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Krebs und Demenz

„Den Menschen in der kognitiven Situation abholen, in der er sich befindet“

Es ist nie einfach, die Diagnose „Krebs“ zu verarbeiten. Noch schwieriger wird es, wenn betroffene Menschen an Demenz leiden. Prim. Dr. Michael Smeikal, ärztlicher Leiter im Pflegekrankenhaus Haus der Barmherzigkeit Tokiostraße, Wien, spricht darüber, wie Menschen mit Demenz aufgeklärt, miteinbezogen und begleitet werden können, wenn sie eine Krebsdiagnose erhalten.

Welchen Herausforderungen begegnen Sie, wenn eine an Demenz erkrankte Person eine Krebsdiagnose erhält?

Michael Smeikal: Die Herausforderung liegt darin, eine an Demenz erkrankte Person im Rahmen ihrer kognitiven Fähigkeiten über eine Krebserkrankung aufzuklären. Es geht vor allem um die Betreuung und Begleitung demenzkranker Patient:innen auf diesem Weg.

Ein Mensch mit Demenz ist in einer fließenden Situation, er ist nicht heute voll da und morgen dement, sondern verliert den Intellekt schrittweise. Je nachdem, in welchem Stadium sich die Person befindet, ist es wichtig, auf eine Art und Weise aufzuklären, durch die sie die Diagnose versteht. Wir müssen den Menschen in der kognitiven Situation abholen, in der er sich befindet.

Wie lässt sich das bewerkstelligen?

M. Smeikal: Unter Umständen kann eine mehrteilige Aufklärung wichtig und gut sein. Oft kann man nicht in einem kurzen, schnellen Gespräch alles über eine Krebserkrankung erzählen. Dann muss man es in kleineren Portionen erklären. Dieser Prozess kann sich über mehrere Tage erstrecken.

Wichtig ist gerade bei Demenzerkrankten auch, von Anfang an klarzumachen, dass eine Krebserkrankung nicht das Ende bedeuten muss. In Abhängigkeit vom biologischen Alter kann Krebs eine chronische Erkrankung sein, die mit Medikamenten zum Stillstand gebracht wird, und dementsprechend kann eine Betreuung lebenslang sein. Dann lebt eine ältere Person auch mit Krebs so lange, wie sie auch sonst leben würde.

<< Es geht nicht nur um Verlängerung der Lebenszeit. Symptomlinderung ist immer ein Therapieziel.>>

Im Umgang mit den betroffenen Demenzpatient:innen sollte eine einfache Sprache gewählt werden. Alles muss so erklärt werden, dass der medizinische Laie es gut verstehen kann. Manchmal kann auch die richtige Tageszeit für den Erfolg eines Gespräches ausschlaggebend sein. Wenn jemand am Vormittag bei der Physiotherapie gut mitmacht und aufnahmefähig ist, am Nachmittag aber müde wird, sollte man den Gesprächstermin auf den Vormittag legen.

Es ist auch wichtig, wenn möglich Angehörige zur Aufklärung über die Krebserkrankung hinzuzuziehen, damit gleich das gesamte Umfeld involviert ist, das es in dieser Frage zu betreuen gilt und das die erkrankte Person auch mitbetreut. Bei Angehörigen sollte aktiv nachgefragt werden, wodurch sie veranlasst werden, das Mitgeteilte zu wiederholen. Daran kann man erkennen, was sie verstanden haben. Man muss auch darauf achten, wann und ob sich aus dem Besprochenen Fragen ergeben. Angehörigen kann man außerdem psychologische Begleitung anbieten oder mit ihnen ein psychologisches Entlastungsgespräch führen.

Schwierig kann es werden, wenn Menschen mit Demenz eine Krebsdiagnose haben, aber noch keine dazu passenden Symptome. Zum Beispiel, wenn im Rahmen einer Routineuntersuchung bei einem älteren Patienten Lungenkrebs gefunden wird, der noch keine Beschwerden erzeugt. Dieser Patient wird nicht verstehen, warum eine Therapie nötig ist und dass Krebs schleichend kommen kann.

Wie gehen Sie mit einer solchen Situation um?

M. Smeikal: Bei manchen Betroffenen hilft es, Röntgenbilder herzuzeigen, auf denen man den Befund erkennen kann. Bei anderen ist es besser, die Diagnose mit einfachen, klaren Worten zu erklären.

Das wichtigste Hilfsmittel in schwierigen Situationen ist jedoch immer ein gutes Umfeld. Man muss sich den Raum und die Zeit nehmen, um ein kompliziertes Gespräch führen zu können. Das sollte nicht gehetzt in einem Vierbettzimmer passieren, sondern vorbereitet und mit der Möglichkeit, auf alle Fragen einzugehen, die die Person mit Demenz hat. Auch eine Vertrauensperson sollte dabei sein. Vertraute Personen sind für Menschen mit Demenz ein Ankerpunkt. Sie helfen ihnen dabei, Situationen besser zu verarbeiten.

Beziehen Sie Menschen mit Demenz immer in die Therapieentscheidungen ein?

