
Evidenz, Komplexität und Kontroversität
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Im Durchschnitt wird bei einer von sechs Schwangeren die Diagnose Gestationsdiabetes gestellt, d.h. eine Hyperglykämie, die zum ersten Mal in der Schwangerschaft festgestellt wird und nach der Geburt wieder verschwindet. Damit ist der Gestationsdiabetes die häufigste Endokrinopathie in der Schwangerschaft geworden.
Keypoints
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Es gibt keine allgemein anerkannte beste Methode für das Screening auf GDM.
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Es gibt Evidenz für GDM-Screening mit einzeitigem Ansatz mit kurz- und langfristigen Vorteilen.
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Der Anstieg der Prävalenz und fehlende Unterschiede bei den Kurzzeitergebnissen rechtfertigen ein zweizeitiges Vorgehen.
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Das Screening mit Nüchtern-BZ-Werten (<4,4mmol/l) als möglicher Ansatz für ein- oder zweizeitiges Vorgehen wird in der Schweiz durchgeführt.
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Die Zunahme der Risikofaktoren spricht für ein frühes Screening auf Diabetes in der Schwangerschaft.
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Es gibt ausreichende Evidenz, dass Screening und Behandlung eines GDM signifikant maternale Komplikationen reduzieren und das perinatale Outcome verbessern.
Da Frauen im reproduktiven Alter oft keine Blutzuckermessungen vor ihrer ersten Schwangerschaft haben, kann sich zum einen dahinter auch ein vorbestehender Diabetes mellitus (DM), meistens Typ 2, verbergen. Zum anderen ist der Schweregrad der Hyperglykämie in der Schwangerschaft ausschlaggebend für die Kurz- und Langzeitkomplikationen. Abbildung 1 zeigt die bekannten Kurz- und Langzeitkomplikationen für Schwangere, Feten, Mütter und ihre Nachkommen bei Gestationsdiabetes (GDM).
Die Prävalenz hängt vom Kollektiv der Schwangeren (Ethnizität, maternales Alter, Lebensstil) und von unterschiedlichen diagnostischen Kriterien ab, die innerhalb eines Landes auch noch variieren können. Mit Ausnahme von Norwegen ist die Prävalenz in Europa und Nordamerika mit 5–16% niedriger als in Südostasien, Nordafrika oder im Nahen Osten mit 15–22%.1 Weltweit hat die Prävalenz des GDM aufgrund der steigenden Adipositasraten, des höheren Alters und der Diversität der Herkunftsländer der Schwangeren zugenommen. Eine weitere Einflussgrösse ist die Auswahl des Screeningverfahrens.
Es gibt ausreichende Evidenz, dass Screening und Behandlung eines GDM signifikant maternale Komplikationen reduzieren und das perinatale Outcome verbessern. In randomisierten klinischen Studien (RCTs) konnte gezeigt werden, dass die Behandlung des GDM auch in mild ausgeprägter Form die Rate an Präeklampsien, schwangerschaftsinduzierten Hypertonien und Sectiones reduziert und das neonatale Outcome (geringere Rate an «large for gestational age», LGA) verbessert.2–4
Es bestehen jedoch weltweit Kontroversen in Bezug auf das optimale Screening und das diagnostische Vorgehen. Verschiedene Screening- und Diagnosemethoden mit unterschiedlicher Glukosebelastung und unterschiedlichen Cut-off-Werten sind in Abbildung 2 dargestellt.
Die beiden wichtigsten Screeningmethoden sind das einzeitige und das zweizeitige Verfahren.
