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OEADF 2019

Standardisierte Beurteilung chronischer Wunden

<p class="article-intro">Chronisch schlecht heilende Wunden, besonders die als Ulcera cruris bekannten Unterschenkelgeschwüre, sind ein europaweites Problem. Die Behandlung erfordert jedenfalls eine standardisierte Begutachtung nach der A. B. C. D. E.-Regel. Zur Identifizierung einer geeigneten Lokaltherapie empfiehlt sich das M. O. I. S. T.-Konzept, welches im Gegensatz zum althergebrachten T. I. M. E.-Konzept proaktiv eine spezielle Intervention anbietet.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Niemals eine Lokaltherapie der Wunde anwenden ohne entsprechende kausale Basistherapie. Das gilt auch umgekehrt.</li> <li>Bei der Erstbegutachtung einer chronischen Wunde ist die A. B. C. D. E.-Regel der Begutachtung als zwingend anzusehen.</li> <li>Eine moderne Wundbehandlung besteht aus einer aktiven Lokaltherapie (seien es Verb&auml;nde, Cremen, Sprays oder physikalische Ma&szlig;nahmen), welche wundphasenadaptiert zum richtigen Zeitpunkt angewendet wird.</li> <li>Begutachtungskonzepte wie T. I. M. E. oder M. O. I. S. T. f&uuml;hren zu einer wundphasenadaptierten ad&auml;quaten Lokaltherapie. Das moderne proaktive M. O. I. S. T.-Konzept ist heutzutage dem T. I. M. E.-Konzept vorzuziehen.</li> </ul> </div> <p>Als chronische Wunden bezeichnen wir Wunden, welche trotz einer intensiven Behandlung &uuml;ber mindestens 6 Wochen nicht abheilen. In &Ouml;sterreich, wie insgesamt in ganz Europa, ist das Problem beeindruckend. In &Ouml;sterreich z&auml;hlen wir 255 000 Patienten mit chronischen Wunden, was ungef&auml;hr 3 % der Bev&ouml;lkerung entspricht. Mit 99 000 F&auml;llen finden sich hier in &Ouml;sterreich, wie &uuml;berall in Europa, dominant Ulcera cruris. Neben der Tatsache, dass die Patienten typischerweise eine sehr schlechte Lebensqualit&auml;t haben, leiden sie auch unter dem chronischen Verlauf dieser Wunden, welche in 33 % weit l&auml;nger als zus&auml;tzliche 8 Wochen bestehen. Dieses medizinische Problem ist auch &auml;u&szlig;erst kostenrelevant, da wir in &Ouml;sterreich von reinen Materialkosten, d. h. Kosten f&uuml;r Verbandsmaterialien, von 225,4 Millionen Euro ausgehen. Die gro&szlig;e Notwendigkeit an Ausbildungen und Fortbildungen im medizinischen Bereich chronischer Wundversorgung zeigen Daten, denen zufolge 61 % der betroffenen Patienten nicht regelrecht mit modernen Verbandsstoffen und Therapiem&ouml;glichkeiten behandelt werden.</p> <h2>Das Prinzip des Managements chronischer Wunden</h2> <p>In fr&uuml;heren Jahren sehr beliebt war die Wundstadieneinteilung nach Wagner, modifiziert durch Reike 1993, welche Stadien von 0 bis V ausweist. Die ansteigenden Stadien sind vor allem durch einen zunehmenden Gewebeverlust mit entsprechender Nekrose charakterisiert. Unter den meisten deutschsprachigen Wundheilungsexperten besteht derzeit Einigkeit, dass so eine Wundstadieneinteilung zum regelrechten Management von chronischen Wunden, also vor allem Diagnostik und Therapie, nicht wirklich etwas beitragen kann. Aus diesem Grund wird diese Wundstadieneinteilung als obsolet angesehen.<br /> Die standardisierte Beurteilung chronischer Wunden ist aber die absolut notwendige Basis f&uuml;r jegliche regelrecht durchgef&uuml;hrte moderne Wundbehandlung. Dabei spielt vor allem die A. B. C. D. E-Regel der Begutachtung eine zentrale Rolle, da sie zu der essenziellen Basistherapie, also zu einer kausalen Therapie der Wunde, f&uuml;hrt. Wenn es dann um die Abkl&auml;rung der Lokaltherapie der Wunde geht, wird seit l&auml;ngerer Zeit das sogenannte T. I. M. E.