
Sexualität in der Palliativmedizin – ein dreifaches Tabu
Autorin:
Mag. Sonja Dalfen
Klinische und Gesundheitspsychologin
Psychoonkologin (DKG)
Fachdienst für Psychische Gesundheit
Hanusch-Krankenhaus, Wien
E-Mail: sonja.dalfen@oegk.at
Als wäre es nicht genug, nur über ein Tabuthema, nämlich Sexualität, zu schreiben, liegen mit dem Wort „palliativ“ in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung gleich noch zwei weitere Tabuthemen auf dem Tisch. Somit geht es hier um ein dreifaches Tabu: Sexualität – Krebs – Tod.
Keypoints
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Palliative Phasen werden länger, was für Betroffene erfreulich und beruhigend ist, aber wir dürfen dabei nicht übersehen, was der Preis dafür ist. Die Lebensqualität und damit auch die Sexualität werden erheblich beeinträchtigt.
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Es liegt an uns, Mediziner*innen und Psychoonkolog*innen, Sexualität zum Thema zu machen, damit Betroffene die Erlaubnis bekommen, darüber zu reden.
Die Diagnose „Krebs“ mit all ihren Assoziationen macht massive Angst und der eigene Tod rückt gedanklich sehr nahe, wie Patient*innen erzählen, selbst wenn die Prognose gut ist. Das Thema Sexualität rückt erst einmal weit nach hinten. Therapien, die die Erkrankung behandeln und im besten Fall heilen sollen, sind für Patient*innen physisch und psychisch anstrengend und führen zu Veränderungen des Körperbildes. Mit einem Körper Lust zu erleben, der mehr der Medizin als der betroffenen Person gehört, ist für viele nicht vorstellbar.
Selbst wenn eine Krebserkrankung geheilt werden kann, braucht es je nach Therapie viel Zeit und Geduld, Sexualität wieder befriedigend erleben zu können. Es ist oft notwendig, neue Wege in der gemeinsamen Sexualität zu entdecken, weil sich körperliche Bedingungen verändert haben.
Mit dem Eintritt in die palliative Phase einer Erkrankung ist klar, dass sich der gesundheitliche Zustand auf lange Sicht verschlechtern wird. Der medizinische Fortschritt macht es möglich, dass die palliative Phase einer Erkrankung immer länger wird und viele Lebensmonate und Jahre dadurch gewonnen werden können. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass die Verlängerung des Lebens gravierende Auswirkungen auf die physische und psychische Lebensqualität und damit auch gravierende Auswirkungen auf die Sexualität hat.
Herausforderungen in der Paarbeziehung
Die Auswirkungen beziehen sich auf die Sexualität von Patient*innen selbst, und wenn sie in Partnerschaft leben, auch auf das gemeinsame Sexualleben, also auch auf die Sexualität ihrer Partner*innen. In eine Paarbeziehung gibt es zwei oder drei Ebenen:
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die Freundschafts-/Teamebene,
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die Ebene der Geliebten und,
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wenn es Kinder gibt, die Ebene der Eltern.
Die Gewichtung dieser Ebenen ist je nach Lebensphase unterschiedlich stark ausgeprägt. Es kann nur dann zu Intimität, Sexualität, Sex kommen, wenn beide Seiten zustimmen. Stimmt eine Seite nicht zu und kommuniziert ein „Nein“, ist keine Sexualität möglich, sonst wäre hier die Rede von Gewalt. Die Person, die „Nein“ sagt, bestimmt damit in der Partnerschaft, dass Intimität nicht möglich ist. Sexualität kann in einer Paarbeziehung aber eine sehr wichtige Ressource sein. Was passiert und was verändert sich, wenn diese Ressource auf einmal wegfällt?
Die Ebene der Geliebten verändert sich ab der Metastasierung sehr stark und muss immer wieder neu verhandelt werden, was ein Gespräch miteinander notwendig macht. Es geht darum zu klären: Welche Bedürfnisse habe ich als Patient*in, welche hast du als Partner*in?
