht werden, der auf die Vergleichbarkeit des Produktes mit bereits zugelassenen Produkten hinwies. <br />Im Februar 2012 verpflichtete die FDA 34 Hersteller von Netzen und 7 Hersteller von Bändern zu retrospektiven klinischen Studien zu ihren Produkten. Nachdem 522 „postmarket surveillance studies“ eingegangen waren, erfolgte eine weitere FDAAnkündigung am 29. April 2014, in der die alloplastischen Netze für die Prolapschirurgie von der mittleren Risikogruppe (class II) in die Hochrisikogruppe (class III) reklassifiziert wurden.<sup>3</sup> In dieser Gruppe wird vor Markteinführung ein Zulassungsantrag verlangt, um Sicherheit und Nutzen einschätzen zu können. Wall und Brown<sup>4, 5</sup> (2009 und 2010) haben zu einer Inkontinenzschlinge konstatiert, dass sie vor der Zulassung noch nie am Menschen erprobt worden sei, gleichzeitig die eigene Fachgesellschaft kritisiert, sie habe Empfehlungen ohne eindeutige Datenlage ausgesprochen. Einige große Hersteller haben trotz Zulassung nach Bericht über Komplikationen ihre Produkte freiwillig vom Markt genommen, dennoch waren z.B. auf dem deutschen Markt zwischenzeitlich >50 alloplastische Bänder und Netze im Handel.<sup>6</sup></p> <h2>Was motiviert uns zur Anwendung von Operationsverfahren außerhalb von Studien?</h2> <p>Es gibt vielerlei Gründe für operative Experimentierfreudigkeit:</p> <ul> <li>Innovationsdrang</li> <li>dringendes Verbesserungsbedürfnis</li> <li>Konkurrenzkampf</li> <li>verlockende Angebote</li> <li>Karrieresprung</li> <li>finanzieller Anreiz</li> </ul> <p>Dem stehen allerdings entgegen:</p> <ul> <li>Patientenrechtegesetz (in Deutschland)</li> <li>Patientenwunsch</li> <li>Versicherungsschutz</li> <li>ökonomische Verantwortung</li> <li>ethisch-ärztliches Gewissen</li> </ul> <p>Außerhalb von kontrollierten Studienprotokollen muss die operative Expertise basierend auf den (zumeist) fehlenden Fallzahlen gemäß den etablierten, in Leitund Richtlinien empfohlenen Techniken diskutiert werden.<sup>7</sup> Auch der Patient hat spätestens bei Elektiveingriffen Anspruch auf volle Aufklärung. <br />Aus diesem Grund hat auch die FDA den 510(k)-Passus in den Verfahrensabläufen abgeschwächt, der die „Vergleichbarkeit“ mit schon zugelassenen Produkten zuließ. Aus der Pharmakotherapie wissen wir, dass die Galenik durchaus bei gleicher Substanz den Unterschied machen kann. Haftpflichtversicherer könnten beim Anwenden einer experimentellen, nicht allgemein akzeptierten Methode den Versicherungsschutz entziehen.</p> <h2>Auf welcher Grundlage können wir entscheiden?</h2> <p>Es gibt nicht den einen Zugang zu klinischen und gesundheitspolitischen Entscheidungen:</p> <ul> <li>Ziel muss es sein, transparente objektive Daten zu erheben.</li> <li>Diese müssen uns erlauben zu sagen: Das ist, was wir empfehlen und warum.<sup>8 </sup></li> </ul> <p>In anderen Ländern wurde unter Hinweis auf die „guten“ eigenen Erfahrungen abgewiegelt und auf die guten Studiendaten verwiesen (z.B. in Frankreich). In Deutschland besteht spätestens nach Erlass des Patientenrechtegesetzes die Verpflichtung zu einer umfassenden Darstellung der operativen Alternativen und aller Risiken und Gefahren, auch im Langzeit- Follow-up. In den Niederlanden wurden strenge „Guidelines“ in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium erarbeitet, welche für Industrie und Operateure eine hohe Messlatte anlegen, die zu einem drastischen Rückgang der Anwendungen geführt hat.