© Lumeez/peopleimages.com - stock.adobe.com

Selbsthilfe

„‚Leben mit dem Myelom‘ bedeutet, dass man wirklich lebt“

Dipl.-Ing. Thomas Derntl lebt seit fast 15 Jahren mit der Diagnose eines multiplen Myeloms. Er engagiert sich bei „Multiples Myelom Selbsthilfe Österreich“ und in der „Allianz onkologischer PatientInnen-Organisationen“. Mit JATROS hat er darüber gesprochen, wie die Vereine Patient:innen unterstützen und was in Österreich im Gesundheitswesen besser laufen könnte.

Seit wann gibt es die Multiples Myelom Selbsthilfe Österreich?

T. Derntl: Den gemeinnützigen Verein „Multiples Myelom Selbsthilfe Österreich“ gibt es seit 2003. Wir haben im Jahr 2023 unser 20-jähriges Bestehen gefeiert. Initiiert wurde der Verein durch ein Zusammenwirken einer kleinen Gruppe von Ärzt:innen, geleitet von Prof. Dr. Heinz Ludwig. Als Hämatoonkologe hat er schon damals erkannt, dass es sich beim multiplen Myelom zwar um eine komplexe Blutkrebserkrankung handelt, aber Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, die für viele Patient:innen doch ein sehr langes Leben mit der Erkrankung ermöglichen. Er hat vorausgesehen, dass sich die medizinische Forschung immer weiterentwickeln und gerade beim multiplen Myelom die Überlebensstatistik dramatisch verändern wird – und so geschah es auch.

Es wird weltweit weiter geforscht und weiterhin werden immer wieder neue Therapien entwickelt. Allerdings sind alle diese Therapien mit Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen verbunden, die von Patient:innen in ihr Leben integriert werden müssen. Und dabei, hat Prof. Ludwig immer gesagt, müssen die Patient:innen ein bisschen mithelfen. Je besser man eine Erkrankung in das tägliche Leben integrieren kann, so schicksalshaft, so schwierig sie auch ist, desto besser greifen auch die Therapien.

Bei der Vereinsgründung hat sich sofort ein wackeres Häuflein von Patient:innen gefunden – ich war da noch nicht dabei – und hat zunächst in kleinem Stil Patient:innentreffen und Informationsveranstaltungen organisiert. Der Verein wurde und wird dabei intensiv von Hämatoonkolog:innen begleitet.

Was ist das Ziel des Vereins? Seit wann sind Sie mit dabei?

T. Derntl: Mit Selbsthilfe ist in unserem Verein gemeint, dass ein gewisser Grad an Lebenszufriedenheit und mentale Kraft wesentliche Komponenten dafür sein können, medizinische Hochleistungstherapien durchzustehen. Dieser Hilfestellung im Umgang mit der Erkrankung haben wir uns verschrieben.

Ich selbst bin im Jahr 2012 zur Gruppe gestoßen, als ich am multiplen Myelom erkrankt bin. Als die Erkrankung nach der autologen Stammzellentransplantation nicht geheilt war und ich nur eine überwiegende Remission hatte, habe ich gemerkt, dass es einige Aspekte gibt, bei denen man aktiv daran arbeiten muss, sie ins eigene Leben aufzunehmen, wenn man mit einer zwar unter Kontrolle befindlichen, aber doch deutlich feststellbaren Krebserkrankung lebt.

Zug um Zug habe ich mehr Aufgaben im Verein und dann vor zwei Jahren die Obmannschaft übernommen. Wir sind ein Team von ungefähr 20 Aktivist:innen in ganz Österreich, die die Vereinsgeschichte aktiv gestalten und damit einen Kontaktpool von mehreren hundert Patient:innen in Österreich ansprechen.

Sie sind auch Mitglied bei der Allianz onkologischer PatientInnen-Organisationen. Wie ist die Allianz tätig?

