Gangverbesserung durch Elektrostimulation nach Knietotalendoprothese
Autor:innen:
Katharina Brunner, MSc, BA1
Univ.-Prof. Mag. Dr. Markus Tilp2
Markus Wruntschko, MSc3
Prim. Mag. Dr. Gregor Kienbacher,MSc4
1 Universität Graz, Masterstudium Sport- und Bewegungswissenschaften
2 Institut für Bewegungswissenschaften, Sport und Gesundheit, Universität Graz
3 Leiter Labor für Biomechanik, Gang- und Bewegungsanalyse, Klinikum für Orthopädie und orthopädische Rehabilitation Frohnleiten
4 Klinikum für Orthopädie und orthopädische Rehabilitation Frohnleiten
E-Mail: kienbacher@theresienhof.at
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Die Herstellung eines symmetrischen Gangbilds sowie die Verbesserung der kinetischen und kinematischen Gangparameter im Gangzyklus stellen das Hauptaugenmerk in der Behandlung von Patient:innen mit Knieprothesen dar. In einer Interventionsstudie wurde in diesem Zusammenhang der Einfluss einer funktionellenElektrostimulationsorthese bei Patient:innen mit primärer Knietotalendoprothese (K-TEP) untersucht.
Keypoints
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Eine Therapie mit funktioneller Elektrostimulationsorthese konnte die Kniestreckung im initialen Fersenkontakt beim Gehen nach einer Knietotalendoprothese (K-TEP) signifikant verbessern.
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Die vertikale Bodenreaktionskraft in der frühen Standphase erhöhte sich in der Interventionsgruppe, was auf eine stabilere Belastungsübernahme hindeutet.
Hintergrund
Die Kniegelenksendoprothetik hat in den letzten 15 Jahren einen enormen Wandel vollzogen, sodass sichdie Aufenthaltsdauer von Patient:innen in chirurgischen Kliniken zunehmend verkürzt. Rapid-Recovery-Protokolle mit dem Ziel, eine schmerz- und risikofreie Operation zu ermöglichen und den Heilungsverlauf durch nachgeschaltete individualisierte Rehabilitationsprogramme zu beschleunigen, setzen sich zunehmend in der klinischen Praxis durch.
Die orthopädische Rehabilitation mit medizinischem Fokus auf Schmerztherapie, Patientenedukation, Mobilität, Belastbarkeit, Kraftausdauer, Kraftentwicklung, Koordination in Verbindung mit Beweglichkeit sollte daher postoperativ frühestmöglich begonnen werden, um eine Progredienz muskulärer bzw. funktioneller Defizite durch eine prolongierte Immobilität zu verhindern. Im Laufe der Zeit haben sich zudem die Messkriterien für eine erfolgreiche Operation verändert. So liegt das Hauptaugenmerk auf der Phase der Belastungsübernahme und den dafür notwendigen koordinativen Fähigkeiten. Bei Gelenksersatzoperationen, speziell nach degenerativen Veränderungen, können automatisierte Arthrosemuster oft sehr lange bestehen bleiben. Sie sind nur mit speziellen apparativ gestützten Therapiesystemen nachhaltig in ein symmetrisches postoperatives Muster umzuwandeln. Dies bedeutet einen hohen Anspruch an das motorische Lernen.
Funktionelle Abweichungen kinetischer und kinematischer Parameter nach K-TEP
Der Kniewinkelverlauf, der während des Bodenkontakts im physiologischen Normalfall durch eine wellenförmig ausgeprägte Flexions-Extensions-Bewegung gekennzeichnet ist, stellt sich postoperativ sehr häufig als eingeschränkt dar. Derartige Defizite können bei inadäquater Behandlung auch noch zwei Jahre nach einer Operation gemessen werden. Die Phase der Lastübernahme ist hierbei von zentraler Bedeutung, da in diesem Abschnitt des Gangzyklus essenzielle Funktionen wie die Stoßdämpfung, die Stabilisierung des Beins und das Fortführen der Gehbewegung realisiert werden. Aber auch biomechanische Parameter, wie z.B. ein Streckdefizit von 15°, resultieren in eine vermehrte Kniebeugung in der Phase des initialen Fersenaufsatzes. Dadurch erhöht sich der Patella-Anpressdruck und es kommt zu einer Schiefstellung des Beckens mit pathologischen Belastungsspitzen auf die Wirbelsäule. Ein sehr vorsichtiger Fußaufsatz in der Phase des initialen Fersenkontakts („initial contact“; IC), der in der Regel in annähernd vollständiger Kniegelenksstreckung durchgeführt wird, deutet auf Unsicherheit, eine insuffiziente koordinierte muskuläre Ansteuerung und mangelndes Selbstvertrauen in dieser äußerst wichtigen Belastungsphase des Gangs hin. Oft wird das betroffene Kniegelenk sogar im Sinne einer Hyperextension überstreckt. Dieses Muster ist nicht nur sehr schmerzhaft, sondern führt auch zu ungewollten Belastungsspitzen an den Implantaten und periartikulären Strukturen. Bei frühpostoperativen Patient:innen wird hier gerade einmal die normale Gewichtskraft des Körpergewichts gemessen, normalerweise ist diese jedoch durch die Dynamik beim Gehen deutlich höher als das Eigengewicht.