Ein Gespräch über Sexualität ist für viele in der Partnerschaft von vornherein schwer. Das Sexualleben hat über Jahre vielleicht gut funktioniert, die gemeinsame Sexualität war „gut eingespielt“ und ohne viel Aufwand wurden Lust, Befriedigung und Spaß miteinander erlebt. Und das, obwohl möglicherweise nicht viel darüber gesprochen wurde. Mit der Diagnose Krebs und dem Tod, der früher als erwartet eintreten wird, sehen sich Paare oft hilflos im Schatten des dreifachen Tabus. Das kann bedeuten, dass es bei beiden zu einem leisen Rückzug aus der Sexualität kommt, aber nach außen alles harmonisch zu sein scheint.
Durch verschiedene Therapien, die Krebszellen in Schach halten sollen, kommt es zu einem oft abrupten Libidoverlust, dem Gefühl, nicht begehrenswert zu sein, zu Potenzproblemen, trockenen Schleimhäuten und Schamgefühlen wegen der körperlichen Veränderungen. Mit dem medizinisch behandelten Körper Lust zu empfinden und Sex zu haben ist für viele nicht vorstellbar, aber die Sehnsucht nach Sexualität im Sinne von körperlicher Nähe, Kuscheln, Geborgenheit und Zärtlichkeiten ist oft da. Liebevolle Gesten der gesunden Partner*innen können missverstanden werden, indem diese wie eine Aufforderung nach mehr Intimität verstanden werden, was den/die andere*n zurückschrecken lässt. Diese Reaktionen können, wenn nicht darüber gesprochen wird, zu mehr Verunsicherung und damit einer unangenehmen Distanz zwischen den Partner*innen führen, womit gar keine körperliche Nähe mehr möglich ist.
Das Thema Sexualität aktiv von professioneller Seite aus ansprechen
Patient*innen sprechen von sich aus Sexualität bei ihren behandelnden Mediziner*innen und Psychoonkolog*innen sehr selten an, auch wenn sie viele Themen beschäftigen, die in einem Gespräch rasch geklärt werden können. Fragen wie: „Ist Sex trotz Chemotherapie möglich? Schade ich meiner oder meinem Sexualpartner*in damit? Werde ich nach der OP oder wegen der Chemotherapie Erektionsprobleme haben?“ beschäftigen Patient*innen. Es werden Veränderungen beobachtet (Erektionsprobleme, Impotenz, Trockenheit im Genitalbereich und dadurch Schmerzen beim Sex, Libidoverlust), es wird aber nicht aktiv nachgefragt, weil Betroffene glauben, dass diese Probleme moralisch keinen Platz haben dürfen, denn immerhin ginge es bei ihnen ja um etwas viel Wichtigeres, nämlich um ihr Leben.
Alleine dass das Thema Sexualität von professioneller Seite erwähnt wird, gibt Patient*innen die Erlaubnis, darüber zu reden.
Patient*innen kommen regelmäßig zu Untersuchungen und Therapieplanungen und haben Kontakt mit Mediziner*innen, die mit ihnen über ihre Erkrankung sprechen. In einem aufklärenden Gespräch über eine Therapie (OP, Chemotherapie, antihormonelle Therapie) kann von medizinischer Seite erklärt werden, welche Probleme im Intimbereich auftreten können und was man dagegen tun kann. Für Patient*innen kann es dann auch eine gute Gelegenheit sein, Sexualität zu Hause anzusprechen, indem sie mitteilen, was ihnen der Arzt oder die Ärztin im Krankenhaus darüber erzählt hat.
Ein Gespräch von ärztlicher Seite über Sexualität bedeutet nicht, dass es dabei um die Auseinandersetzung mit sexuellen Störungen geht. Es ist normal, dass mit Therapien, die Krebszellen in Schach halten sollen, Probleme in der Sexualität auftreten. Da eine palliative Phase über viele Monate bis Jahre bestehen kann und Sexualität eine wichtige Ressource ist, braucht das Thema im Gespräch seinen Platz.
Ängste und Depressionen treten in Palliativsitationen häufig auf
Veränderungen des Körperbildes und der Körperwahrnehmung belasten Patient*innen psychisch schwer. Ängste, depressive Verstimmungen, Schlafstörungen, Erschöpfung, Ärger, Verzweiflung und Traurigkeit führen zu einem Libidoverlust und beeinträchtigen die Lebensqualität insgesamt enorm. Es sollte in der Palliativphase immer an eine medikamentöse antidepressive Einstellung gedacht werden, um die Stimmung zu verbessern. Angst, depressive Verstimmung und Traurigkeit können so stark im Vordergrund sein, dass es für viele Patient*innen unmöglich ist, Freude zu erleben und die Bereiche des Lebens wahrzunehmen, die noch gut funktionieren. Wenn es gelingt, die Krankheit auch nur für kurze Zeit immer wieder gedanklich auf die Seite zu stellen, um eine gewisse Normalität zu leben, dann ist es auch wieder möglich, die schönen Seiten des Lebens und die Nähe miteinander zu genießen.
