<p class="article-intro">Die genetische Charakterisierung von Patienten mit Knochenmarksversagen mittels NGS kann sowohl bei der Diagnosefindung helfen (bestätigend oder widerlegend) als auch in schwierigen Situationen die klinische Behandlung mitbeeinflussen (z.B. bei möglichen Transplantationen) oder Bestandteil von familiären Abklärungen sein (z.B. bei potenziellen familiären Knochenmarksspendern). Hier wurde von 18 Patienten eine umfassende hämatologische Charakterisierung erstellt und zusammen mit den Resultaten eines NGS-Genpanels interpretiert. Es hat sich gezeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Labor und den verschiedenen Spezialisten (Hämatologen, Onkologen, medizinischen Genetikern) in einem Board für die Beurteilung und die Patientenversorgung sehr wirkungsvoll ist.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Genanalysen sind im Zusammenhang mit den klinischen Daten eines Patienten mit dem Verdacht einer Diagnose von Knochenmarksversagen wertvoll. Sie können helfen, eine Diagnose zu präzisieren oder zu widerlegen.</li> <li>Die Interpretation der Resultate eines Genpanels ist gelegentlich eine Herausforderung und kann nur in Kenntnis des Phänotyps des Patienten adäquat erfolgen.</li> <li>Für die korrekte Interpretation der NGS-Ergebnisse im Kontext einer gegebenen klinischen Präsentation bedarf es eines multidisziplinären Teams mit Erfahrung auf diesem Gebiet.</li> </ul> </div> <h2>Knochenmarksversagen und Genetik</h2> <p>Die vererbten Knochenmarksversagenssyndrome werden traditionell als pädiatrische Störungen betrachtet. Tatsächlich werden mittlerweile aber viele der Patienten als Erwachsene diagnostiziert und viele, die als Kinder diagnostiziert werden, leben nun bis zum Erwachsenenalter. Die häufigsten dieser seltenen Erkrankungen sind Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita, Shwachman-Diamond- Syndrom und amegakaryozytäre Thrombozytopenie, die häufig zu einer aplastischen Anämie führen und sich zu myelodysplastischem Syndrom und akuter myeloischer Leukämie entwickeln können; ausserdem Diamond-Blackfan- Anämie, schwere kongenitale Neutropenie und Thrombozytopenie ohne Radien, einzelne Zytopenien, die selten oder gar nicht aplastisch werden, aber ein erhöhtes Leukämierisiko bergen. Einige dieser Syndrome gehen mit einem hohen Risiko für solide Tumoren einher: Kopf- Hals- und anogenitales Plattenepithelkarzinom bei Fanconi-Anämie und Dyskeratosis congenita sowie osteogenes Sarkom bei Diamond-Blackfan-Anämie. Die Diagnose eines Knochenmarksversagenssyndroms erfordert die Identifizierung von charakteristischen körperlichen Anomalien und Erfahrung in der Differenzialdiagnose, wenn Patienten mit «erworbener» aplastischer Anämie, myeloischen Krankheiten oder atypischen Frühkarzinomen an uns herantreten. Das Auffinden von pathogenen Mutationen in Genen, die mit dem erwähnten Syndrom assoziiert sind, kann helfen, die Diagnose zu bestätigen. Vererbte Knochenmarksversagen umfassen mehr als 25 Krankheitsentitäten. Mehr als 80 verursachende Gene wurden bis heute identifiziert, und diese Zahl nimmt weiter zu.<sup>1</sup> Sowohl für die Diagnosefindung wie auch für familiäre Abklärungen und Beratungen kann es hilfreich sein, die genetische Basis der Erkrankung (mittels Mutationssuche durch NGS) zu untersuchen. Bluteau et al. analysierten 179 Patienten mittels WES («whole exome sequencing», d.h. der Sequenzierung des gesamten exprimierten Teils des Genoms mittels NGS), um die Keimbahnmutationen bei Knochenmarksversagen besser zu charakterisieren.<sup>2</sup> Mit dieser Methode konnten sie in 48 % der Fälle die genetische Ursache der Erkrankung bestimmen oder zumindest eine wahrscheinliche Ursache zeigen. Zusätzlich identifizierten sie neue Gene, die bei Knochenmarksversagen mutiert sein können.</p> <h2>Unsere Patientenkohorte und das NGS-Genpanel</h2> <p>Eine grosse Anzahl von Patienten mit Knochenmarksversagen litt an einer lebenslangen Geschichte ohne eine definitive Charakterisierung der Krankheit. Unser Ziel war, Patienten mit ungeklärtem Knochenmarksversagen mittels NGS zu diagnostizieren. Im November 2017 haben wir die NGS-Methoden für die Keimbahnmutation bei Knochenmarksversagen in dem molekulargenetischen Labor der Hämatologie am Universitätsspital Bern eingeführt. Während der ersten 6 Monate haben wir eine Kohorte von 18 Patienten ausgewertet. Davon waren zehn (56 % ) männlich. Das mediane Alter bei ersten Symptomen war 16 (1–68 Jahre) und bei der genetischen Untersuchung 32 (17–73 Jahre). Alle Patienten hatten chronische Zytopenien, einschliesslich isolierter Neutropenien oder Erythroaplasie, sowie Bizytopenie und Panzytopenie. In zwei Fällen zeigten sich mehr als 5 % Blasten im Knochenmark. Die Telomerlänge wurde bei 8 Patienten bestimmt, die alle sehr kurze Telomere aufwiesen. Bei fünf Patienten wurde eine Fanconi-Anämie mittels Fibroblastenkultur (Chromosomeninstabilität) ausgeschlossen. Bei allen 18 Patienten wurde ein NGS-Panel mit 63 sequenzierten Genen durchgeführt. Das Panel war in fünf Kategorien unterteilt: Diamond-Blackfan-Anämie, Telomer-Störungen, hereditäre Anämien, hereditäre Neutropenie und Fanconi- Anämie (Tab. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Onko_1806_Weblinks_lo_onko_1806_s10_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="1145" /></p> <h2>Resultate: Zusammenhänge zwischen Phänotyp und Genotyp?</h2> <p>Drei der 18 Patienten hatten beschriebene pathogene Mutationen in den Genen ELANE, HAX1 und WAS, elf Patienten hatten mindestens eine VUS («variant of unknown significance»). Dabei handelt es sich um Genvarianten mit unklarer Bedeutung, bei denen bisher nicht geklärt ist, ob sie den Phänotyp der Krankheit beeinflussen oder gar verursachen können. Bei vier Patienten wurden keine als relevant eingestuften Genvarianten gefunden.<br /> In zwei Fällen bestätigte das Resultat der Genanalyse die Diagnose einer kongenitalen Neutropenie: ELANE: c.725T>A, p.(Ile242Asn) heterozygot<sup>3</sup> und HAX1 c.130_131insA, p.(Trp44*) homozygot<sup>4</sup>. Eine Patientin trug eine Mutation im WASGen: c.995T>C, p.(Val332Ala). Interessanterweise wurde diese Mutation bisher bei Patientinnen mit Thrombozytopathien beschrieben, wohingegen unsere Patientin eine Neutropenie hatte. Generell können Mutationen im WAS-Gen beide Krankheitsbilder verursachen. WAS liegt auf dem X-Chromosom, dadurch bestimmt die X-Inaktivierung den Phänotyp massgeblich mit.<sup>5</sup><br /> In unserer Kohorte waren VUS in den Genen CUBN, BRCA2 und SEC23B besonders häufig. Bei Patienten mit Verdacht auf Fanconi-Anämie oder mit Merkmalen von Dyskeratosis congenita war die Interpretation der VUS besonders schwierig.<sup>6</sup></p> <h2>Wann ist eine NGS-Analyse sinnvoll?</h2> <p>Da die Analyse aufwendig und die Interpretation in vielen Fällen schwierig ist, ist es besonders wichtig, die Fragestellung sorgfältig zu prüfen.<sup>7</sup> Es ist von Vorteil, wenn die klinischen Daten zusammengetragen und z.B. mit einem klinischen Fragebogen evaluiert werden. Auch kann es von Nutzen sein, die Zusammenarbeit mit einem Fachexperten zu suchen. Die Besprechung von Fällen in einem Board, das Experten der Hämatologie, Onkologie (bzw. Kinderonkologie), medizinischen Genetik und des Labors vereinigt, zeigt überzeugende Resultate. Mögliche Gründe für ein NGS-Panel wären z.B. bevorstehende Transplantation, Verdacht auf Falschdiagnose, familiäre Abklärung, myeloische Neoplasien mit ungewöhnlicher Präsentation oder ungewöhnlich verlängerte Zytopenien nach konventioneller Chemotherapie zur Behandlung von hämatologischen Erkrankungen.</p> <h2>Anpassung des NGS-Panels nach diesem Projekt, Outlook</h2> <p>Seit Abschluss dieses Projektes wurden schon neun weitere Patienten analysiert. Aufgrund der vorliegenden Resultate sowie diverser Anfragen wird unser NGSGenpanel für Knochenmarksversagen angepasst. Es wurde zusätzlich das SBDSGen (ohne die grossen Deletionen und Inversionen) bei den hereditären Anämien hinzugefügt sowie SAMD9 und SAMD9L bei den hereditären Neutropenien. Zusätzlich wurde eine neue Kategorie, die hereditären myeloischen Neoplasien, erstellt, mit einigen Markern, die in verschiedenen Situationen bei den Knochenmarksversagen sehr wichtig sein können, insbesondere z.B. TP53, wenn eine Knochenmarkstransplantation zur Sprache kommt.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Elmahdi S, Kojima S: Bone marrow failures syndromes in children. Congenital and acquired bone marrow failure. Edited by Aljurf MD et al. 2017; 21: 255-67 <strong>2</strong> Bluteau O et al.: A landscape of germline mutations in a cohort of inherited bone marrow failure patients. Blood 2018; 131(7): 717-32 <strong>3</strong> Germeshausen M et al.: The spectrum of ELANE mutations and their implications in severe congenital and cyclic neutropenia. Hum Mutat 2013; 34(6): 905-14 <strong>4</strong> Klein C et al.: HAX1 deficiency causes autosomal recessive severe congenital neutropenia (Kostmann disease). Nat Genet 2007; 39(1): 86-92 <strong>5</strong> Daza-Cajigal V et al.: X-linked thrombocytopenia in a female with a complex familial pattern of X-chromosome inactivation. Blood Cells Mol Dis 2013; 51(2): 125-9 <strong>6</strong> Walne AJ et al: Marked overlap of four genetic syndromes with dyskeratosis congenita confounds clinical diagnosis. Haematologica 2016; 101(10): 1180-9 <strong>7</strong> University of Chicago Hematopoietic Malignancies Cancer Risk Team: How I diagnose and manage individuals at risk for inherited myeloid malignancies. Blood 2016; 128(14): 1800-13</p>
</div>
</p>