-Konzept angewandt. In der vorliegenden Publikation empfehlen wir, dieses Konzept durch das wesentlich modernere M. O. I. S. T.-Konzept<sup>1</sup> zu ersetzen.</p> <h2>Die A. B. C. D. E.-Regel der Begutachtung</h2> <p><em>A &ndash; Anamnese:</em> Was eine Anamnese ist, braucht man normalerweise keinem in der Medizin t&auml;tigen Profi, sei es Arzt oder Pfleger, zu erkl&auml;ren. Leider wird aber dieser so wichtige Bereich der Aufarbeitung von Patienteninformationen bei chronischen Wunden oftmals nur abortiv durchgef&uuml;hrt bzw. nicht ernst genommen. Wesentlich sind dabei eine Erhebung der generellen Krankheitsanamnese, seit wann der Defekt aufgetreten ist (Trauma?) bzw. die Frage nach bisherigen Therapien. Wichtig ist f&uuml;r die Gesamteinsch&auml;tzung auch die Abkl&auml;rung einer m&ouml;glichen Infektions- (Fieber?), Schmerz-, neurologischen bzw. angiologischen Symptomatik.<br /> <em>B &ndash; Bakterien:</em> Wesentlich ist auch die Frage nach relevanten Bakterien, d. h., ob Zeichen einer systemischen bzw. lokalen Infektion bestehen. Wir glauben (wobei es hierzu verschiedene Meinungen gibt), dass bei Erstbegutachtung immer ein semiquantitativer Abstrich genommen werden sollte, um ein regelrechtes Screening nach multiresistenten Keimen durchzuf&uuml;hren. Ansonsten liegt die Indikation f&uuml;r den mikrobiologischen Abstrich in der Systeminfektion und in der Gesamtverschlechterung des Zustandes der Wunde.<br /> <em>C &ndash; klinische Untersuchung:</em> Neben den Basisuntersuchungen (Palpation, Perkussion, Blutdruckmessung und Temperaturmessung) geh&ouml;rt zur klinischen Untersuchung die klassische generelle Inspektion (den Hautstatus nicht vergessen!), aber auch die Wundinspektion, welche Lokalisation, Gr&ouml;&szlig;e und Tiefe der Wunde umfassen sollte. Dazu ist ein Foto der Wunde obligatorisch. In diesem Zusammenhang soll nochmals auf die gro&szlig;e Bedeutung des Hautstatus hingewiesen werden, welcher selbst schon viel &uuml;ber die m&ouml;gliche Genese des Ulcus aussagen kann (z. B. Corona phlebectatica als typisches Zeichen der chronisch-ven&ouml;sen Insuffizienz [CVI]).<br /> <em>D &ndash; Durchblutung:</em> Bei jedem Ulkus sind initial auch die angiologische Basisdiagnostik, bestehend aus Pulsstatus und vergleichender Blutdruckmessung, wie auch die weiterf&uuml;hrende Abkl&auml;rung mit Duplexsonografie zwingend. In entsprechend komplexen F&auml;llen sollten auch eine Arterien- Doppler-Sonografie sowie eine Perfusionsindex- Messung durchgef&uuml;hrt werden.<br /> <em>E &ndash; Extras:</em> Abh&auml;ngig von der klinischen Problematik des Patienten bedarf es auch zus&auml;tzlicher Untersuchungen mit z. B. einer Laboranalyse, bildgebenden Verfahren, neurologischen, histopathologischen (wichtig ist ein Tumorausschluss!) und allergologischen Abkl&auml;rungen.</p> <h2>Der Weg zu einer ad&auml;quaten Lokaltherapie</h2> <p>Das Paradigma der modernen Wundbehandlung besteht nicht nur in der Verwendung moderner aktiver topischer Substanzen, sondern auch in deren wundphasengerechter Applikation. Dies bedeutet, dass, wie auch in der sonstigen Medizin, Therapiefehler stattfinden k&ouml;nnen, indem zum falschen Zeitpunkt der nicht ad&auml;quate Verband oder die nicht ad&auml;quate topische Therapie angewendet werden. Das Problem versch&auml;rft sich noch durch das riesige Angebot von Verb&auml;nden (vom Alginat zu Hydrokolloiden und antimikrobiellen Verb&auml;nden), Cremen und Gelen (vom Hydrogel zu Alginoenzymen und freien Radikalen) bis hin zu physikalischen Vorrichtungen wie z. B. dem Kaltplasma.