© Getty Images

Ist unsere operative Experimentierfreudigkeit außerhalb von Studien lege artis?

<p class="article-intro">Aus der Pharmakotherapie kennen wir das Phänomen, dass trotz extensiver Zulassungsstudien unter strengen Kriterien unbekannte, bis dahin nie beobachtete Komplikationen auftreten können. Umgekehrt verlangen Akutereignisse die schnelle Entwicklung von Therapien, z.B. bei lebensbedrohlichen Epidemien in Afrika. Würde man an Impfstoffe die gleichen harten Entwicklungsprinzipen anlegen wie an neue Medizinprodukte, könnten ganze Volksgruppen ohne Hilfe sterben. Immer schon hat es heroische Ärzte gegeben, die im Selbstversuch und an Freiwilligen neue Konzepte erprobt haben.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Nach einer Epoche der explosionsartigen Entwicklung neuer Operationstechniken zur Rekonstruktion des Beckenbodens, Dutzenden von Modifikationen und Modifikati&ouml;nchen, wesentlich induziert durch die Entwicklung des spannungsfreien Polypropylenbandes (TVT) durch Ulmsten und Petros1, ist jetzt nach einer Euphoriephase, in der man alle tradierten Operationstechniken &uuml;ber Bord geworfen hat, eine neue &Auml;ra des kritischen Realismus eingekehrt. Nach Bekanntwerden vieler neuer, nicht vorhergesehener, auch unbekannter Komplikationen trat in vielen L&auml;ndern eine Zur&uuml;ckhaltung ein, welche oft eher paramedizinisch begr&uuml;ndet ist, z.B. durch mediko-legale Auseinandersetzungen mit z.T. bisher unvorstellbaren Kompensationssummen. Hersteller haben ihre Produkte vom Markt nehmen lassen oder die Politik glaubte, regulierend eingreifen zu m&uuml;ssen, indem Produkte mit einem Bann belegt wurden. Die gleiche, in der Laienpresse gesch&uuml;rte, fast hysterische Reaktion kennen wir von den Silikon-Brustprothesen, den Morcellatoren und den &bdquo;Robodoc&ldquo;-H&uuml;ftprothesen. Wie weit Presse, Funk und Fernsehen mittlerweile Indikationen ver&auml;ndern, zeigt sich in England, wo nach mehreren Sendungen der BBC zur besten Sendezeit von Patientinnen spannungsfreie B&auml;nder abgelehnt werden, obgleich die internationalen Fachgesellschaften in Urologie und Gyn&auml;kologie diese einhellig als Standard zur Behandlung der Belastungsinkontinenz der Frau und des Mannes erkl&auml;rt haben.<sup>2</sup></p> <h2>Situation in den USA</h2> <p>Zunehmend wurde die Zulassung neuer Produkte in den USA ohne jegliche vorherige Pr&uuml;fung unter Anwendung der &bdquo;&Auml;quivalenzbeurteilung&ldquo; bei neuen Medizinprodukten kritisiert. So musste lediglich als &bdquo;premarket notification&ldquo; ein FDA- 510(k)-Antrag eingereicht werden, der auf die Vergleichbarkeit des Produktes mit bereits zugelassenen Produkten hinwies. <br />Im Februar 2012 verpflichtete die FDA 34 Hersteller von Netzen und 7 Hersteller von B&auml;ndern zu retrospektiven klinischen Studien zu ihren Produkten. Nachdem 522 &bdquo;postmarket surveillance studies&ldquo; eingegangen waren, erfolgte eine weitere FDAAnk&uuml;ndigung am 29. April 2014, in der die alloplastischen Netze f&uuml;r die Prolapschirurgie von der mittleren Risikogruppe (class II) in die Hochrisikogruppe (class III) reklassifiziert wurden.