<sup>9</sup> <br />In der Europäischen Gemeinschaft ist ein Gesetzesrahmen in Vorbereitung, der die nationalen Leitlinien in prospektive Regeln für die 28 Mitgliedsländer umwandeln soll. Dadurch soll über eine zentralisierte europäische Datenbank (EUDAMED) unter Zusammenarbeit mit der Medical Device Coordination Group (MDCG) und dem Medical Device Advisory Committee (MDAC) spätestens für Medizinprodukte der Klasse III („höheres Risiko“) eine bessere Überwachung ermöglicht werden.<sup>10</sup> Ob der Wunsch nach nationalen und internationalen Registern umzusetzen ist, wird von der Attraktivität der Teilnahme abhängen, es erscheint aber zur Qualitätskontrolle zwingend notwendig. Bisherige Register wurden erfolgreich ohne Beteiligung der Industrie z.B. in Österreich<sup>11</sup> oder Finnland<sup>12</sup> erprobt. In anderen Ländern wurden diese entweder nur unvollständig genutzt oder abgebrochen, wobei auch Zweifel an ihrer Effektivität bestehen und vergleichende randomisierte Multicenterstudien empfohlen werden.<sup>13</sup></p> <h2>Wann sollen neue Operationsmethoden angewandt werden?</h2> <p>Neue Operationsmethoden bzw. Modifikationen sollten nur in von einer Ethikkommission geprüften Studien angewandt werden, am besten in Multicenterstudien mit Randomisierung. Eine Aussagekraft über die mögliche Bedeutung des „Neuen“ ist letztlich nur im Vergleich mit dem etablierten Verfahren möglich. Dabei ist nicht verlangt, dass die Methode wesentlich besser sein muss, aber die „non-inferiority“, d.h. ein äquivalenter Effekt, muss erreicht werden.<sup>14</sup> <br />Es ist in den letzten Jahren eine Unsitte geworden, bei fehlendem positivem Erfolg neue, bisher unbekannte Parameter heranzuziehen, um den Sinn der neuen Modifikation zu belegen (ähnlich wie bei vielen Anticholinergika). Zwar mag der Hinweis, Studienpatient zu sein, abschrecken, andererseits wissen viele Patienten um die deutlich höhere Sicherheit und Qualität durch die Kontrolle einer Studienleitung, für den Anwender besteht ein juristischer Schutz. Die vaginale Netzchirurgie z.B. steht noch am Anfang, neue Produkte werden in Multicenterstudien geprüft, so z.B. abbaubare, Estradiol-beschichtete Netze.<sup>15</sup> <br />Auch wenn trotz deutlichen Anstiegs von (bekannt gewordenen) Netz- und Bandkomplikationen in der eigenen Erfahrung als Gutachter weder in den Schlichtungsstellen noch bei Gerichten eine Zunahme an Anträgen bzw. Klagebegehren zu verzeichnen ist, so ist dennoch vor einer Erprobung neuer Techniken außerhalb von Studien zu warnen. Zum Schutz von Zuweisern und Patientinnen sollte erwogen werden, bei klarer Indikationsstellung eine Expertise der Einrichtung und der Operateure über Zertifizierungen (von der Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie [AUB und AGUB] zertifizierte Zentren), durchaus auch mit regelmäßigen Audits, wie sie in der europäischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (EBCOG) praktiziert wird, einzuführen.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> Alloplastische Bänder und Netze sind unverändert eine wichtige Innovation bei der Behandlung von Störungen des weiblichen Beckenbodens. Die „Äquivalenzbeurteilung“ von neuen Produkten durch die FDA hat sich als fehlerhaft erwiesen und sollte vor unkontrollierten Studien warnen. Die Informationspflicht bei Patientinnen mit Elektiveingriffen verlangt eine Aufklärung über Erfolgsaussichten und Risiken, in Deutschland auch über Alternativen (BGB §630). Die juristischen Risiken in Hinblick auf einen möglicherweise verweigerten Versicherungsschutz, Vergütung durch die Krankenversicherer und spätestens das „Experiment“ am Menschen lassen die Entwicklung und Erprobung neuer Operationstechniken nur in kontrollierten Studien empfehlen. Ohnehin bedarf z.B. die Anwendung von Netzen gemäß allen internationalen Empfehlungen einer strengen Indikationsstellung, man sieht nur in Ausnahmen eine Indikation bei Primärfällen.