
Palliative Care in Zeiten der Präzisionsmedizin
Klinik für Radio-Onkologie und Kompetenzzentrum Palliative Care<br>Universitätsspital Zürich<br>E-Mail: david.blum@usz.ch<br>Twitter: @prof_blum_pall
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Palliative Care war bereits vor der Zeit moderner Präzisionsmedizin patientenzentriert. Doch durch die wiederentdeckte Fokussierung auf den Patienten ergeben sich heutzutage interessante Schnittmengen zwischen den Disziplinen. Und wenn die Digitalisierung im Gesundheitswesen zum Wohle des Patienten gestaltet wird, kann Medizin tatsächlich persönlicher werden.
Keypoints
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Palliative Care und Präzisionsmedizin haben viele Gemeinsamkeiten, da sie zum Ziel haben, den Patienten und seine Beschwerden in den Mittelpunkt zu stellen.
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Die Entwicklung der Hämatoonkologie und der Radioonkologie stellt traditionelle Gewissheiten infrage und die Palliative Care vor neue Herausforderungen.
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Digitale Ansätze gewinnen zunehmend an Wichtigkeit in Diagnostik und Therapie von Krebserkrankungen und können die Medizin patientenzentrierter machen.
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Trotz des Fortschritts werden Basic Palliative Care und auch End-of-Life Care eine herausfordernde Aufgabe aller Krebsmediziner bleiben.
Palliative Care und Präzisionsmedizin? Was sich zunächst wie ein Widerspruch anhören mag, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine vielversprechende Symbiose. Während die Palliative Care seit jeher bestrebt ist, den einzelnen Menschen und sein Leid, häufig mit Blick auf das Ende des Lebens, in den Mittelpunkt zu stellen, so vermittelt das bereits begonnene Zeitalter der Präzisionsmedizin täglich aufs Neue den Eindruck, es gebe weitere innovative diagnostische und therapeutische Lösungsansätze zur Lebensverlängerung für alle. Tatsächlich jedoch hat die patientenzentrierte Palliative Care heutzutage die Möglichkeit, digitaler, moderner und dadurch noch präziser persönlich zu werden. Und die moderne Hochleistungsmedizin – zuallererst die Hämatoonkologie, die die Präzisionsmedizin weiter massgeblich vorantreiben wird – findet womöglich einen Weg, den individuellen Patienten neu zu entdecken und neu zu denken. Gemeinsam kann hier in Zukunft viel erreicht werden.
Palliative Care ist Präzisionsmedizin
Die Präzisionsmedizin, auch personalisierte Medizin genannt, hat zum Ziel, durch eine immer grössere Menge an Informationen über einen Patienten die Diagnostik und Therapie noch individualisierter und massgeschneiderter auf einen einzelnen Patienten abzustimmen. Zu herkömmlichen Faktoren wie Alter, Geschlecht und Erkrankungsstadium kommen zum Beispiel Merkmale der Biologie, Histologie oder Genetik (Genom, Epigenom, Transkriptom, Proteom etc.) einer Erkrankung bzw. eines Menschen hinzu, um eine Therapie an die individuellen Merkmale und Bedürfnisse eines Patienten anpassen zu können. Präzisionsmedizin will v.a. durch folgende Attribute überzeugen: Sie soll präventiv sein, d.h. für jeden Patienten individuelle Empfehlungen zur Krankheitsvorbeugung bereithalten. Sie will prädiktiv sein, insofern sie Voraussagen zu Risikofaktoren oder Erkrankungsrisiken machen kann. Sie soll partizipatorisch gestaltet sein, sodass der Patient in die Entscheidungsfindung und Therapiegestaltung miteingebunden ist. Sie hat ausserdem den Anspruch, psychokognitiv zu sein, d.h., auch die Gedanken, Sorgen und die Psyche des Patienten sollen mitberücksichtigt werden. All das macht sie zu einer personalisierten Form der Medizin (Tab.1).1

Tab. 1: Gemeinsamkeiten von Palliative Care und Präzisionsmedizin