Einzeitiges Verfahren
Die multizentrische Beobachtungsstudie «Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcome» (HAPO) mit über 23000 Schwangeren hat 2008 gezeigt, dass eine lineare Beziehung zwischen Blutzuckerwert, gemessen zwischen 24. und 28. SSW, und ungünstigen perinatalen Verläufen besteht und dass es keinen klaren Schwellenwert gibt, mit dem der GDM eindeutig definiert werden kann.5 Basierend auf den Ergebnissen der HAPO-Studie hat die «International Association of Diabetes in Pregnancy Study Groups» (IADPSG) Schwellenwerte zum Screening des GDM herausgegeben, die sich auf die Erhöhung des relativen Risikos («odds ratio») von 1,75 für ein Geburtsgewicht >90. Perzentile, primäre Sectio, neonatale Hypoglykämie oder auf die Erhöhung des C-Peptids im Nabelschnurblut beziehen. Diese Studie ist bisher die einzige prospektive grosse Studie, die maternale und neonatale Kurzzeitkomplikationen als primäres Outcome untersucht hat.6
Nach einer Nahrungskarenz von 8Stunden erfolgt der OGTT 75 morgens. Die Grenzwerte (im venösen Plasma) zur Diagnose eines GDM sind dabei wie folgt:
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Nüchtern-Blutzucker ≥5,1mmol/l
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Blutzucker nach 1h ≥10mmol/l
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Blutzucker nach 2h ≥8,5mmol/l
Ein einziger pathologischer Wert genügt, um die Diagnose GDM zu stellen.
Durch Einführen des einzeitigen Screenings hat die Diagnose GDM um das Drei- bis Vierfache zugenommen, weil bereits mit einem pathologischen Wert ein GDM diagnostiziert wird.2,7 Neben einem höheren Infrastruktur- und Kostenaufwand besteht die Gefahr einer Medikalisierung von Schwangeren, die mit den zweizeitigen Testverfahren als normal klassifiziert werden. Wiederum ergaben Nachfolgeuntersuchungen bei Müttern, die nach den IADPSG-Kriterien einen GDM hatten, nach 10–14 Jahren ein drei- bis vierfach höheres Risiko für DM Typ 2 und für die Jugendlichen ein höheres Risiko für Adipositas und eine höhere Fettmasse.3,4
Zweizeitiges Screening
Das ältere, zweizeitige Verfahren, das bis 2011 auch in der Schweiz durchgeführt wurde, beginnt in der 24. bis 28. SSW mit einem nicht nüchternen 50g-Glukose-Belastungstest, gefolgt von einem OGTT 100 bei den positiv gescreenten Schwangeren. Dieses Verfahren hatte ursprünglich zum Ziel, Frauen mit einem DM 6 Wochen bis 5,5 Jahre nach Geburt zu identifizieren.8
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Zwischen 24. und 28. SSW wird nichtnüchtern ein 50g-Glukose-Belastungstest durchgeführt. Bei Werten ≥7,2, 7,5 oder 7,8mmol/l wird an einem anderen Tag ein 3-Stunden-OGTT-100 (oder 2- Stunden-OGTT-75) durchgeführt.
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Nach einer Nahrungskarenz von 8Stunden erfolgt der OGTT 100 morgens. Die Grenzwerte (im venösen Plasma) zur Diagnose eines GDM sind dabei wie folgt:
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Nüchtern-Blutzucker ≥53mmol/l
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Blutzucker nach 1h ≥10mmol/l
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Blutzucker nach2h ≥8,6mmol/l
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Blutzucker nach 3h ≥7,8mmol/l
Mindestens zwei Werte müssen pathologisch sein, um die Diagnose GDM zu stellen.9
Die Mehrheit der verfügbaren Literatur zeigt im Vergleich der beiden Screening-Verfahren, dass das einzeitige Verfahren zu einer höheren GDM-Prävalenz bei Schwangeren führt. Es gibt allerdings nur eine begrenzte Anzahl von Studien, die ein besseres Schwangerschaftsergebnis bei Anwendung des einstufigen Ansatzes zeigt. Saccone et al. berichteten in einer Metaanalyse von vier RCTs, dass die Diagnose von GDM mit dem einzeitigen Ansatz mit einer signifikanten Reduktion an LGA um 50%, weniger neonataler Hypoglykämie und weniger Verlegungen auf die neonatologische Intensivstation (NICU) im Vergleich zum zweistufigen Ansatz assoziiert war.10 Im Gegensatz dazu haben Brady et al. in einer Metaanalyse von vier RCTs und 13 Beobachtungsstudien gezeigt, dass es trotz einer signifikanten Zunahme der GDM-Diagnose und -Behandlung mit dem einzeitigen Test keinen Unterschied in der Rate an LGA-Neugeborenen im Vergleich zum zweizeitigen Test gab.11 Darüber hinaus war die einzeitige Testung mit einer geringeren Rate an LGA-Neugeborenen (RR: 0,97; 95% CI: 0,95–0,98), aber mit einer höheren Rate an Verlegungen auf die NICU und neonataler Hypoglykämie verbunden. Die bisher grösste pragmatische RCT von Hillier fand ebenfalls keinen Unterschied, sie weist einige wesentliche methodische Mängel auf, sodass die Ergebnisse weiterer RCTs und auch Langzeitdaten dieser Methode abgewartet werden sollten.12