T. Derntl: Die Multiples Myelom Selbsthilfe zählt neben anderen Organisationen für onkologische Patient:innen zu den Gründungsmitgliedern der Allianz onkologischer PatientInnen-Organisationen. Die Allianz wurde gegründet, weil es Sachverhalte gibt, die alle Onkologie-Patient:innen gleichermaßen betreffen. Das sind z.B. die Themen Patient:innenrechte und Patient:innenmitbestimmung bei der Entwicklung von Therapien und gesundheitlichen Angeboten.

Über Jahre hinweg haben wir in separaten Vereinen darüber gesprochen, was uns im Gesundheitssystem aufgefallen ist, und dann irgendwann festgestellt, dass wir alle von den gleichen Dingen reden, ganz egal, ob es um Darmkrebs, Leukämie oder das multiple Myelom geht. Onkologische Patient:innen teilen bestimmte Anliegen und es ist gut, mit einer gemeinsamen Stimme im gesundheitspolitischen Diskurs Stellung zu beziehen und sich in positiver und konstruktiver Weise einzubringen, so wie es aktuell auch in der EU Mission Cancer steht. Da geht es um Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung und generell darum, Patient:innenorganisationen in der Gesundheitslandschaft zu verankern.

Ein Beispiel sind die Boards zur Bewertung neuer Arzneimittel, bei denen auch Patientenvertreter:innen vorgesehen sind. Innerhalb unserer Communitys ernennen wir Patientenvertreter:innen für bestimmte Indikationen.

Was ist in Österreich verbesserungswürdig, wenn es um den Fokus auf die Patient:innen geht?

T. Derntl: Es gibt einige Dinge, die wir gerne im österreichischen Gesundheitssystem verbessern würden. Ein Gesundheitsversorgungsforscher aus Österreich hat einmal gesagt, dass das österreichische Gesundheitssystem im Fall von Krebs den Zugang zu Hochleistungstherapien sichert, aber nach der Therapie die Patient:innen in die Welt entlässt und sich nicht mehr kümmert, bis ein Rezidiv auftritt. Im Sinne des Vorsorgegedankens und einer ganzheitlichen Gesundheitsversorgung auf der gesamten „patient journey“ ist das nicht mehr sinnvoll und zeitgemäß. Gesundheitsökonomisch gesehen können mit einer umfassenden Versorgung vor und nach Eintritt ins Gesundheitssystem sogar Kosten gespart werden.

Da ist etwa der Zugang zu Diagnosemöglichkeiten bei niedergelassenen Ärzt:innen. Wenn im Zuge der Gesundenuntersuchung Symptome wie Müdigkeit und Abgeschlagenheit genannt werden, werden sie meistens ignoriert oder im schlechtesten Fall mit Antidepressiva oder anderen Psychopharmaka behandelt, ohne dass ein umfassendes immunologisches Blutbild gemacht wird. So wird z.B. das multiple Myelom oft erst diagnostiziert, wenn schon weitgehende Knochenschädigungen vorliegen. Die Grunderkrankung selbst kann durch Früherkennung nicht vermieden werden, die bleibenden Schäden schon. Und wieder ist es auch eine Frage der Ökonomie: Bleibende Schäden führen zu Folgekosten im Alter. Es ist im Interesse aller, dass das vermieden wird.

Wir setzen uns auch für Vorsorgekampagnen bei jenen Krebsformen ein, die aufgrund von Lebensumständen, Lebensbedingungen, Ernährung und ähnlichen Faktoren entstehen.