Palliative Care kann als eine medizinische Spezialisierung bzw. Haltung angesehen werden, wobei eben nicht nur biologische, histologische und genetische Informationen, sondern auch subjektive Beschwerden, Wünsche, Ängste, spirituelle Fragen sowie die Bedürfnisse der Angehörigen eines Patienten berücksichtigt werden. Gute Palliative Care zeichnet sich, vereinfacht gesagt, durch folgende fünf Facetten aus: Sie stellt die Symptombehandlung in den Vordergrund, sorgt beim Patienten für ein gewisses Krankheits- und Prognoseverständnis, bedient sich, wo immer möglich, der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Patient und Behandlerteam, erarbeitet einen Behandlungsplan mit verschiedenen Zielen und hilft bei der Vorbereitung auf das Lebensende, ggf. unter Einbezug spiritueller Aspekte. Gute Palliative Care ist also per definitionem personalisiert, weil jeder Patient zu unterschiedlichen Zeitpunkten einer Erkrankung unterschiedliche Symptome und Bedürfnisse sowie auch einen unterschiedlichen Umgang mit der jeweiligen Situation und den Angehörigen am Lebensende hat, die jeweils ganzheitlicher Aufmerksamkeit bedürfen. Durch Fortschritte auf dem Feld der Präzisionsmedizin, die massgeblich durch die Hämatoonkologie, aber auch angrenzende Fächer wie die Radioonkologie, bedingt sind, ergeben sich neue Therapiemöglichkeiten, die teilweise zu dramatischen Änderungen des Gesamtüberlebens geführt haben. Zum Beispiel können Menschen in einem oligometastasierten Krankheitsstadium, in dem Krebs an unterschiedlichen Stellen des Körpers in Form von Metastasen präsent ist, nun länger leben als noch vor wenigen Jahren und quasi kurativ behandelt werden.2 Und wenn die Möglichkeiten tumorspezifischer Behandlung auch künftig mehr und mehr ausgedehnt werden, so werden die Grenzen zwischen palliativen und kurativen Ansätzen auch für solide Tumoren zunehmend verschwimmen, wie dies bereits heute in der Hämatologie bei vielen Erkrankungen der Fall ist. Das alte Motto «Erst onkologische Behandlung, dann palliative Begleitung» ist überholt und kann erwiesenermassen zu verzweifelten onkologischen Interventionen wie der Verabreichung von Chemotherapie kurz vor dem Lebensende führen, die dann selbst wieder Notfallsituationen oder -hospitalisationen zur Folge haben können.3 Jedoch sollten weniger das Ende einer Therapie oder ein Therapieversagen den Einbezug der Palliative-Care-Mediziner auf den Plan rufen als vielmehr die Beschwerden und Bedürfnisse des Patienten («needs and triggers»). Als Orientierungshilfen oder sog. «red flags» für die Involvierung von Palliative-Care-Spezialisten können dienen: schwere physische oder psychische Symptome, schwere posttherapeutische Akuttoxizitäten, spirituelle oder existenzielle Krisen, unklar definierte Behandlungsziele, der Wunsch des Patienten nach Entscheidungsfindung, wiederholte Notfallhospitalisationen, hohe refraktäre Symptomlast, eine rapide Verschlechterung des Performance Status oder eine Verneinung der sog. «surprise question» durch das Behandlerteam (Wären Sie überrascht, wenn Ihr Patient in den nächsten 6–12 Monaten versterben würde?).4–6 Zur neuen Realität von Präzisionsmedizin und Palliative Care, die u.a. gekennzeichnet ist durch prolongierte Verläufe von Krebserkrankungen und den Wandel vom traditionellen Modell der Palliative Care hin zu einem früh integrierten Ansatz (Abb. 1), gehört auch ein ganz neues Spektrum an Nebenwirkungen. So können Immuntherapien zum Beispiel Endokrinopathien aller Art auslösen, die unter Umständen einer Therapie bedürfen. Mit neuen Therapien kommt zudem eine grössere prognostische Unsicherheit – sowohl für den Patienten als auch für das Behandlerteam –, wer von einer bestimmten Therapie profitiert und wer nicht. Um durch solche Unsicherheiten zu begleiten oder auch beim Aushalten von Ambivalenzen behilflich zu sein, kommt der Palliative Care eine entscheidende Rolle zu.7 Erste Studien deuten darauf hin, dass auch hämatologische Patienten von einer frühen palliativmedizinischen Intervention profitieren können. Diese Gruppe von Patienten ist häufig durch spezifische Symptome stark belastet und hat oft einen tiefen Performance Status. Darüber hinaus sind wie bereits erwähnt v.a. in der Hämatologie die Grenzen zwischen palliativer und kurativer Therapie häufig unklar. Es gibt erste Anzeichen, dass das Formulieren klarerer Behandlungsziele zu einer Verbesserung der Lebensqualität, einer Reduktion der Symptomlast sowie einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit einer posttraumatischen Stressreaktion führt, während es keinen negativen Einfluss auf die Hoffnung auf Heilung, Transplantationsmortalität oder das Überleben gibt.8 Moderne Palliative Care sollte daher bestrebt sein, früh integriert, dynamisch und personalisiert zu sein.

