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Palliativmedizin und (Hämato-)Onkologie

„Die Fachgebiete nicht in Silos voneinander abgrenzen“

In Österreich gibt es nur eine einzige klinische Abteilung für Palliativmedizin, und zwar am Allgemeinen Krankenhaus Wien. Den Lehrstuhl dort hat seit Anfang des Jahres Univ.-Prof. Priv.-Doz. DDr. Eva Katharina Masel, MSc, inne. Mit uns sprach sie u.a. über ihre Wünsche für das Fachgebiet Palliativmedizin in Österreich und die Rolle von Spiritualität. Außerdem verrät sie uns Tipps für Gespräche mit Patient*innen, deren Erkrankung absehbar zum Tode führen wird.

Gratulation nochmals zum Antritt Ihrer Professur an der MedUni Wien Anfang des Jahres. Wie blicken Sie auf das erste Jahr zurück? Was waren Herausforderungen, was Erfolge?

E. K. Masel: Vielen Dank! Einerseits bin ich ja ein „alter Hase“, da ich bereits seit 2010 an der Palliativstation des AKH arbeite, andererseits ist meine Aufgabe als Abteilungsleiterin natürlich neu, dazu gehören auch Verpflichtungen und Verwaltungsaufgaben, die ich zuvor nicht hatte.

Eine Herausforderung war natürlich die Pandemie mit all ihren permanenten Anpassungen und Regulatorien, eine andere Herausforderung war und ist mit Sicherheit das seit 1.1.2022 gültige Sterbeverfügungsgesetz. Hiermit müssen wir uns im Palliativbereich intensiv auseinandersetzen, da der Weg eines/r Suizidwilligen in Österreich das Aufsuchen zweier voneinander unabhängiger ärztlicher Personen umfasst, eine/r davon benötigt eine palliativmedizinische Qualifikation.

Als großen Erfolg empfinde ich, dass der von mir konzipierte Masterlehrgang „Master of Advanced Diseases“ voraussichtlich ab dem Wintersemester 2023 an der Medizinischen Universität Wien besucht werden kann. Der Lehrgang soll dazu dienen, die Rolle von fortgeschrittenen Erkrankungen und deren Assessment zu verstehen, die Grundlagen des Symptommanagements zu kennen, kommunikative Fertigkeiten zu schulen und vertiefte Kenntnis im Umgang mit ethischen, ökonomischen und juristischen Fragestellungen zu erlangen.

<< Kurativ und palliativ sollte nicht als ‚schwarz-weißes‘ Konzept betrachtet werden.>>

Ein weiterer Erfolg war, dass unsere Abteilung im Rahmen meiner Berufungsverhandlungen sowohl Personalstellen als auch wissenschaftliches Personal zugesprochen bekommen hat, so macht es Freude, ein Team aufzubauen. Hier sehe ich einen großen Erfolg in der Expansion der universitären Palliative Care. Es braucht uns und wir sind ein wichtiges Fachgebiet in Klinik, Lehre und Forschung. Ich werde nicht müde, das zu betonen, und bin sehr stolz, Inhaberin des einzigen Lehrstuhls für Palliativmedizin an einer öffentlichen österreichischen Universität, an der einzigen Klinischen Abteilung für Palliativmedizin in Österreich zu sein.

Was sind prinzipiell die Ziele einer palliativmedizinischen Betreuung?

E. K. Masel: Palliative Care ist ein ganzheitlicher Ansatz für die Patient*innenversorgung, der darauf abzielt, Lebensqualität für Patient*innen zu ermöglichen, die mit einer unheilbaren lebensbedrohlichen chronischen Erkrankung leben. Auch An- und Zugehörige werden miteinbezogen.

Die moderne Palliative Care entstand aus der Pionierarbeit von Dame Cicely Saunders und der Hospizbewegung und ist mittlerweile als ein Modell anerkannt, das auf eine Reihe von chronischen und lebensbeschränkenden Erkrankungen angewendet werden kann. Dies wird international auch durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gefordert, die einen gerechten Zugang zu Palliative Care unabhängig von der Art der chronischen Erkrankung empfiehlt.

Es gibt eine Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Palliativversorgung. Primäres Wissen im Bereich Palliative Care sollte in allen medizinischen Teams vorhanden sein, sekundäre Palliative Care wird durch spezialisierte Teams – z.B. mobile Palliativteams oder Palliativambulanzen – geboten und tertiäre Palliative Care steht in höher spezialisierten palliativmedizinischen Institutionen wie etwa bei uns am AKH zur Verfügung. Je nach individueller Situation gilt es, die beste Betreuungsmöglichkeit ausfindig zu machen. Generell kann man sagen, je komplexer die Situation ist, desto eher ist eine Versorgung im Krankenhaus erforderlich, zum Beispiel im Falle von ausgeprägter Symptomlast wie Atemnot, Angst, Schmerz, Übelkeit, bei großen exulzerierenden Wunden, bei Blutungsgefahr sowie auch aus psychosozialen Gründen.