Ein anderes Kollektiv sind die Schwangeren mit milder Hyperglykämie, die nur im einzeitigen Screening positiv getestet werden und im zweizeitigen Screening keinen GDM haben. In einer retrospektiven Arbeit wurden Komplikationen von Schwangeren untersucht, bei denen die Diagnose GDM nur im einzeitigen, nicht aber im zweizeitigen Screening gestellt worden war. Die Behandlung des Kollektivs mit milder Hyperglykämie verringerte das Risiko für LGA und das für ein Geburtsgewicht >4000g um das Dreifache.13
Um die Anzahl der OGTTs zu begrenzen, ohne die Fälle mit schwerer Hyperglykämie zu verpassen, verwenden viele europäische Länder wie z.B. UK (NICE) immer noch ein selektives GDM-Screening nach Risikofaktoren, damit werden jedoch ca. 40% der Fälle von GDM verpasst.
Zweistufiges einzeitiges Vorgehen mit Nüchtern-BZ
Zuerst wird ein Nüchtern-BZ bestimmt. Ist der Wert ≥5,1mmol/l, ist die Diagnose GDM gegeben («rule in»). Ist der Wert <4,4mmol/l, so ist die Diagnose eines GDM weniger wahrscheinlich, bei allerdings deutlich tieferer Sensitivität (78,5–95%) («rule out»). Diese Variante erlaubt es, bei 40–63% der Frauen auf den oralen Belastungstest zu verzichten (<4,4mmol/l: 35% und ≥5,1mmol/l: 8,3%).14 Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine grössere belgische Studie: Ein Nüchtern-BZ <4,3mmol/l hatte eine Sensitivität von 81%, einen negativen Vorhersagewert von 97,3% (95%, CI: 96,5–98,0) für GDM bei gleichzeitiger Vermeidung von 52,2% OGTTs.15 Bedingung für diese Strategie ist, dass das Laborresultat sehr schnell zur Verfügung steht oder aber, dass der allfällig notwendige orale Glukose-Toleranztest mit 75g Glukose an einem anderen Tag wiederholt wird, wenn der Wert zwischen 4,4 und 5,0mmol/l liegt (zweizeitig).
Die Diskussion, ob ein einzeitiges oder zweizeitiges Screening durchgeführt werden soll, ist bisher nicht eindeutig geklärt, und es gibt keinen Konsens zwischen den internationalen Gremien hinsichtlich der Empfehlungen für das ein- oder zweizeitige Screening im zweiten Trimester.
Präkonzeptionelles Screening und frühes Screening in der Schwangerschaft auf DM
Frauen mit Risikofaktoren sollten idealerweise präkonzeptionell, sonst in der frühen Schwangerschaft auf einen DM Typ 2 untersucht werden. Risikofaktoren sind nach Ryser Rüetschi et al.:14
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Alter >35 Jahre
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Adipositas (BMI >30kg/m2)
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Herkunft: nicht europäisch (Afrika, Asien, Lateinamerika)
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Positive Familienanamnese für DM Typ 2 (Verwandtschaft ersten Grades)
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Vorbestehende Hypertonie oder andere kardiovaskuläre Erkrankung
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Hypercholesterinämie
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Medikamenteneinnahme bei chronischer Erkrankung (Kortikosteroide, Antipsychotika, antiretrovirale Therapie bei HIV)
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Polyzystisches Ovar-Syndrom (PCOS)
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Makrosomie in vorausgegangener Schwangerschaft
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GDM in vorausgegangener Schwangerschaft
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Diabetes-spezifische Symptome (Polydipsie, Polyurie, ausgeprägte Glukosurie)
Der Expertenbrief für Gestationsdiabetes von der SGGG ist in Bearbeitung.
