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Auf Neben- und Wechselwirkungen achten
Jatros
Autor:
Dr. Corina Ringsell
30
Min. Lesezeit
23.03.2017
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<p class="article-intro">Vor allem geriatrische Patienten müssen aufgrund ihrer Multimorbidität häufig zahlreiche Medikamente regelmäßig einnehmen. Dies führt oft zu Neben- und Wechselwirkungen, die die Therapie beeinträchtigen. Eine davon ist die Inkontinenz. Dies war das Thema eines Vortrags bei der Jahrestagung 2016 der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie & Rekonstruktive Beckenbodenchirurgie (AUB).</p>
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<p class="article-content"><p>In der Literatur gibt es keine einheitliche Definition für „Polypharmazie“. Manche Autoren geben die Einnahme von mehr als fünf Medikamenten als Polypharmazie an. Andere setzen die Grenze bei zehn und mehr Arzneien. In der Geriatrie habe man sich auf mehr als fünf Medikamente geeinigt, sagte Mag. pharm. Claudia Wunder, Universitätsklinikum St. Pölten, in ihrem Referat. Besonders für ältere Patienten ist die Einnahme mehrerer Medikamente ein Risikofaktor, denn sie kann unterschiedliche Wechselwirkungen verursachen. Zudem sind ältere Menschen gegenüber unerwünschten Wirkungen oft empfindlicher als jüngere. Häufige Folgen sind ein zunehmendes Sturzrisiko, Gebrechlichkeit und eine höhere Hospitalisierungsrate.<sup>1–3</sup></p> <h2>Benefit oder möglicher Schaden?</h2> <p>Die klinische Pharmazeutin Claudia Wunder zeigte als Beispiel die Medikamentenliste einer Pflegeheimbewohnerin, die 21 Medikamente mit rund 30 Einnahmezeitpunkten enthält. „Wenn man sich das anschaut, stellt sich die Frage, ob es sich um eine adäquate Behandlung handelt oder um eine Übertherapie“, sagte sie. Um Letztere zu vermeiden, sei es hilfreich, folgende Fragen zu beantworten. Die wichtigste sei die nach der Indikation jedes aufgelisteten Medikaments und ob diese überhaupt noch gegeben ist. Die nächste die nach der Evaluierung der Therapie, also ob man jemals festgestellt hat, dass das Behandlungsziel erreicht wurde. Auch die Dosierungen müssten im Hinblick auf die Organfunktionen, etwa der Nieren und der Leber, überprüft werden, betonte die Apothekerin. Die Interaktionen der einzelnen Wirkstoffe und deren Anwendungssicherheit seien ebenfalls von Bedeutung. Wenn ein Patient regelmäßig viele Medikamente einnehmen muss, stelle sich immer die Frage, ob er damit auch zurechtkommt und die einzelnen Arzneimittel so einnimmt, wie sie verschrieben wurden. Deshalb müsse man bei jedem Wirkstoff prüfen, was überwiegt: der Nutzen oder der mögliche Schaden, so Wunder.<br /> Auf der anderen Seite wird nach Aussage der Apothekerin bei sehr umfangreichen Medikamentenlisten die Unterverschreibung gefördert, weil man nicht noch einen weiteren Wirkstoff dazugeben möchte.</p> <h2>Nebenwirkung Inkontinenz</h2> <p>Die Polypharmazie ist ein Risikofaktor für eine arzneimittelinduzierte Harninkontinenz. Die Prävalenz von Wirkstoffen, die eine Inkontinenz auslösen oder eine bestehende Inkontinenz verschlimmern, ist hoch (60–90 % ).<sup>4</sup> Die gute Nachricht: Die Wirkung ist potenziell reversibel, wenn man bestimmte Medikamente absetzt oder deren Dosierung verändert.<br /> Meist verbergen sich in einer Medikamentenliste mehrere problematische Wirkstoffe, die oft auf unterschiedliche Weise auf den unteren Harntrakt einwirken. Dazu gehören vor allem Antihypertensiva, Diuretika, Sedativa, Psychopharmaka und NSAR. In der Regel löst nicht ein einzelner Wirkstoff eine Inkontinenz aus oder verschlimmert diese, sondern die Summe der Substanzen, die auf den Harntrakt wirken („drug burden“).<sup>5, 6</sup> Bei den Antihypertensiva steigern besonders die Alpha-1-Inhibitoren die Inkontinenz um das Vier- bis Fünffache, da sie eine Muskelrelaxation bewirken. Verstärkt wird dies durch die Kombination mit einem Schleifendiuretikum. Auch die zusätzliche Gabe von Lithium, das eine Polyurie verursachen kann, oder das Vorliegen weiterer Risikofaktoren wie Diabetes können die Inkontinenz auslösen oder verschlimmern.<br /> Die oft zur Blutdrucksenkung eingesetzten Kalziumantagonisten können sich ebenfalls ungünstig auf eine Inkontinenz auswirken. Sie verursachen häufig periphere Ödeme, setzen die Detrusorkontraktilität herab und begünstigen die Bildung von Restharn.