<sup>3</sup> In dieser Gruppe wird vor Markteinf&uuml;hrung ein Zulassungsantrag verlangt, um Sicherheit und Nutzen einsch&auml;tzen zu k&ouml;nnen. Wall und Brown<sup>4, 5</sup> (2009 und 2010) haben zu einer Inkontinenzschlinge konstatiert, dass sie vor der Zulassung noch nie am Menschen erprobt worden sei, gleichzeitig die eigene Fachgesellschaft kritisiert, sie habe Empfehlungen ohne eindeutige Datenlage ausgesprochen. Einige gro&szlig;e Hersteller haben trotz Zulassung nach Bericht &uuml;ber Komplikationen ihre Produkte freiwillig vom Markt genommen, dennoch waren z.B. auf dem deutschen Markt zwischenzeitlich &gt;50 alloplastische B&auml;nder und Netze im Handel.<sup>6</sup></p> <h2>Was motiviert uns zur Anwendung von Operationsverfahren au&szlig;erhalb von Studien?</h2> <p>Es gibt vielerlei Gr&uuml;nde f&uuml;r operative Experimentierfreudigkeit:</p> <ul> <li>Innovationsdrang</li> <li>dringendes Verbesserungsbed&uuml;rfnis</li> <li>Konkurrenzkampf</li> <li>verlockende Angebote</li> <li>Karrieresprung</li> <li>finanzieller Anreiz</li> </ul> <p>Dem stehen allerdings entgegen:</p> <ul> <li>Patientenrechtegesetz (in Deutschland)</li> <li>Patientenwunsch</li> <li>Versicherungsschutz</li> <li>&ouml;konomische Verantwortung</li> <li>ethisch-&auml;rztliches Gewissen</li> </ul> <p>Au&szlig;erhalb von kontrollierten Studienprotokollen muss die operative Expertise basierend auf den (zumeist) fehlenden Fallzahlen gem&auml;&szlig; den etablierten, in Leitund Richtlinien empfohlenen Techniken diskutiert werden.<sup>7</sup> Auch der Patient hat sp&auml;testens bei Elektiveingriffen Anspruch auf volle Aufkl&auml;rung. <br />Aus diesem Grund hat auch die FDA den 510(k)-Passus in den Verfahrensabl&auml;ufen abgeschw&auml;cht, der die &bdquo;Vergleichbarkeit&ldquo; mit schon zugelassenen Produkten zulie&szlig;. Aus der Pharmakotherapie wissen wir, dass die Galenik durchaus bei gleicher Substanz den Unterschied machen kann. Haftpflichtversicherer k&ouml;nnten beim Anwenden einer experimentellen, nicht allgemein akzeptierten Methode den Versicherungsschutz entziehen.</p> <h2>Auf welcher Grundlage k&ouml;nnen wir entscheiden?</h2> <p>Es gibt nicht den einen Zugang zu klinischen und gesundheitspolitischen Entscheidungen:</p> <ul> <li>Ziel muss es sein, transparente objektive Daten zu erheben.</li> <li>Diese m&uuml;ssen uns erlauben zu sagen: Das ist, was wir empfehlen und warum.<sup>8 </sup></li> </ul> <p>In anderen L&auml;ndern wurde unter Hinweis auf die &bdquo;guten&ldquo; eigenen Erfahrungen abgewiegelt und auf die guten Studiendaten verwiesen (z.B. in Frankreich). In Deutschland besteht sp&auml;testens nach Erlass des Patientenrechtegesetzes die Verpflichtung zu einer umfassenden Darstellung der operativen Alternativen und aller Risiken und Gefahren, auch im Langzeit- Follow-up. In den Niederlanden wurden strenge &bdquo;Guidelines&ldquo; in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium erarbeitet, welche f&uuml;r Industrie und Operateure eine hohe Messlatte anlegen, die zu einem drastischen R&uuml;ckgang der Anwendungen gef&uuml;hrt hat.<sup>9</sup> <br />In der Europ&auml;ischen Gemeinschaft ist ein Gesetzesrahmen in Vorbereitung, der die nationalen Leitlinien in prospektive Regeln f&uuml;r die 28 Mitgliedsl&auml;nder umwandeln soll. Dadurch soll &uuml;ber eine zentralisierte europ&auml;ische Datenbank (EUDAMED) unter Zusammenarbeit mit der Medical Device Coordination Group (MDCG) und dem Medical Device Advisory Committee (MDAC) sp&auml;testens f&uuml;r Medizinprodukte der Klasse III (&bdquo;h&ouml;heres Risiko&ldquo;) eine bessere &Uuml;berwachung erm&ouml;glicht werden.