
Psychosoziale Belastungen und Krankheitsverarbeitung
Autor:
Prof. Dr. Joachim Weis
Comprehensive Cancer Center Freiburg Stiftungsprofessur für Selbsthilfeforschung
Universitätsklinikum Freiburg
Das Erkennen von psychosozialen Belastungen und das Verstehen der Krankheitsverarbeitungsprozesse bei Krebspatient*innen sind eine wichtige Grundlage für eine patient*innenzentrierte Behandlung. Für die Planung psychoonkologischer Unterstützungsangebote ist die systematische Erfassung psychosozialer Belastungen Grundlage für eine individualisierte Versorgungsplanung.
Keypoints
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Psychische Belastungen sind bei Krebspatient*innen häufig und entstehen aufgrund vielfältiger Ursachen.
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Die psychische Verarbeitung dieser Belastungen ist ein intrapsychischer Regulationsprozess, der durch die Interaktion mit Partner*in und Familie und durch das soziale Umfeld beeinflusst wird.
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Psychische Belastungen bei Krebspatient*innen sollen systematisch und individuell erfasst werden, um geeignete psychoonkologische Hilfen anbieten zu können.
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Ein Screening der Belastungen soll mit kurzen standardisierten Instrumenten möglichst frühzeitig von Beginn der Diagnostik und Behandlung sowie kontinuierlich in geeigneten Intervallen (z.B. Remission, Rezidiv, Progress) erfasst werden.
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In Ergänzung zum Screening soll der Wunsch der Patient*innen nach psychoonkologischer Unterstützung erfasst werden (Bedarfserfassung).
Psychosoziale Problemlagen bei onkologischen Patient*innen
Infolge einer Krebserkrankung und deren Behandlung können vielfältige psychosoziale Belastungen und funktionelle Störungen bei den betroffenen Patient*innen auftreten, die zur Beeinträchtigung der emotionalen Befindlichkeit und zu Selbstwert- oder Identitätsproblemen führen.
Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern auch auf die Partnerschaft, die Familie oder andere nahestehende Personen. Zentrale Probleme entstehen zumeist durch Rollenveränderungen oder durch Schwierigkeiten, offen über die Krankheit und deren Folgen zu kommunizieren.
Es wird heute davon ausgegangen, dass ca. 40–60% aller onkologischen Patient*innen unter hohen psychischen Belastungen leiden.1 Darüber hinaus zeigen epidemiologische Schätzungen, dass etwa 20–50% aller Krebspatient*innen psychische Befindlichkeitsstörungen im Sinne einer psychischen Erkrankung entwickeln, insbesondere Anpassungsstörungen, Angststörungen und Depression. Auf die Thematik der psychischen Komorbidität wird jedoch in diesem Artikel nicht weiter eingegangen.
Die psychosozialen Belastungen, häufig wird hierfür auch der englische Begriff „Distress“ verwendet, lassen sich in folgende Bereiche unterteilen:2
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Emotionale Belastungen: Ängste, Depression, Aggression, Hoffnungslosigkeit, Sinnverlust, Selbstwert- und Identitätsprobleme etc.
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Probleme in Partnerschaft und Familie: Kommunikations- und Beziehungsprobleme, Rollenveränderungen, Probleme in der Sexualität etc.
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Berufliche Probleme: Einschränkung und Veränderung der beruflichen Situation, Frühberentung etc.
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Soziale Probleme: Isolation, Unsicherheit im Umgang mit Freunden und Bekannten, Veränderung von Freizeitverhalten etc.
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Funktionsstörungen: Fatigue, kognitive Leistungseinschränkungen, Schmerzen etc.
Psychische Verarbeitung der Belastungen
Unter dem Konzept der Krankheitsverarbeitung werden alle psychischen Regulationsprozesse verstanden, die dazu dienen, die durch die Krankheit bedingten Belastungen und Beeinträchtigungen der seelischen sowie körperlichen Befindlichkeit zu bewältigen.
Die Verarbeitung erfolgt über subjektive Wahrnehmung, emotionales Erleben und kognitive Bewertungsprozesse, die das Handeln direkt oder indirekt beeinflussen. Auf der Basis der sozialen Stresstheorie entwickelten Lazarus und Folkman eine transaktionale Theorie der Krankheitsverarbeitung, auf die sich alle neueren Ansätze beziehen. Zentrale Aspekte sind hierbei die subjektive Bewertung der Schwere der Belastungen durch das Individuum sowie die Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, diese Belastungen bewältigen zu können.3
Es wird davon ausgegangen, dass Krankheitsverarbeitung ein kontinuierlicher Prozess ist, in dem die Auseinandersetzung mit den Belastungen auf den Ebenen des Denkens, Fühlens und Handelns erfolgt und durch permanente Bewertungsprozesse geleitet wird. Die Begriffe Krankheitsverarbeitung und Krankheitsbewältigung werden in der Literatur weitgehend synonym verwendet, wobei der englischsprachige Ausdruck „Coping“ die Bewältigung belastender Ereignisse allgemein bezeichnet.
Emotional ausgerichtete Verarbeitungsstrategien sind durch unbewusste Abwehrvorgänge sowie vorbewusste oder bewusste emotionale Haltungen gegenüber der Erkrankung gekennzeichnet. Demgegenüber beziehen sich kognitive Verarbeitungsstrategien auf das gesamte Spektrum der rationalen Verarbeitungsmechanismen, wie beispielsweise der Krankheit einen Sinn zu geben. Handlungsbezogene Strategien umfassen alle Verhaltensweisen als Reaktionen auf die Erkrankung, wie beispielsweise ablenkendes Zupacken oder aktives Vermeiden.