<sup>6</sup> Positiv hingegen – allerdings nur bei Männern – wirken ACE-Hemmer. Sie können das Auftreten einer Dranginkontinenz um 25–30 % reduzieren. Auf eine Stressinkontinenz haben sie hingegen keinen Einfluss.<sup>7</sup> Worauf man die Patienten allerdings hinweisen müsse, so Wunder, sei, dass ACE-Hemmer häufig Husten auslösen, der dann wiederum zu Inkontinenz führen könne.<br /> Ein Problem ist die Therapie der Herzinsuffizienz. Zwischen 35 und 50 % der Patienten mit NYHA-Status III und IV leiden an einer Harninkontinenz. Hier können Auswahl und Dosierung des Diuretikums eine Inkontinenz mindern. Zusätzlich sollten nicht pharmakologische Maßnahmen wie adäquates Trinkmanagement eingesetzt werden.<sup>8</sup></p> <h2>Sedativa und Psychopharmaka</h2> <p>Weitere Medikamentengruppen, die eine Inkontinenz auslösen oder verstärken können, sind Sedativa, atypische Neuroleptika und Antidepressiva.<sup>3, 5, 9</sup> So habe man bei Pflegeheimbewohnern, die häufig Benzodiazepine erhalten, ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Inkontinenz festgestellt, berichtete die Pharmazeutin. Gerade bei älteren Menschen sollte man die sedierenden Antihistaminika als Auslöser einer Inkontinenz nicht vergessen. Diese Wirkstoffe werden häufig wegen eines andauernden Juckreizes infolge der „Altershaut“ eingesetzt. Zudem sind manche dieser Medikamente frei verkäuflich. Dies sollte man bedenken und die Patienten immer fragen, was sie außerhalb der verordneten Medikation noch einnehmen, betonte Wunder.<br /> Die atypischen Neuroleptika wie Clozapin oder Risperidon werden vor allem mit einer Enuresis nocturna in Verbindung gebracht, die selbstlimitierend oder persistierend sein kann. Da es keine Alternativen zu diesen Arzneimitteln gibt, ist ein Einnahmemanagement sinnvoll, zum Beispiel eine reduzierte Dosis am Abend. Zudem ist es hilfreich, zusätzliche Faktoren für eine nächtliche Inkontinenz zu vermeiden, etwa Kaffee und Alkohol.<sup>9</sup><br /> Trizyklische Antidepressiva können eine Vielzahl an Wirkungen im Körper hervorrufen. Sie hemmen die neuronale Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin im ZNS. Außerdem blockieren sie zentral und peripher unter anderem die Rezeptoren der Transmitter Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin. Die Folgen im Harntrakt können Miktionsstörungen, Harnverhalt, Harndrang und Inkontinenz sein. Allerdings werden sie heutzutage eher durch selektive Serotonin- Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) ersetzt. Doch auch unter einer SSRI-Therapie ist ein zweifach höheres Inkontinenzrisiko beschrieben.<sup>10</sup></p> <h2>Weitere potenzielle Inkontinenzauslöser</h2> <p>Schmerzmittel wie NSAR, Opioide oder das Antiepileptikum Gabapentin, das auch zur Behandlung neuropathischer Schmerzen eingesetzt wird, können eine Inkontinenz auslösen oder verstärken. Bei der Hormonersatztherapie kann die systemische Gabe eine Inkontinenz triggern, während eine lokale Anwendung dieser entgegenwirkt. Darüber hinaus können Bronchodilatatoren, Antidementiva, Parkinson-Medikamente, Lithium und viele andere Arzneimittel das Entstehen einer Inkontinenz begünstigen.<sup>11</sup> Wichtig sei, so Wunder, dass man dies im Auge behalte und keine sogenannte Verschreibungskaskade auslöse. In diesem Zusammenhang kam die Pharmazeutin auf das eingangs dargestellte Beispiel der Patientin mit der umfangreichen Medikamentenliste zurück: Die Frau erhielt einen Alpha-1-Blocker, ein Schleifendiuretikum, einen Kalziumantagonisten, einen SSRI, Insulin für ihren Diabetes und hatte zudem einen Dauerkatheter für ihre Inkontinenz. Bei solchen Patienten lohne immer der Versuch, die Medikation so zu modifizieren, dass man sie unter Umständen vom Dauerkatheter befreien kann, sagte sie. Auf keinen Fall sollte man noch ein weiteres Therapeutikum dazugeben, ehe man nicht versucht hat, mit anderen Mitteln die Inkontinenz zu bessern, betonte Wunder.</p> <h2>Therapie der überaktiven Blase (OAB)</h2> <p>Wenn andere Maßnahmen keinen ausreichenden Effekt zeigen, kann eine OAB wirksam mit Anticholinergika behandelt werden.<sup>12</sup> Neuere Auswertungen haben gezeigt, dass bei manchen Patienten eine Elektrostimulation den Anticholinergika überlegen ist.