Was uns außerdem sehr beschäftigt, ist die Strukturierung der Gesundheitslandschaft in Österreich. Es hat sich gezeigt, dass Patient:innen, die in der Nähe von spezialisierten Versorgungszentren wohnen, bessere Überlebenschancen haben. Hier geht es auch um die Interaktion zwischen dem klinischen Bereich und dem niedergelassenen Bereich. InSpezialzentren werden Krebspatient:innen in Bezug auf die Grunderkrankung natürlich gut versorgt, aber sie bestehen ja nicht nur aus der Krebsdiagnose. Trotzdem gibt es bezüglich anderer Vorsorgeuntersuchungen und Befunde wenig Kommunikation zwischen den Zentren und den niedergelassenen Ärzt:innen. Das geht so weit, dass Zentren Befunde, die von außen kommen, manchmal nicht akzeptieren. Das halten wir für einen echten Missstand.

Es ist auch nicht gut, dass ich als Patient niedergelassenen Ärzt:innen selbst meine Diagnose und meine Befunde erklären muss. Am besten wäre es, wenn alle Ärzt:innen Einblick in die Daten zur Grunderkrankung hätten. Der dringend nötige Austausch zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Behandlungszentren steckt noch in den Kinderschuhen. Für die Zukunft würden wir uns eine bessere Zusammenarbeit wünschen.

Was können einzelne niedergelassene Onkolog:innen tun, um die Situation für Patient:innen zu verbessern?

T. Derntl: Wir sind der Meinung, dass in der Interessengemeinschaft der Ärzt:innen ein gewisses Umdenken passieren muss. In Zentren gibt es oft ein regionalpolitisches Interesse, spezialisierte Zentren können regionalpolitische Statussymbole sein. In dieser Gemengelage werden Patient:innenstimmen manchmal zu wenig gehört. Die Ärztekammer spielt da natürlich auch eine bestimmte Rolle. Was wir uns wünschen würden, wäre ein konstruktiver Dialog zwischen den Akteuren.

Gibt es aktuelle Aktionen und Kampagnen?

T. Derntl: Es gibt in der Allianz gerade keine aktuellen Kampagnen. Unsere Hauptthemen sind „patient advocacy“, die Etablierung einer strukturierten und qualifizierten Patient:innenvertretung im österreichischen Gesundheitssystem und die Teilhabe an gesundheitspolitischen Entscheidungen. Derzeit sind wir sehr stark in die Gremienarbeit involviert, unter anderem über die Mission Action Group Cancer.

In der Multiples Myelom Selbsthilfe waren wir im Blood Cancer Month September mit vielen Aktionen, Aufrufen und mit Bewusstseinsbildung aktiv. Unsere Öffentlichkeitsarbeit richtet sich an unsere Patient:innen-Community, an Menschen, die bei uns andocken können und denen wir regelmäßig Informationen über aktuelle Entwicklungen geben. Das geht über unsere Website und auch über unsere Telefonhotline „Myelom am Telefon“.

Welche Großveranstaltungen organisisert die Multiples Myelom Selbsthilfe?

T. Derntl: An zwei Terminen im Jahr beschäftigen wir uns mit dem internationalen Kontext der Forschung zum multiplen Myelom zusammen mit Vertrauens- und Konsiliarärzt:innen. Es gibt einmal den Myelom-Tag im September und dann noch eine Online-Veranstaltung im März, die Post-ASH mit Berichten vom Weltkongress der American Society of Hematology. Österreichische Hämatolog:innen, die auch bei der American Society of Hematology registriert sind, bringen uns auf den internationalen Stand. Sie bereiten die Inhalte patient:innengerecht und verständlich auf.

Der Myelom-Tag war dieses Jahr am 6.September. Einmal pro Jahr richten wir dieses Großevent in einer der Landeshauptstädte Österreichs aus, die ein Myelom-Zentrum haben. Letztes Jahr war Graz dran, heuer Wien. 150 Personen waren bei der Veranstaltung und zahlreiche Zuhörer:innen waren über einen Livestream zugeschaltet und konnten über E-Mail oder Telefon Fragen stellen. Dieses Jahr wurden vor allem Fragen zur CAR-T-Zell-Therapie gestellt, von der wir uns alle viel versprechen.