Abb. 1: Wandel des traditionellen Modells der Palliative Care (nach Kaasa S et al.)17
Personalisierung durch Digitalisierung
Eine grosse Chance, Palliative Care und Präzisionsmedizin noch persönlicher zu machen, ergibt sich durch die voranschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens. Ein Bereich, der bereits stark digitalisiert worden ist, ist menschliche Interaktion und Kommunikation. Da v.a. in der Palliative Care Kommunikation ein wichtiges Handwerk ist, liegen hier Synergien auf der Hand.
Apps, Wearables und Virtual Reality (VR) etc. – es stehen immer häufiger die neusten Technologien auch für den klinischen Alltag zur Verfügung. Dabei sind verschiedene Anwendungen in der Hämatologie, Onkologie und der Palliative Care denkbar (Tab. 2).

Tab. 2: Digitale Ansätze bei Palliative Care und Präzisionsmedizin
Moderne Technologie kann zum Beispiel dazu genutzt werden, um auf ärztlicher Seite für ein noch besseres Verständnis der Bedürfnisse eines Patienten zu sorgen. Patienten verbalisieren Symptome, die heutzutage auch als sog. «patient-reported outcomes» (PRO) bezeichnet werden und als Goldstandard der patientenzentrierten Medizin gelten.9 Krebspatienten leiden häufig an vielen verschiedenen Symptomen, was nicht selten dazu führt, dass Behandlerteams die Symptomlast eines Patienten systematisch in Quantität und Qualität unterschätzen.10 Idealerweise würden Patienten daher all ihre Symptome selbst rapportieren, zum Beispiel via App auf einem «smart device» in Form von sog. «electronic PRO» (E-PRO). Das amerikanische National Cancer Institute (NCI) hat daher bereits vor einiger Zeit das Ziel ausgegeben, eine PRO-Version der Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE), einer Klassifikation von schweren Nebenwirkungen, zu entwickeln.11 Es gibt ausserdem erste Hinweise, dass das systematische Erfassen von E-PRO unter Krebstherapie das Gesamtüberleben verbessert, vermutlich weil die Therapien besser moduliert oder Nebenwirkungen früher und effektiver behandelt werden können.12 Auch in der Nachsorge von Krebserkrankungen könnte ein regelmässiges Erfassen von E-PRO zu einem verlängerten Gesamtüberleben führen, zum Beispiel, weil Tumorrezidive früher erfasst werden können.13
In einer Untersuchung bei 30 Patienten im palliativen Stadium einer Krebserkrankung und mit einer geschätzten Lebenserwartung >8 Wochen und <12 Monaten zeigten sich ausserdem eine gute Akzeptanz und Nutzerfreundlichkeit eines Wearables (Sensor-Armband), gepaart mit einer App auf einem Smartphone, im ambulanten Setting.14 Weiterhin gibt es Ansätze, auf der Grundlage von «big data» Algorithmen für eine Software zur Früherkennung von Krebserkrankungen zu entwickeln oder anhand von Patientendaten die «surprise question» beantworten zu lassen. Aus der Kombination all dieser Technologien ergeben sich zudem spannende Möglichkeiten für die Zukunft. Mittels Apps und Wearables könnten zum Beispiel E-PRO abgefragt oder automatisch aufgezeichnet werden. Die hier entstehende Datenmenge, zusammen mit Daten aus der elektronischen Patientenakte, könnte in Form von «big data» mittels Algorithmen aus den Feldern des «machine» oder «deep learning» analysiert werden, um daraus therapeutische Schlüsse zu ziehen. Gleichzeitig ist die Anwendung von Digitalisierung im Gesundheitswesen kritisch zu betrachten – nicht nur in Bezug auf Patientengeheimnis und Datenschutz, sondern auch mit Blick auf potenziell gefährliche Automatismen, das Entstehen systematischer Fehler, die Rationalisierung von Leistungen und letztlich eine entmenschlichte Medizin.15
Fazit
Bei allem Fortschritt wird natürlich die Palliative Care nicht aussterben. Es gibt aktuell nach wie vor sehr viele Patienten, die noch nicht auf moderne Behandlungen ansprechen. End-of-life Care oder Sterbebegleitung wird auch in Zukunft eine sehr wichtige Aufgabe sein. Dabei kann Palliative Care nicht überall und jederzeit für jeden Patienten von Spezialisten angeboten werden. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wird üblicherweise zwischen allgemeiner und spezialisierter Palliative Care unterschieden. Es ist entscheidend, dass auch Hämatoonkologen und Radioonkologen über palliativmedizinische Grundfähigkeiten verfügen und diese im Alltag praktizieren.16,17 Somit bleibt Palliative Care auch in Zeiten der Präzisionsmedizin multiprofessionell und interdisziplinär.