Ein wesentlicher Teil sind Gespräche über Therapieziele, über die Prognose sowie auf Wunsch ein vorausschauendes Planen („advance care planning“), wo Eventualitäten, die auftreten können, vorab besprochen werden, um den Patient*innen Autonomie und Sicherheit zu geben.

Welche Rolle spielt Spiritualität in der Palliativmedizin? Wie können Ärzt*innen auf spirituelle Bedürfnisse eingehen, wo wird die Grenze zur Esoterik gezogen?

E. K. Masel: Spiritualität sollte als Teil der Gesundheitsversorgung angesehen werden, da das Menschsein an sich beinhaltet, Sinn und Zweck im Leben zu suchen. Die Exploration davon, wie Patient*innen mit existenziellen Krisen und Dilemmata umgehen, kann durch Ressourcenfindung dazu beitragen, den Erkrankungsverlauf positiv zu beeinflussen.

Optimalerweise interagieren im Palliativbereich alle multiprofessionellen Fachkräfte einschließlich der Seelsorgenden im Team miteinander. Spiritualität ist nicht delegierbar und sollte auch nicht ausschließlich darin bestehen, am Ende des Lebens den Pfarrer zu verständigen, um es überspitzt zu sagen. Das mag dem postmodernen Gedanken widersprechen, der primär auf den allgemeinen Fortschritt und auf wissenschaftlich-technische Erkenntnisse vertraut.

Die Abgrenzung zur Esoterik liegt für mich darin, dass es hierzu keine in der evidenzbasierten Medizin relevanten wissenschaftlichen Publikationen gibt, während es zur Relevanz von Spiritualität Literaturreviews und gut publizierte wissenschaftliche Studien gibt.

Wann ist der Wechsel von einer kurativen zu einer palliativen Behandlung indiziert?

E. K. Masel: Die Welt ist hier nicht unbedingt einfacher geworden, da die moderne Medizin durch zahlreiche Möglichkeiten und Fortschritte sehr spezifisch geworden ist. Es gibt etwa 2 Millionen neue Publikationen pro Jahr. Wir haben in der industrialisierten Welt sehr hohe Standards und gute hygienische Bedingungen, wodurch sich unsere Lebenserwartung erhöht und unsere Lebensqualität verbessert hat. Man kann mittlerweile nicht mehr gänzlich den Überblick über alle Feinheiten der Medizin haben, sondern muss in erster Linie wissen, an wen man sich wendet.

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Eine optimale palliativmedizinische Betreuung erfordert die Zusammenarbeit verschiedener medizinischer und psychosozialer Disziplinen miteinander und auch mit der/dem Patient*in

Kurativ und palliativ sollte nicht als „schwarz-weißes“ Konzept betrachtet werden. Wichtiger als diese Definition ist es eher, stets ein Therapieziel zu definieren und abzuschätzen, wie und ob dieses bei einer individuellen Patientin/einem individuellen Patienten realistisch erreicht werden kann. Ein Therapiewunsch alleine stellt allerdings keine Therapieindikation dar. Dabei sollten (Hämato-)Onkologie und Palliativmedizin meines Erachtens zusammenarbeiten und ihre Fachgebiete nicht in Silos voneinander abgrenzen. Insofern begrüße ich es sehr, dass Palliative Care bereits früh im Medizinstudium und auch im Pflegeberuf gelehrt wird, damit mehr ins Bewusstsein rückt, dass auch palliative Erkrankungen einen langen Verlauf haben können. Palliative Care betrifft alle Fachgebiete.

Haben die zunehmend personalisierten und zielgerichteten Krebstherapien die palliativmedizinische Betreuung verändert?

E. K. Masel: Damit Palliative Care in einem frühen Stadium stattfindet, sollten Palliativteams meines Erachtens auch für gleichzeitige krankheitsbezogene Therapien aufgeschlossen sein. Eine Vielzahl kontrollierter Studien hat die positiven Auswirkungen einer frühen Palliative Care in Hinblick auf verschiedene Outcome-Parameter nachgewiesen, dennoch hinkt hier die Praxis hinterher.