In der Phase der Belastungsantwort unmittelbar nach dem Fersenaufsatz, der sogenannten „loading response phase“ (LR), zeigen Patient:innen oft eine insuffiziente Knieflexion oder verbleiben sogar in einer Hyperextension. Diese Phase ist daher von enormer Bedeutung, um die Gewichtskraft im Kniegelenk zu dämpfen. In der Regel zeigen sich über den gesamten Bodenkontakt hinweg (Standbeinphase) nahezu unverändert pathologische Kniewinkel. Das Kniegelenk wird hier nahezu in Streckung fixiert – ein Phänomen, das wir vom amuskulären Stand her kennen. Ursachen dafür liegen in der Regel in der Einnahme einer anhaltenden Schonhaltung und deuten auf propriozeptive und Kraftdefizite hin. Die vertikalen Bodenreaktionskräfte hingegen repräsentieren die Gesamtaktivität des Bewegungsapparats in der Dynamik über dem jeweiligen Bein in der Standbeinphase.
Bei allen Patient:innen mit Knieprothese kann v.a. frühpostoperativ ein signifikant reduziertes Kraftmaximum der vertikalen Bodenreaktionskräfte speziell in der „loading response phase“ als Zeichen einer verminderten Dynamik gemessen werden.
Funktionelle Elektrostimulation als Trainingstool in der Rehabilitation
Ein Ansatz zur Verbesserung der postoperativen Rehabilitation mit Fokus auf dem Gangbild stellt die funktionelle Elektrostimulation (FES) dar. Die FES ist eine Methode, bei der Muskeln mit elektrischen Impulsen gangphasenabhängig stimuliert werden, um funktionelle Bewegungen zu erzeugen. Diese Technologie hat sich bereits bei Patient:innen mit Rückenmarksverletzungen oder Zerebralparese bewährt. In unserer Studie wurde eine funktionelle Elektrostimulationsorthese für den Oberschenkel zur Stimulation des M. quadriceps femoris verwendet. Der Einsatz von FES in der orthopädischen Rehabilitation, insbesondere nach einer K-TEP, und deren Auswirkung hinsichtlich der Kniegelenkstreckung sind jedoch noch wenig untersucht.
Das Ziel dieser Studie lag darin, den Einfluss der elektrostimulierenden Oberschenkelorthese auf das Gangbild und die Muskelaktivität von K-TEP-Patient:innen während einer dreiwöchigen stationären orthopädischen Rehabilitation zu untersuchen. Der Fokus wurde dabei auf die Gangphase des initialen Bodenkontakts sowie auf die Lastaufnahme gelegt.
Interventionsstudie mit 24 Patient:innen
Es wurde eine randomisierte, kontrollierte Interventionsstudie (n=24) im Ganglabor der Rehabilitationsklinik Theresienhof in Frohnleiten durchgeführt. Die teilnehmenden K-TEP-Patient:innen wurden randomisiert zwei Gruppen zugeordnet: einer Interventionsgruppe, die zusätzlich zur Standardtherapie die Oberschenkelorthese trug, und einer Kontrollgruppe, die an den Standardtherapien teilnahm. Die Patient:innen der Interventionsgruppe sollten die Orthese täglich etwa vier Stunden tragen, um den M. quadriceps gezielt beim Gehen zu stimulieren.
Zu Beginn und am Ende des dreiwöchigen Aufenthalts wurden Messungen im Ganglabor durchgeführt (Abb.1). Diese beinhalteten 3D-Videoaufnahmen des Gangbilds zur Erfassung der Gangparameter (Gehgeschwindigkeit, Schrittlänge, Doppelschrittlänge, Kadenz und Spurbreite) und des Kniewinkelverlaufs sowie die Messung der vertikalen Bodenreaktionskraft, die mit Kraftmessplatten erfasst wurde. Zudem wurde mittels Elektromyografie (EMG) die Muskelaktivität des M. tibialis anterior und des M. gastrocnemius lateralis gemessen. Zusätzlich wurde eine subjektive Perspektive der Patient:innen zur Schmerzsituation, Steifheit und Funktion des künstlichen Knies sowie zur Orthese mittels Fragebogen erfasst.