<sup>13</sup> Dies ist vor allem wegen der zahlreichen Nebenwirkungen dieser Medikamente wichtig, die oft zum Abbruch der Therapie führen. In der Geriatrie versuche man Anticholinergika möglichst zu meiden, sagte Wunder. Der Grund dafür ist, dass sie das Delirrisiko um das Zehnfache steigern und dass eine kumulative wie auch dosisabhängige Beziehung zum Auftreten von Demenz und Alzheimer nachgewiesen werden konnte.<sup>14, 15</sup> Darüber hinaus steigt das kardiovaskuläre Risiko an.<sup>16</sup> Alternativen seien nicht medikamentöse Therapien oder Arzneimittel, die die Blut-Hirn-Schranke nicht durchdringen können und daher weniger zentralnervöse Wirkungen entfalten, etwa das synthetische Anticholinergikum Trospiumchlorid. Da sehr viele Substanzen anticholinerge Wirkungen haben, komme es bei einer Polypharmazie häufig zu kumulativen Effekten. Es erfordere daher ein sehr großes Wissen, um zu sehen, ob eine Therapie adäquat ist oder nicht, und um Wege zu finden, über die man unerwünschte Wirkungen reduzieren kann, schloss Wunder.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 27. AUB-Jahrestagung, 23.–24. September 2016, Baden
bei Wien
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Nobili A et al: Polypharmacy, length of hospital stay, and in-hospital mortality among elderly patients in internal medicine wards. The REPOSI study. Eur J Clin Pharmacol 2011; 67: 507-19 <strong>2</strong> Gnjidic D et al: Polypharmacy cutoff and outcomes: five or more medicines were used to identify community-dwelling older men at risk of different adverse outcomes. J Clin Epidemiol 2012; 65: 989-95 <strong>3</strong> Talasz H, Lechleitner M: Polypharmacy and incontinence. Z Gerontol Geriatr 2012; 45: 464-7 <strong>4</strong> Kashyap M et al: Prevalence of commonly prescribed medications potentially contributing to urinary symptoms in a cohort of older patients seeking care for incontinence. BMC Geriatr 2013; 13: 57 <strong>5</strong> Tsakiris P et al: Drug-induced urinary incontinence. Drugs Aging 2008; 25: 541-9 <strong>6</strong> Peron EP et al: Antihypertensive drug class use and differential risk of urinary incontinence in community-dwelling older women. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2012; 67: 1373-8 <strong>7</strong> Elliott CS, Comiter CV: The effect of angiotensin inhibition on urinary incontinence: data from the National Health and Nutrition Examination Survey (2001-2008). Neurourol Urodyn 2014; 33: 1178-81 <strong>8</strong> Tannenbaum C, Johnell K: Managing therapeutic competition in patients with heart failure, lower urinary tract symptoms and incontinence. Drugs Aging 2014; 31: 93-101 <strong>9</strong> Barnes TR et al: Nocturnal enuresis with antipsychotic medication. Br J Psychiatry 2012; 200: 7-9 <strong>10</strong> Movig KL et al: Selective serotonin reuptake inhibitor-induced urinary incontinence. Pharmacoepidemiol Drug Saf 2002; 11: 271-9 <strong>11</strong> Ruby CM et al: The effect of medication use on urinary incontinence in community-dwelling elderly women. J Am Geriatr Soc 2010; 58: 1715-20 <strong>12</strong> Nabi et al: Anticholinergic drugs in patients with overactive bladder syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2006; 4: CD003781 (DOI: 10.1002/14651858. CD003781.pub2) <strong>13</strong> Rai et al: Anticholinergic drugs versus non-drug active therapies for overactive bladder syndrome in adults without neurological problems. Cochrane Database of Systematic Reviews 2012; 4: CD003193 (DOI: 10.1002/14651858.CD003193.pub4) <strong>14</strong> Fox C et al: Anticholinergic medication use and cognitive impairment in the older population: the medical research council cognitive function and ageing study. J Am Geriatr Soc 2011; 59: 1477-83 <strong>15</strong> Gray SL et al: Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia: a prospective cohort study. JAMA Intern Med 2015; 175: 401-7 <strong>16</strong> Myint PK et al: Total anticholinergic burden and risk of mortality and cardiovascular disease over 10 years in 21,636 middle-aged and older men and women of EPIC-Norfolk prospective population study. Age Ageing 2015; 44: 219-25</p>
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