</div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Ulmsten U, Petros P: Intravaginal slingplasty (IVS): an ambulatory surgical procedure for treatment of female urinary incontinence. Scand J Urol Nephrol 1995; 29(1): 75-82 <strong>2</strong> Chapple CR et al.: Consensus Statement of the European Urology Association and the European Urogynaecological Association on the Use of Implanted Materials for Treating Pelvic Organ Prolapse and Stress Urinary Incontinence. Eur Urol 2017; 72(3): 424-431 <strong>3</strong> www.fda. gov/NewsEvents/Newsroom/Press, 29. April 2014 <strong>4</strong> Wall LL, Brown D: Commercial pressure and professional ethics: troubling revisions to the recent ACOG Practice Bulletins on surgery for pelvic organ prolapse. Int Urogynec J Pelvic Floor Dysfunct 2009; 20(7): 765-7 <strong>5</strong> Wall LL, Brown D: The perils of commercially driven surgical innovation. Am J Obstet Gynecol 2010; 202(1): 30. e1-4 <strong>6</strong> Petri E: Komplikationen von Kunststoffnetzen und -bändern. Amerikanische Verhältnisse? Urologe 2015; 54(3): 330-6 <strong>7</strong> Reisenauer C et al: Interdisziplinäre S2e-Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau. AWMF-Register Nr. 015/005 2015 <strong>8</strong> Frieden TR: Evidence for health decision making – beyond randomized, controlled trials. N Engl J Med 2017; 377(5): 465-75 <strong>9</strong> Vierhout M: Regulation of vaginal mesh implantation in the Netherlands: a possible model for Europe? 7th Leading Lights in Urogynaecology, 2.–4. Oktober 2014, Athen <strong>10</strong> Salvatore V: Mesh: Legal, regulatory and ethical issues. 7th Leading Lights in Urogynaecology, 2.–4. Oktober 2014, Athen <strong>11</strong> Tamussino K, Hanzal E, Kölle D et al.: Transobturator tapes for stress urinary incontinence: results of the Austrian registry. Am J Obstet Gynecol 2007; 197: 634. e1-634.e5 <strong>12</strong> Kuuva N, Nilsson CG: A nationwide analysis of complications associated with the tension-free vaginal tape (TVT) procedure. Acta Obstet Gynaecol Scand 2002; 81: 72-77 <strong>13</strong> Roovers JPWR: Registries: what level of evidence do they provide? Int Urogynecol J 2007; 18(10): 1119-20 <strong>14</strong> Mauri L, D’Agostino RB: Challenges in the design and interpretation of noninferiority trials. N Engl J Med 2017; 377(14): 1357-67 <strong>15</strong> Shafaat S et al: Demonstration of improved tissue integration and angiogenesis with elastic, estradiol releasing polyurethane material designed for use in pelvic floor repair. Neurourol Urodyn 2018; 37(2): 716-72</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Webinar „CTG-Update“
Webinar „CTG-Update“ mit Dr. Elisabeth D’Costa: Aktuelle Leitlinien, praxisnahe Tipps und neue Standards kompakt zusammengefasst. Jetzt ansehen und Wissen auffrischen!
Neue Erkenntnisse zur Kolporrhaphie
Die Kolporrhaphie ist eines der etabliertesten chirurgischen Verfahren in der Beckenbodenchirurgie, welches vorrangig zur Behandlung von Beckenorganprolaps (BOP) eingesetzt wird. Die ...
Die Kunst ärztlicher Kommunikation bei Breaking Bad News
Worte haben entscheidende Wirkungen. In Gesprächen mit Patient:innen und Angehörigen gibt es meist eine hohe Erwartungshaltung gegenüber der Ärztin, dem Arzt. Vor allem die Übermittlung ...