Für die meisten Patient*innen, aber auch für Kolleg*innen ist das Fachgebiet primär mit dem Lebensende assoziiert. Zugleich gibt es deutliche Fortschritte im Bereich der Hämatoonkologie. In diesem Sinne ist eine „double awareness“ erforderlich, um sowohl den Anforderungen moderner krankheitsbezogener Behandlungskonzepte als auch einer umfassenden Palliative Care gerecht zu werden. Man sollte die Intelligenz der Gruppe nutzen und sich gegenseitig austauschen. Als Palliativmedizinerin sehe ich mich auch in der Pflicht, mich kontinuierlich in Hämatoonkologie fortzubilden.

Haben Sie Tipps für das Patient*innengespräch, wenn klar ist, dass die Erkrankung zum Tod des/der Betroffenen führen wird?

E. K. Masel: Mein persönlicher Rat hier wäre, zuerst eine Einladung zu einem solchen Gespräch zu geben. Zum Beispiel zu fragen: „Können Sie zusammenfassen, was Ihr derzeitiger Stand der Dinge in Bezug auf Ihre Erkrankung ist? Möchten Sie über Ihre Prognose sprechen?“ Manchmal benötigt es Zeit, bis diese Einladung angenommen wird. Das bedeutet aber nicht, dass man nach dem ersten Versuch aufgeben sollte unter dem Motto „Diese/r Patient*in wünscht das nicht“. Ein solches Gespräch sollte nicht zwischen Tür und Angel geführt werden, sondern möglichst ohne Störquellen. Man sollte von ärztlicher Seite auch vorbereitet sein und nicht im Computer nach Befunden suchen.

Je häufiger man solche Gespräche führt, desto eher erkennt man ihren Mehrwert. Durch offene, ehrliche Gespräche über das Lebensende wird trotz weitverbreiteter gegenteiliger Annahme Vertrauen geschaffen, Angst reduziert und unrealistischen Erwartungen vorgebeugt. Meine Empfehlung wäre, solche Gespräche regelmäßig in Gesprächstrainings zu üben. Man führt im Laufe der ärztlichen Tätigkeit etwa 400000 Gespräche. Wer kann hier noch die Relevanz leugnen? Wie man in der Chirurgie immer besser wird, je öfter man eine Operation durchführt, so ist es auch mit „End-of-Life“-Gesprächen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Palliativmedizin, allgemein und in Österreich?

E. K. Masel: Das würde ich gerne in die drei Bereiche Klinik, Lehre und Forschung unterteilen. An der Klinik wünsche ich mir, dass die palliativmedizinische Expertise in allen Abteilungen wächst. Dieses Vorhaben soll auch unser für das gesamte AKH verfügbare palliativmedizinische Konsiliardienst unterstützen. Auch nicht-onkologische Patient*innen sollen Zugang zu Palliative Care haben.

Für die Lehre liegen mir besonders die „medical humanities“ als interdisziplinäres Feld an der Schnittstelle von Medizin und Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften am Herzen. Ich bin überzeugt, dass das Feld der Palliative Care sehr vielseitig und dadurch attraktiv für Studierende ist, da einerseits die evidenzbasierte Symptomlinderung im Rahmen von schweren Erkrankungen im Vordergrund steht und andererseits nicht nur die Erkrankung selbst wesentlich ist, sondern auch die Menschen, die die Erkrankung haben.

Die Forschungsprojekte an unserer Abteilung sind vielseitig und beschäftigen sich mit „advance care planning“, assistiertem Suizid, Kachexie, neuen Lehrkonzepten, „medical humanities“, „patient-reported outcomes“, palliativer Pharmakologie, palliativer Psychiatrie und Symptomlinderung, um einige zu nennen. Als Professorin sehe ich mich in der Verantwortung, in Klinik, Lehre und Forschung aktiv zu sein und mich national wie international für das Fachgebiet zu engagieren.

Für Österreich wünsche ich mir die Umsetzung des angekündigten flächendeckenden Ausbaus der Palliativversorgung in allen Bundesländern und auf allen Ebenen, von der Grundversorgung durch niedergelassene Ärzt*innen und andere Gesundheitsberufe bis hin zu spezialisierten ambulanten Angeboten und Einrichtungen.

Außerdem steht für das nächste Jahr für mich ganz klar auch das Teambuilding im Vordergrund. Palliative Care lebt von Multiprofessionalität und von Reflexionsvermögen.

Und was würden Sie sich für die Praxis wünschen?

E. K. Masel: Dass, bevor sich alle darum streiten, was für eine/n Patient*in das Beste ist, mit den Patient*innen selbst gesprochen wird. Dass „advance care planning“ bzw. „Zukunftsgespräche“ einen höheren Stellenwert bekommen. Dass es mehr Ressourcen für Kommunikation gibt. Und dass wir als Palliativteam gerne in komplexe Situationen miteinbezogen werden. Wir lieben Herausforderungen!

Vielen Dank für das Gespräch!
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