<br /> Um nun die richtige Wundphase und das wesentliche Hindernis, warum die Wunde nicht heilt, erkennen zu k&ouml;nnen, bedarf es einer standardisierten Beurteilungsmethode. In den letzten 10 Jahren wurde hierzu das T. I. M. E.-Konzept als State of the Art anerkannt und entsprechend in der Routinebehandlung von chronischen Wunden verwendet. Wir aber propagieren den Ersatz des T. I. M. E.-Konzepts durch das modernere M. O. I. S. T.-Konzept, welches breiter aufgestellt ist und wesentliche Vorteile f&uuml;r das Management der chronischen Wunde bietet. Tabelle 1 bietet eine &Uuml;bersicht.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Derma_1902_Weblinks_jatros_derma_1902_s52_tab1_strohal.jpg" alt="" width="350" height="564" /></p> <h2>Das T. I. M. E.-Konzept</h2> <p><em>T &ndash; &bdquo;Tissue&ldquo; (Wundbett):</em> Dieser Punkt besch&auml;ftigt sich vor allem mit dem Thema des Wundgrunds. Dieser kann bland, aber auch blutig sein. Findet sich ein belegter Wundgrund, z. B. durch Fibrin, matschig abgestorbenes Gewebe, Biofilm oder sogar Nekrosen, so stellt dies eine Indikation f&uuml;r ein Debridement, also eine tiefe Wundreinigung, dar. Daneben sagt die Gewebeart des Wundgrunds aber auch etwas &uuml;ber die Heilungstendenz des Ulkus aus. Bekanntlich heilt ein Ulkus durch Ausbildung von Granulationsgewebe &uuml;ber Epithelgewebe bis zur Narbenbildung. <br /><em>I &ndash; Infektion:</em> Bei der Wundinfektion gilt es, die lokale Infektion von der systemischen Infektion zu unterscheiden. Typischerweise geht die systemische Infektion mit den Zeichen Dolor, Rubor, Calor und &Ouml;dem einher und ist im Labor mit einer Leukozytose bzw. einer Erh&ouml;hung der Akutphasenproteine assoziiert. Fieber kann vorhanden sein, muss aber nicht. Demgegen&uuml;ber ist die kritisch kolonisierte und lokal infizierte Wunde zu definieren, die durch eine hohe Keimzahl (&ge; 10<sup>6</sup> oder ++ positiv) mit aktivem Wachstum gekennzeichnet ist. Die Wunde selbst zeichnet sich durch ein vermehrtes Exsudat, hochrotes fragiles Granulationsgewebe und eine verz&ouml;gerte Heilung aus. Typisch ist auch das pl&ouml;tzliche Auftreten von starken Schmerzen. Beide Formen der Infektion, systemisch wie lokal, sind unterschiedlich zu behandeln. Ein wesentlicher Grundsatz ist das Vermeiden systemischer Antibiotika bei lokal infizierten Wunden. <br /><em>M &ndash; &bdquo;Moisture&ldquo; (Exsudat):</em> Nicht nur dass eine Wunde trocken oder durch Exsudat feucht sein kann, verschiedene Formen des Exsudats k&ouml;nnen auch auf unterschiedliche Wundursachen hindeuten, was eine wichtige Information f&uuml;r den behandelnden Arzt oder die Pflege darstellt. <br /><em>E &ndash; &bdquo;Edge&ldquo; (Wundrand):</em> Bekannterweise heilt die Wunde durch Aussprie&szlig;en von Gewebe vom Rand her. Instabile, zusammengebrochene, aber auch matschig mazerierte R&auml;nder k&ouml;nnen diese Leistung unm&ouml;glich erbringen, weshalb es hier entsprechend therapeutisch entgegenzuwirken gilt.</p> <h2>Das M. O. I. S. T.