Literatur:
1 Akademien der Wissenschaften Schweiz: Personalisierte Gesundheit im Gespräch. Bd. 15. 2020 2 Guckenberger Met al.: Characterisation and classification of oligometastatic disease: a European Society for Radiotherapy and Oncology and European Organisation for Research and Treatment of Cancer consensus recommendation. Lancet Oncol [Internet] 2020;21(1):e18-28. Verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1016/S1470-2045(19)30718-1 3 Whitney RL et al.: Unplanned hospitalization among individuals with cancer in the year after diagnosis. J Oncol Pract 2019;15(1):E20-9 4 Hui R et al.: Patient-reported outcomes with durvalumab after chemoradiotherapy in stage III, unresectable non-small-cell lung cancer (PACIFIC): a randomised, controlled, phase 3 study. Lancet Oncol 2019;20(12):1670-80 5 Moss AH et al.: Prognostic significance of the «surprise» question in cancer patients. J Palliat Med 2010;13(7):837-40 6 Weissman DE et al.: Identifying patients in need of a palliative care assessment in the hospital setting: a consensus report from the Center to Advance Palliative Care. J Palliat Med 2011;14(1):17-23 7 Wiesenthal AC et al.: Top ten tips for palliative care clinicians caring for cancer patients receiving immunotherapies. J Palliat Med 2018;21(5):694-9 8 El-Jawahri A et al.: Effect of inpatient palliative care during hematopoietic stem-cell transplant on psychological distress 6 months after transplant: results of a randomized clinical trial. J Clin Oncol 2017;35(32):714-21 9 Sprangers MAG et al.: Scientific imperatives, clinical implications, and theoretical underpinnings for the investigation of the relationship between genetic variables and patient-reported quality-of-life outcomes. Qual Life Res 2010;19(10):1395-403 10 Laugsand EA et al.: Health care providers underestimate symptom intensities of cancer patients: a multicenter European study. Health Qual Life Outcomes 2010;8:8-10 11 Turner RR et al.: Patient-reported outcomes: instrument development and selection issues. Value Health 2007;10(Suppl 2):86-93 12 Basch E et al.: Overall survival results of a trial assessing patient-reported outcomes for symptom monitoring during routine cancer treatment. JAMA 2017;318(2):197-8 13 Denis F et al.: Randomized trial comparing a web-mediated follow-up with routine surveillance in lung cancer patients. J Natl Cancer Inst 2017;109(9):1-2 14 Pavic M et al.: Feasibility and usability aspects of continuous remote monitoring of health status in palliative cancer patients using wearables. Oncology 2020;98(6):386-95 15 Blum D: Symptomerfassung im onkologischen Ambulatorium: Kann Technologie helfen? Schweizer Krebsbulletin 2019;20-2 16 Temel JS et al.: Early palliative care for patients with metastatic cancer. Curr Opin Oncol 2012;24(4):357-62 17 Kaasa S et al.: Integration of oncology and palliative care: a Lancet Oncology Commission. Lancet Oncol 2018;19(11):e588-653