Abb. 1: Initialer Fersenkontakt (IC) und „loading response“ (LR) im Gangzyklus mit/ohne FES-Orthese und EMG
Die Daten wurden für einen Vergleich der Datenverläufe (Kniewinkel, vertikale Bodenreaktionskraft und EMG-Verläufe) in MATLAB mit dem Tool Statistical Parametric Mapping, kurz SPM, ausgewertet. Weitere Analysen wurden in IBM SPSS Statistics und Microsoft Excel durchgeführt. Die Ergebnisse wurden mit (teils gepaarten) t-Tests verglichen, um signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen, den Messzeitpunkten sowie zwischen dem operierten und dem nicht operierten Knie zu identifizieren.
Studienergebnisse
Beide Gruppen zeigten eine Verbesserung der Gangparameter wie Schrittlänge, Doppelschrittlänge, Geschwindigkeit und Kadenz, was den generellen Erfolg des Rehabilitationsaufenthalts aufzeigte. Darüber hinaus konnte in der Interventionsgruppe eine signifikante Verbesserung bis hin zu einer Normalisierung der Kniestreckung in der Phase der initialen Lastaufnahme (IC) verglichen mit der Kontrollgruppe gemessen werden. Dies hatte auch Konsequenzen für die vertikale Bodenreaktionskraft in der Phase der Lastaufnahme und im Übergangsbereich zur mittleren Standphase des Gangzyklus.
Wir konnten eine signifikante Erhöhung der vertikalen Bodenreaktionskraft in der Interventionsgruppe messen. Es kam auch zu einem Angleichen der Bodenreaktionskräfte zwischen dem operierten und dem nicht operierten Bein (Abb. 2) und somit zu einer verbesserten Gangsymmetrie. Die EMG-Daten zeigten keine signifikanten Unterschiede in der Muskelaktivität zwischen den Gruppen oder innerhalb der Gruppen über die Zeit. Darüber hinaus berichteten die Patient:innen der Interventionsgruppe von einer signifikanten Verbesserung in den Bereichen Schmerz, Steifheit und Funktion.
Abb. 2: Bereiche A zeigen jeweils die mittleren Bodenreaktionskräfte (orange: nicht operiert, grün: operiert) vor (links) und nach (rechts) einer dreiwöchigen funktionellen Elektrostimulation des M. quadriceps. Zu beachten ist die Annäherung der beiden Kurven am Ende der Intervention (siehe Kreise). Bereiche B zeigen jeweils die t-Statistik mit den grau schattierten Flächen der SPM-Analyse, welche die signifikanten Unterschiede zwischen den Beinen und deren Verringerung durch die Intervention verdeutlichen
Diskussion
Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Orthese das Gangbild hinsichtlich des Kniewinkelverlaufs und der vertikalen Bodenreaktionskräfte positiv beeinflusst, während jedoch keine signifikanten Effekte auf die Muskelaktivität festgestellt wurden. Eine eingeschränkte Kniestreckung – vor allem während der Lastaufnahme im IC und in der terminalen Standphase nach einer K-TEP – wird häufig beschrieben und steht in signifikantem Zusammenhang mit einem niedrigeren Oxford-Knee-Score (OKS), welcher Schmerzen und die Funktionsfähigkeit des Knies erfasst.
Während sich in der Kontrollgruppe keine Verbesserung zeigte, näherte sich in der Interventionsgruppe die Kniestreckung auf der operierten Seite der Kniestreckung der nicht operierten Seite während der Lastaufnahme sowie in der terminalen Schwungphase an. Diesen Effekt führen wir auf die gezielte Stimulation des M. quadriceps, der für die Beinstreckung verantwortlich ist, durch die Orthese zurück. Die Annäherung der vertikalen Bodenreaktionskräfte zwischen operierter und nicht operierter Seite in der Interventionsgruppe deutet darauf hin, dass die Orthese die Stabilität beim Gehen positiv beeinflusste, da die Gangsymmetrie erhöht wurde. Die allgemeine Verbesserung der Gangparameter in beiden Gruppen ist auf die gesamte Rehabilitation zurückzuführen, ohne dass die Orthese hierbei einen zusätzlichen Effekt hatte.
Der Einsatz dieser Technologie stellt eine wertvolle Ergänzung in der Rehabilitation nach Knietotalendoprothesen dar. Weitere Studien sind erforderlich, um die Ergebnisse zu bestätigen und den langfristigen Effekt sowie die Wirkung von FES auf die Muskelaktivität und das Gangbild genauer zu untersuchen und zu verstehen. Unsere Daten zeigen auch, dass eine frühzeitige, intensivierte, multidisziplinäre Rehabilitation postoperativ vorteilhaft in Bezug auf schnellere Genesung und Verbesserung funktioneller Parameter nach endoprothetischer Gelenkversorgung ist. Die Synergie zwischen minimalinvasiver Chirurgie und interdisziplinärer Rehabilitation komplettiert das medizinische Ergebnis.
Literatur:
bei den Verfasser:innen
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