-Konzept</h2> <p><em>M &ndash; &bdquo;Moisture balance&ldquo; (Exsudatmanagement):</em> Wie der Name schon sagt, legt dieser Parameter eine aktive Intervention zur Herstellung eines optimalen Feuchtigkeitsmilieus nahe. So sollten bei trockenen Wunden z. B. Hydrogele verwendet werden, w&auml;hrend bei feuchten Wunden z. B. Alginate oder Superabsorber (alles nur Beispiele einer sehr gro&szlig;en Produktpalette) Anwendung finden.<br /> <em>O &ndash; Management der Sauerstoffbalance:</em> Es ist eine Tatsache, dass in der Wunde oftmals der Sauerstoffgehalt vermindert ist, was als ein Faktor der Wundheilungsst&ouml;rung angesehen wird. Hier ist es m&ouml;glich, durch zyklisch hochkomprimierten Sauerstoff oder eine andauernde Zufuhr von nicht komprimiertem Sauerstoff entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang sei erw&auml;hnt, dass es auch ein sauerstofftransportierendes Produkt f&uuml;r die Wunde gibt.<br /> <em>I &ndash; Infektionskontrolle:</em> Auch hier steht die Kontrolle der Problematik im Vordergrund, welcher mit antiseptischen Reinigungs- und Sp&uuml;ll&ouml;sungen oft in Kombination mit antimikrobiellen Verb&auml;nden entgegengewirkt wird.<br /> <em>S &ndash; &bdquo;Support&ldquo; (Unterst&uuml;tzung):</em> Wichtig sind auch unterst&uuml;tzende Ma&szlig;nahmen zur Wundbehandlung. Ein Klassiker dabei ist die Kompression, welche beim ven&ouml;sen Ulkus (ohne arterielle Komponente) zwingend dazugeh&ouml;rt. Leider wird sie oft vergessen, sodass die besten Lokaltherapien ohne Kompression beim ven&ouml;sen Ulkus ganz einfach nicht zur Heilung f&uuml;hren k&ouml;nnen.<br /> <em>T &ndash; Gewebsmanagement:</em> Wie schon gesagt, heilt die Wunde vor allem &uuml;ber die Randbereiche, wobei sich dann Gewebe &uuml;ber die Wundfl&auml;che zieht. Dies ist nicht m&ouml;glich, wenn die Wunde durch nicht erw&uuml;nschtes Fremdgewebe (z. B. Nekrosen) belegt ist. Hier gilt es, ein entsprechendes D&eacute;bridement, also eine Tiefenreinigung der Wunde, durchzuf&uuml;hren. Das Angebot an D&eacute;bridements ist breit. F&uuml;r die Auswahl sei auf eine von mir als Autor angef&uuml;hrte Publikation der europ&auml;ischen Wundheilungsgesellschaft EWMA verwiesen.<sup>2</sup></p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Zum ad&auml;quaten Management von chronischen Wunden, das letztendlich zu einer erfolgreichen Abheilung f&uuml;hren soll, geh&ouml;rt zwingend die Anwendung der A. B. C. D. E.- Regel, welche zur kausalen Basistherapie der chronischen Wunde f&uuml;hrt. Anschlie&szlig;end gilt es, zur Identifizierung der regelrechten wundphasenadaptierten Lokaltherapie das T. I. M. E.- oder M. O. I. S. T.-Konzept anzuwenden. Wir empfehlen den Ersatz des althergebrachten T. I. M. E.-Konzepts durch das M. O. I. S. T.-Konzept, da dieses nicht nur die Wundphase bzw. die Situation der Wunde beschreibt, sondern dar&uuml;ber hinaus auch proaktiv eine spezielle Intervention empfiehlt. Das macht das M. O. I. S. T.-Konzept unserer Meinung nach zur neuen State-of-the-Art-Beurteilung chronischer Wunden.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Dissemond J et al.: M. O. I. S. T. &ndash; ein Konzept f&uuml;r die Lokaltherapie chronischer Wunden. J Dtsch Dermatol Ges 2017; 15(4): 443-5 <strong>2</strong> Strohal R et al.: EWMA document: Debridement. An updated overview and clarification of the principle role of debridement. J Wound Care 2013; 22(1): 5</p> </div> </p>
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