M. Smeikal: Auch wenn Menschen mit Demenz Erwachsenenvertretungen haben, also einen Vormund, ist es wichtig, sie so weit wie möglich in die Therapieentscheidungen einzubeziehen. Da hat sich sicherlich einiges geändert, zumindest bei uns im Haus der Barmherzigkeit – gesellschaftspolitisch jedoch hat sich meiner Meinung nach noch zu wenig getan.

Aber auch beim Einbeziehen in medizinische Entscheidungen gibt es Unterschiede. Eine Person mit Demenz kann durchaus in der Lage sein, eine Impfung zu verstehen und ihr zuzustimmen, aber von der Erklärung einer komplexen Operation überfordert sein. Man muss also jeweils von der angedachten Therapie oder medizinischen Intervention abhängig machen, ob eine Einwilligung der betroffenen Person möglich ist.

Aber grundsätzlich versuchen wir immer, unsere Patient:innen in die Therapieentscheidungen zu integrieren.

Und hier ist dann die Frage: Wollen wir in der aktuellen Situation eine Heilung, eine Lebensverlängerung oder eine Verbesserung der Lebensqualität erreichen? Denn viele unserer Bewohner:innen, sofern sie dem zustimmen können, überlegen sich gut, ob sie möglicherweise sehr belastende Therapien in Anspruch nehmen wollen, oder ob es ihnen vor allem darum geht, bei fortgeschrittener Erkrankung die Symptome zu lindern.

Wie kann die Lebensqualität ermittelt werden, wenn Menschen sich in einem späten Stadium der Demenz befinden?

M. Smeikal: Zum Glück kommunizieren Menschen zu 80% nonverbal. Es ist dennoch eine Herausforderung in der Therapiebegleitung von Demenzpatient:innen, nonverbale Zeichen zu erkennen und darauf zu reagieren.

Es gibt sehr gute Tests, über die man auch bei fortgeschrittener Demenz auf indirekte Schmerzzeichen achten kann. Auch wenn eine Person nicht mehr mitteilen kann, dass sie Schmerzen hat, können die Schmerzen beispielsweise sehr wohl über einen erhöhten Puls, über Stöhnen, gepresste Atmung oder vermehrtes Schwitzen ausgedrückt werden. Denn Schmerzen fühlt man auch, wenn man sie nicht mehr kommunizieren kann.

Welche Abteilungen sind an der Therapieentscheidung beteiligt?

M. Smeikal: Grundsätzlich muss von ärztlicher Seite die Frage geklärt werden, ob es überhaupt eine Indikation für eine Therapie gibt. Denn eine Therapie, die keine Indikation hat, ist genau genommen ethisch nicht vertretbar. Das ist die erste große Hürde – sich zu fragen: Behandle ich mit der angedachten Therapie den betroffenen Menschen oder behandle ich damit meine eigene Unsicherheit oder die Unsicherheit im Therapieteam?

Als leidenschaftlicher Geriater ist es mir wichtig, dass wir Therapieüberlegungen nicht am kalendarischen, sondern am biologischen Alter festmachen. Bei der Frage, ob noch eine sinnvolle Therapieoption möglich ist, ist also der biologische Zustand eines Menschen entscheidend. Die Therapie ist dann auch immer unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität zu wählen.

<< Behandle ich die betroffenen Menschen oder behandle ich meine eigene Unsicherheit?>>

Wenn wir der Meinung sind, dass es eine Therapie gibt, die aus ärztlicher Sicht Sinn macht, sind in die Therapieentscheidung die Patient:innen, die Angehörigen, die Therapeut:innen und die Pflegenden miteinzubeziehen. In die Entscheidung fließt ein, ob eine Therapie begleit- und durchführbar ist. Bei den Patient:innen und den Angehörigen sollte man versuchen, den Willen oder den mutmaßlichen Willen hinter einer Therapieentscheidung zu ergründen.

Um zu der Entscheidung zu gelangen, dass eine Therapie nicht mehr sinnvoll ist, kann eine ethische Fallbesprechung sehr hilfreich sein. Auch dort wird interdisziplinär diskutiert. Es müssen alle Aspekte beleuchtet werden.

Wird die Entscheidung gegen eine Therapie einer Person mit Demenz kommuniziert?

M. Smeikal: Wir teilen diese Entscheidung den betroffenen Personen mit, aber immer unter dem Blickwinkel von Optionen. Denn: Es gibt nie keine Therapie. Man kann immer etwas machen, und wenn es eben eine palliative Begleitung und Betreuung ist.

Man kann zum Beispiel erklären, dass es eigentlich eine Therapie gegen die Krebserkrankung gäbe, die Vorteile aber gering sind und das Risiko von Nebenwirkungen hoch – dass die betroffene Person also davon nicht profitieren wird, dafür aber von einer Therapie gegen Angst, Schmerzen oder Atemnot. Diese unangenehmen Symptome, die eine Person mit Demenz auch am meisten ängstigen, können wir in jedem Fall behandeln.

Und wie geht es weiter, wenn eine Entscheidung für die Therapie gefallen ist?