<sup>10</sup> Ob der Wunsch nach nationalen und internationalen Registern umzusetzen ist, wird von der Attraktivit&auml;t der Teilnahme abh&auml;ngen, es erscheint aber zur Qualit&auml;tskontrolle zwingend notwendig. Bisherige Register wurden erfolgreich ohne Beteiligung der Industrie z.B. in &Ouml;sterreich<sup>11</sup> oder Finnland<sup>12</sup> erprobt. In anderen L&auml;ndern wurden diese entweder nur unvollst&auml;ndig genutzt oder abgebrochen, wobei auch Zweifel an ihrer Effektivit&auml;t bestehen und vergleichende randomisierte Multicenterstudien empfohlen werden.<sup>13</sup></p> <h2>Wann sollen neue Operationsmethoden angewandt werden?</h2> <p>Neue Operationsmethoden bzw. Modifikationen sollten nur in von einer Ethikkommission gepr&uuml;ften Studien angewandt werden, am besten in Multicenterstudien mit Randomisierung. Eine Aussagekraft &uuml;ber die m&ouml;gliche Bedeutung des &bdquo;Neuen&ldquo; ist letztlich nur im Vergleich mit dem etablierten Verfahren m&ouml;glich. Dabei ist nicht verlangt, dass die Methode wesentlich besser sein muss, aber die &bdquo;non-inferiority&ldquo;, d.h. ein &auml;quivalenter Effekt, muss erreicht werden.<sup>14</sup> <br />Es ist in den letzten Jahren eine Unsitte geworden, bei fehlendem positivem Erfolg neue, bisher unbekannte Parameter heranzuziehen, um den Sinn der neuen Modifikation zu belegen (&auml;hnlich wie bei vielen Anticholinergika). Zwar mag der Hinweis, Studienpatient zu sein, abschrecken, andererseits wissen viele Patienten um die deutlich h&ouml;here Sicherheit und Qualit&auml;t durch die Kontrolle einer Studienleitung, f&uuml;r den Anwender besteht ein juristischer Schutz. Die vaginale Netzchirurgie z.B. steht noch am Anfang, neue Produkte werden in Multicenterstudien gepr&uuml;ft, so z.B. abbaubare, Estradiol-beschichtete Netze.<sup>15</sup> <br />Auch wenn trotz deutlichen Anstiegs von (bekannt gewordenen) Netz- und Bandkomplikationen in der eigenen Erfahrung als Gutachter weder in den Schlichtungsstellen noch bei Gerichten eine Zunahme an Antr&auml;gen bzw. Klagebegehren zu verzeichnen ist, so ist dennoch vor einer Erprobung neuer Techniken au&szlig;erhalb von Studien zu warnen. Zum Schutz von Zuweisern und Patientinnen sollte erwogen werden, bei klarer Indikationsstellung eine Expertise der Einrichtung und der Operateure &uuml;ber Zertifizierungen (von der Arbeitsgemeinschaft Urogyn&auml;kologie [AUB und AGUB] zertifizierte Zentren), durchaus auch mit regelm&auml;&szlig;igen Audits, wie sie in der europ&auml;ischen Gesellschaft f&uuml;r Gyn&auml;kologie und Geburtshilfe (EBCOG) praktiziert wird, einzuf&uuml;hren.