Vor allem die kognitiven und emotionalen Verarbeitungsstrategien sind oft sehr schwer gegeneinander abzugrenzen. Hierbei ist zu beachten, dass Krankheitsverarbeitung nicht nur einen individuellen Regulationsprozess darstellt, sondern durch die Interaktion mit dem sozialen Umfeld insbesondere die Partnerschaft, die Familie und nahestehende Personen mitbeeinflusst werden.
Patient*innen nutzen ein breites Spektrum von Strategien, teils konsekutiv, teils aber auch gleichzeitig. Abwehr und Verdrängung können kurzfristig adaptiv sein, langfristig sind diese Strategien jedoch nur wenig geeignet für eine Anpassung. In der Krankheitsverarbeitung zeigen sich auch Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen suchen eher den Austausch, die soziale Unterstützung und emotionale Entlastung durch Gespräche, Männer tendieren eher zu sachlichen Informationen, versuchen negative Gefühle eher zu kontrollieren oder zu unterdrücken oder sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollen durch konkretes Handeln die Stabilität wiederherstellen.
Psychoonkologische Interventionen zielen darauf ab, eine aktive und zielorientierte Krankheitsverarbeitung zu fördern und die Patient*innen auf ihrem individuellen Weg zu unterstützen.
Die Bedeutung der Erfassung psychosozialer Belastungen
Mit dem Konzept der psychosozialen Belastungen (psychosozialer Distress) als sechstem Vitalzeichen wird ein breites Spektrum von belastenden Erfahrungen physischer, psychischer, sozialer oder existenzieller/spiritueller Art beschrieben, das im Sinne eines Kontinuums von normalen Gefühlen der Verletzlichkeit, Traurigkeit und Angst bis hin zu Depression und Angststörungen, sozialer Isolation und existenziellen Krisen reicht (Abb. 1).4
Das Konzept des Belastungskontinuums ist heute eine zentrale Grundlage psychoonkologischen Handelns und ist hilfreich, um eine vorschnelle und für Patient*innen oft stigmatisierende Psychiatrisierung zu verhindern.
In der psychoonkologischen Versorgung ist die Erfassung der individuellen Belastungen bei Krebspatient*innen durch geeignete Screening-Verfahren ein zentrales Anliegen und steht an erster Stelle der diagnostischen Abklärung.5 Hauptaufgabe der psychologischen Diagnostik in der Onkologie ist es, die Belastungen zu identifizieren, psychische Störungen und Folgeprobleme differenzialdiagnostisch abzuklären und den Bedarf an gezielter psychoonkologischer Behandlung und Betreuung festzustellen.
Entsprechend der Leitlinienempfehlung6 soll als erster Schritt ein Screening der psychosozialen Belastungen durchgeführt werden, um den Belastungsgrad zu identifizieren. Hierbei sollen validierte Verfahren wie z.B. das Distress-Thermometer7 eingesetzt werden (Tab. 1). Zur Abklärung von Angst und Depression sind die HADS8 oder PHQ99 bzw. GAD710 geeignet. Für die meisten Verfahren liegen Cut-off-Werte vor. Sofern der definierte Schwellenwert überschritten ist, wird eine weitere psychodiagnostische Abklärung empfohlen.
Aufgrund der engen somatopsychischen Wechselwirkungen müssen in der psychologischen Diagnostik von Krebspatient*innen die körperliche Erkrankung oder die Behandlungsfolgen (z.B. zerebrale Bestrahlung, neurotoxische Zytostatika, Kortison) in die Diagnostik einbezogen werden, damit körperliche Symptome wie z.B. Erschöpfung oder Antriebsschwäche nicht als Leitsymptome einer Depression fehlinterpretiert werden.
Ebenso ist neben der genauen Kenntnis der somatischen Befunde eine Abklärung möglicher psychischer bzw. psychosomatischer Vorerkrankungen von großer Bedeutung, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sie auch als mögliche Hinweise auf eine psychoonkologische Behandlungsbedürftigkeit anzusehen sind.
Literatur:
1 Mehnert A et al.: One in two cancer patients is significantly distressed: prevalence and indicators of distress. Psychooncology 2018; 27(1): 75-82 2 Weis J et al.: Krankheits- und behandlungsübergreifende psychosoziale Belastungen und Behandlungsbedarf. In: Mehnert A, Koch U (Hrsg.), Handbuch Psychoonkologie. Göttingen: Hogrefe, 2016; 133-40 3 Söllner W et al.: Laienätiologie und Krankheitsverarbeitung. In: Mehnert A, Koch U (Hrsg.). Handbuch Psychoonkologie. Göttingen: Hogrefe, 2016; 251-71 4 Watson M, Bultz BD: Distress, the 6th vital sign in cancer care. Psychooncology 2010; 4: 159-63 5 Lazenby M et al.: The five steps of comprehensive psychosocial distress screening. Curr Oncol Rep 2015; 17(5): 447 6 AWMF: S3 Leitlinie für die psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung erwachsener Krebspatienten (2014). Online unter www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/032-051OL.html . Abgerufen am 11.11.2022 7 Donovan KA et al.: Validation of the distress thermometer worldwide: state of the science. Psychooncology 2014; 23(3): 241-50 8 Herrmann-Lingen C et al.: Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version (HADS-D) Manual. Dritte Ausgabe. Bern: Huber, 2011 9 Löwe B et al.: Measuring depression outcome with a brief self-report instrument: sensitivity to change of the Patient Health Questionnaire (PHQ-9). J Affect Disord 2004; 81(1): 61-6 10 Spitzer RL et al.: A brief measure for assessing generalized anxiety disorder: the GAD-7. Arch Intern Med 2006; 166(10): 1092-7
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