M. Smeikal: Oft müssen wir bei den Patient:innen Missverständnisse aus der Welt räumen: Es muss erklärt werden, dass es inzwischen nicht mehr so ist, dass eine Chemotherapie als Infusion gegeben werden muss und zwingend zu Haarausfall und Übelkeit führt, so wie das früher war. Oder auch, dass Chemotherapie nicht mehr die einzige Option ist.

Natürlich ist in Abhängigkeit vom Demenzstadium zu überlegen, welche Therapie grundsätzlich überhaupt durchführbar ist. Wenn es sich zum Beispiel um Infusionen handelt, die strikt in die Vene gehen müssen und bei denen es schon zu einem Schaden führen kann, wenn nur eine geringe Menge danebengeht, aber sich die betroffene Person permanent den Venenzugang herauszieht, dann muss man hinterfragen, ob das die geeignete Therapie in dieser Situation ist. Eventuell könnte man auf Tabletten ausweichen. Sind die Tabletten zu groß, muss man sie vielleicht mörsern – wir passen uns den Gegebenheiten an.

Was würden Sie Kolleg:innen raten, die außerhalb eines Pflegekrankenhauses Patient:innen mit Demenz und Krebs betreuen?

M. Smeikal: Zusammengefasst: sich Zeit nehmen, ein Aufklärungsgespräch nicht zwischen Tür und Angel oder in einer gestressten Ambulanzsituation führen, bei der Therapieauswahl auf Lebensqualität achten. Ich glaube, dass gerade im normalen klinischen Alltag noch immer zu sehr unter dem Aspekt der Lebensverlängerung und nicht unter Einbezug der Lebensqualität in die Therapie entschieden wird.

© Haus der Barmherzigkeit

Aufklärungsgespräche mit Menschen mit Demenz müssen gut vorbereitet werden

Wenn Patient:innen mit Demenz hämatoonkologisch betreut werden, ist es auch ganz wichtig, frühzeitig für eine Erwachsenenenvertretung zu sorgen. Denn wenn die Demenz voranschreitet und der Mensch nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen auszudrücken, ist es zu spät. Es braucht immer ein paar Wochen, bis der Antrag zur Erwachsenenvertretung genehmigt ist. Das sollte einberechnet werden.

Wenn es keine Angehörigen gibt, stehen in Wien und in den Bundesländern professionelle Vereine oder auch Rechtsanwaltskanzleien zur Verfügung, die die Vertretung übernehmen.

Es ist auch sinnvoll, Menschen mit Demenz regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen zu motivieren, und ihre Angehörigen dazu, sie zu begleiten.

Was würden Sie in Österreich an der Situation für geriatrische Patient:innen mit Demenz und Krebserkrankung ändern wollen?

M. Smeikal: Meiner Meinung nach gibt es zu wenig Betreuungszeit, sowohl von ärztlicher als auch von pflegerischer Seite. Denn Menschen mit Demenz brauchen oft mehr Zeit für die Dinge, die man ohne Demenz schnell erledigen kann. Und diese Zeit ist kostbar. Und Arbeitszeit ist teuer.

Ich sehe in meiner gutachterlichen Tätigkeit oft Missverständnisse und Unklarheiten, die sich hätten vermeiden lassen, wenn in der Betreuung ein bisschen mehr Gesprächs- und Aufklärungszeit vorhanden gewesen wäre.

Aber wir haben auch zu wenige Spezialist:innen. Gerade auf dem Land ist die nächste onkologische Ambulanz oder das nächste onkologische Zentrum oft weit weg. Die Fahrtzeiten sind für Menschen mit Demenz zusätzlich belastend.

Auch eine bessere Schulung im Umgang mit Demenzpatient:innen und eine bessere Schulung für das Personal auf onkologischen Abteilungen dahin gehend, auf nonverbale Schmerzzeichen zu achten, wären wünschenswert. Und natürlich die Bewusstseinsbildung, dass der Faktor Lebensqualität stärker einbezogen werden und das gesamte Umfeld einer an Demenz erkrankten Person in den Prozess integriert werden soll.

Kann eine fremde Umgebung, zum Beispiel bei einem Klinikaufenthalt oder einem Aufenthalt im Haus der Barmherzigkeit, den Umgang mit Demenzpatient:innen erschweren?

M. Smeikal: Im Haus der Barmherzigkeit haben wir das Glück, dass wir unsere Bewohner:innen über einen sehr langen Zeitraum betreuen und die Besuchszeiten großzügig gestaltet sind. Angehörige, die als Vertrauenspersonen fungieren, kommen in der Regel auch sehr oft, durchaus auch täglich, mit der Möglichkeit, gemeinsam spazieren zu gehen, gemeinsam zu essen oder auch bei diversen Pflegehandlungen mit eingebunden zu sein. So können wir dieses vertraute Umfeld möglichst lange aufrechterhalten beziehungsweise den Wechsel in eine stationäre Einrichtung fließend und stabil gestalten. Beim Aufbau von Vertrauen mit unseren Bewohner:innen mit Demenz sind die Angehörigen eine wertvolle Ressource.

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