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> Alloplastische B&auml;nder und Netze sind unver&auml;ndert eine wichtige Innovation bei der Behandlung von St&ouml;rungen des weiblichen Beckenbodens. Die &bdquo;&Auml;quivalenzbeurteilung&ldquo; von neuen Produkten durch die FDA hat sich als fehlerhaft erwiesen und sollte vor unkontrollierten Studien warnen. Die Informationspflicht bei Patientinnen mit Elektiveingriffen verlangt eine Aufkl&auml;rung &uuml;ber Erfolgsaussichten und Risiken, in Deutschland auch &uuml;ber Alternativen (BGB &sect;630). Die juristischen Risiken in Hinblick auf einen m&ouml;glicherweise verweigerten Versicherungsschutz, Verg&uuml;tung durch die Krankenversicherer und sp&auml;testens das &bdquo;Experiment&ldquo; am Menschen lassen die Entwicklung und Erprobung neuer Operationstechniken nur in kontrollierten Studien empfehlen. Ohnehin bedarf z.B. die Anwendung von Netzen gem&auml;&szlig; allen internationalen Empfehlungen einer strengen Indikationsstellung, man sieht nur in Ausnahmen eine Indikation bei Prim&auml;rf&auml;llen.</div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Ulmsten U, Petros P: Intravaginal slingplasty (IVS): an ambulatory surgical procedure for treatment of female urinary incontinence. Scand J Urol Nephrol 1995; 29(1): 75-82 <strong>2</strong> Chapple CR et al.: Consensus Statement of the European Urology Association and the European Urogynaecological Association on the Use of Implanted Materials for Treating Pelvic Organ Prolapse and Stress Urinary Incontinence. Eur Urol 2017; 72(3): 424-431 <strong>3</strong> www.fda. gov/NewsEvents/Newsroom/Press, 29. April 2014 <strong>4</strong> Wall LL, Brown D: Commercial pressure and professional ethics: troubling revisions to the recent ACOG Practice Bulletins on surgery for pelvic organ prolapse. Int Urogynec J Pelvic Floor Dysfunct 2009; 20(7): 765-7 <strong>5</strong> Wall LL, Brown D: The perils of commercially driven surgical innovation. Am J Obstet Gynecol 2010; 202(1): 30. e1-4 <strong>6</strong> Petri E: Komplikationen von Kunststoffnetzen und -b&auml;ndern. Amerikanische Verh&auml;ltnisse? Urologe 2015; 54(3): 330-6 <strong>7</strong> Reisenauer C et al: Interdisziplin&auml;re S2e-Leitlinie f&uuml;r die Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau. AWMF-Register Nr. 015/005 2015 <strong>8</strong> Frieden TR: Evidence for health decision making &ndash; beyond randomized, controlled trials. N Engl J Med 2017; 377(5): 465-75 <strong>9</strong> Vierhout M: Regulation of vaginal mesh implantation in the Netherlands: a possible model for Europe? 7th Leading Lights in Urogynaecology, 2.&ndash;4. Oktober 2014, Athen <strong>10</strong> Salvatore V: Mesh: Legal, regulatory and ethical issues. 7th Leading Lights in Urogynaecology, 2.&ndash;4. Oktober 2014, Athen <strong>11</strong> Tamussino K, Hanzal E, K&ouml;lle D et al.: Transobturator tapes for stress urinary incontinence: results of the Austrian registry. Am J Obstet Gynecol 2007; 197: 634. e1-634.e5 <strong>12</strong> Kuuva N, Nilsson CG: A nationwide analysis of complications associated with the tension-free vaginal tape (TVT) procedure. Acta Obstet Gynaecol Scand 2002; 81: 72-77 <strong>13</strong> Roovers JPWR: Registries: what level of evidence do they provide? Int Urogynecol J 2007; 18(10): 1119-20 <strong>14</strong> Mauri L, D&rsquo;Agostino RB: Challenges in the design and interpretation of noninferiority trials. N Engl J Med 2017; 377(14): 1357-67 <strong>15</strong> Shafaat S et al: Demonstration of improved tissue integration and angiogenesis with elastic, estradiol releasing polyurethane material designed for use in pelvic floor repair. Neurourol Urodyn 2018; 37(2): 716-72</p> </div> </p>
Back to top