Am Vormittag gab es medizinische Vorträge zu aktuellen innovativen Therapien und zu neuen Arzneimittelkombinationen. Der Nachmittag stand im Zeichen des Lebens mit dem Myelom. Es gab vier sehr gut besuchte Workshops zu den Themen Bewegung, Ernährung und Psychoonkologie.

Als vierten Workshop gab es eine Fragestunde für medizinische Detailfragen von Betroffenen. Ich bewundere es immer wieder, mit welcher Weitsicht und Klugheit die medizinischen Fragen beantwortet werden.

Aber es ist wie beim Song Contest, vor dem Myelom-Tag ist nach dem Myelom-Tag: Wir bereiten schon die nächsten Veranstaltungen vor.

Welche Angebote für Patient:innen gibt es noch?

T. Derntl: Neben den Großveranstaltungen organisieren wir auch Seminarwochenenden für Myelompatient:innen. Im Oktober gibt es ein Seminarwochenede in Graz zum Thema Achtsamkeit im Umgang mit Schmerz und Stress für Myelompatient:innen und im November ist das Leben als Paar Thema eines Wochenendes. Wir erweitern unsere Palette ständig und versuchen, uns an die aktuellen Themen anzupassen.

Stichwort Osteoporose: Osteoporose war solange kein Thema, als Myelompatient:innen nur wenige Jahre an Lebenserwartung blieben. Die neuen Therapien haben die Lebenserwartung zum Glück sehr erhöht, umso mehr kommen natürlich auch die Begleiterscheinungen der Erkrankung und der Therapie zum Tragen. Um dem zu begegnen, haben wir gerade den Informationsfolder „Knochenkraft“ herausgegeben (Abb.1).

Weitere Nebenwirkungen sind Polyneuropathien, Fatiguesymptome und Verdauungsstörungen, um nur einige zu nennen. Und dazu kommt dann noch der natürliche Alterungsprozess.

Welche Aspekte sind bei der Entwicklung des multiplen Myeloms zu einer chronischen Erkrankung wichtig geworden?
© Multiples Myelom Selbsthilfe Österreich

Abb. 1: Der neue Flyer „Knochenkraft“ zur Selbsthilfe beim multiplen Myelom

T. Derntl: „Leben mit dem Myelom“ bedeutet, dass man wirklich lebt. Es ist nicht gut, das eigene Leben komplett der Erkrankung auszuliefern.

Natürlich sollte man die Erkrankung auch nicht ignorieren, weil das Myelom nach derzeitigem Stand noch nicht heilbar ist. Die Diagnose „multiples Myelom“ wird Patient:innen ein Leben lang begleiten. Und die Einsicht zu gewinnen, dass man für immer eine Krebserkrankung hat, aber trotzdem sein Leben leben kann, ist sehr wichtig. Wir als Multiples Myelom Selbsthilfe wollen und können dabei helfen. Bei mir kommt das auch aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, da ich inzwischen seit fast 15 Jahren Myelompatient bin. Mir hat es damals zum Beispiel gutgetan, ein halbes Jahr nach meiner Therapie wieder in den Beruf einzusteigen, wenn auch nur in Teilzeit.

Diese Suche nach dem guten Leben als Mensch mit einer chronischen Krebserkrankung, das ist eines unserer wichtigsten Themen. Wir arbeiten dazu auch mit geschulten Therapeut:innen zusammen.

Haben Sie einen Geheimtipp für andere Patient:innen?

T. Derntl: Leider gibt es keine Geheimtipps, weil die Geschichten der Onkologiepatient:innen alle unterschiedlich und total individuell sind.

Aber es gibt zwei wichtige Sätze. Der erste ist: Vertraue auf deine Kräfte. Der zweite ist, dass es mit einer chronischen Erkrankung einmal mehr gut ist, auf sich zu hören, die eigene Körperwahrnehmung zu stärken und bewusster auf sich selbst zu schauen. Das hat Vorteile für einen selbst und auch für andere.

Back to top