Literatur:
1 McIntyre HD et al.: Gestational diabetes mellitus. Nat Rev Dis Primers 2019; 5(1): 47 2 Huhn EA et al.: Fourfold increase in prevalence of gestational diabetes mellitus after adoption of the new International Association of Diabetes and Pregnancy Study Groups (IADPSG) criteria. J Perinat Med 2017; 45(3): 359-66 3 Lowe WL jr et al.: Maternal glucose levels during pregnancy and childhood adiposity in the Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcome Follow-up Study. Diabetologia 2019; 62(4): 598-610 4 Lowe WL jr et al.: Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcome Follow-up Study (HAPO FUS): maternal gestational diabetes mellitus and childhood glucose metabolism. Diabetes Care 2019; 42(3): 732-80 5 Metzger BE et al.: Hyperglycemia and adverse pregnancy outcomes. N Engl J Med 2008; 358(19): 1991-2002 6 Metzger BE et al.: International association of diabetes and pregnancy study groups recommendations on the diagnosis and classification of hyperglycemia in pregnancy. Diabetes Care 2010; 33(3): 676-82 7 Aubry EM et al.: Effect of the IADPSG screening strategy for gestational diabetes on perinatal outcomes in Switzerland. Diabetes Res Clin Pract 2021; 175: 108830 8 OʼSullivan JB: Gestational diabetes. Unsuspected, asymptomatic diabetes in pregnancy. N Engl J Med 1961; 264: 1082-5 9 ElSayed NA et al.: 2. classification and diagnosis of diabetes: standards of care in diabetes - 2023. Diabetes Care 2023; 46(Suppl 1): S1-40 10 Saccone G et al.: Screening for gestational diabetes mellitus: one step versus two step approach. A meta-analysis of randomized trials. J Matern Fetal Neonatal Med 2020; 33(9): 1616-24 11 Brady M et al.: One-Step Compared With Two-Step Gestational Diabetes Screening and Pregnancy Outcomes: A Systematic Review and Meta-analysis. Obstet Gynecol 2022; 140(5): 712-2 12 Hillier TA et al.: A pragmatic, randomized clinical trial of gestational diabetes screening. N Engl J Med 2021; 384(10): 895-904 13 Goyette F et al.: Treatment of women with mild gestational diabetes mellitus decreases the risk of adverse perinatal outcomes. Diabetes Metab 2023; 49(4): 101458 14 Ryser Rüetschi J et al.: Fasting glycaemia to simplify screening for gestational diabetes. BJOG 2016; 123(13): 2219-22 15 Beunen K et al.: Fasting plasma glucose level to guide the need for an OGTT to screen for gestational diabetes mellitus. Acta Diabetol 2022; 59(3): 381-94 16 National Collaborating Centre for Women’s and Children’s Health (UK): National Institute for Health and Care Excellence: Clinical Guidelines. In: Diabetes in Pregnancy: Management of Diabetes and Its Complications from Preconception to the Postnatal Period. London 2015 17 ACOG Practice Bulletin No. 190: Gestational diabetes mellitus. Obstet Gynecol 2018; 131(2): e49-64 18 Bouvlain M et al.: Screening des Gestationsdiabetes. SGGG Expertenbrief Nr. 37 19 Hod M et al.: The International Federation of Gynecology and Obstetrics (FIGO) Initiative on gestational diabetes mellitus: A pragmatic guide for diagnosis, management, and care. Int J Gynaecol Obstet 2015; 131(Suppl 3): S173-211 20 WHO : Diagnostic criteria and classification of hyperglycaemia first detected in pregnancy. 2013. https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/85975/WHO_NMH_MND_13.2_eng.pdf?sequence=1&isAllowed=y