Auch Partner*innen können von Begleitung profitieren
Aufgabe Klinischer Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen ist es, nachzufragen, ob sich etwas in der Sexualität verändert hat. Immer wieder taucht die Angst auf, dass der gesunde Teil des Paares jemanden kennenlernen und sich von diesem das holen könnte, was ihm/ihr fehlt. Für manche Patient*innen ist das Thema abgeschlossen, aber dann bleibt die Frage, wie es dem oder der Partner*in damit geht, dass Sexualität kein Thema mehr ist.
Da bei der Erkrankung einer Person auch deren Partner*in betroffen ist, werden Angehörigengespräche angeboten, in denen auch angesprochen wird, ob sich bei ihnen etwas in der Sexualität verändert hat und wie sie mit eventuellen Veränderungen zurechtkommen. Gesunde Partner*innen können einen sehr starken Wunsch nach Sex, Erotik und Lust haben, was ihnen in Anbetracht des verfrühten Lebensendes des Partners oder der Partner*in völlig unpassend erscheint. Scham und Schuldgefühle sind dann oft die Folge und so kann es sehr entlastend sein, wenn sie darüber sprechen dürfen.
Alternativen zum gemeinsamen Sex mit dem/der Partner*in
Wenn kein Sex mehr miteinander möglich, aber der Wunsch danach da ist, können beide ermutigt werden, darüber zu reden und gemeinsam zu überlegen, was möglich sein könnte, um Intimität miteinander zu genießen: Wenn aufgrund von Erektionsproblemen und Libidoverlust kein Geschlechtsverkehr möglich ist, darf es dann in Ordnung sein, wenn Vibratoren und Sextoys verwendet werden, um dem Bedürfnis nach Lust und Erotik nachzukommen? Ist es in Ordnung, wenn sich der oder die gesunde Partner*in sich selbstbefriedigt, nicht heimlich und schambesetzt und immer mit der Angst, ertappt zu werden? Ist es vielleicht möglich, dabei zu sein und dem oder der Partner*in in die Augen zu schauen, um die Nähe zu genießen, oder ist es möglich, ein Geschenk zu machen und ihn oder sie zu befriedigen?
Hinter vielen Alternativen wie auch Sex über das Internet oder gekauftem Sex steht die Frage, ob die eine oder andere Möglichkeit dem Patienten oder der Patient*in etwas wegnimmt oder es eventuell entlastend sein kann, zu wissen, dass der/die gesunde Partner*in die eigenen sexuellen Bedürfnisse und Erotik befriedigen kann, aber loyal bleibt und beide Sexualität und Intimität im Sinne von Kuscheln, körperlicher Nähe und Zärtlichkeiten miteinander genießen können. Wenn es Paare schaffen, über ihre Gefühle und ihre Bedürfnisse zu reden, kann das ihre Beziehung vertiefen und mehr Nähe bringen.
Individuelle Lösungsansätze finden
Das Wissen um den verfrühten Tod und den bevorstehenden Abschied vom Partner oder der Partner*in macht tief traurig, sodass es auch viel zu weh tun kann, große Nähe oder Intimität zuzulassen. Das gilt für beide Seiten. Die Trauer über den Verlust von Sexualität, einem lebendigen Teil des Lebens, soll in psychoonkologischen Gesprächen ausreichend Platz haben.
So unterschiedlich wie wir Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Wünsche, was die Sexualität betrifft. Man kann nicht voraussagen, wie sehr eine Krebserkrankung Auswirkungen auf die persönliche Sexualität hat. Es braucht individuelle Lösungsansätze und dazu muss man sich trauen, das Thema anzusprechen, unabhängig vom Lebensalter und unabhängig, ob die betroffene Person in einer Partnerschaft lebt oder Single ist.
Literatur:
bei der Verfasserin