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Multiples Myelom

„Die Entwicklung von Immunmodulatoren war ein Meilenstein“

Die Bandbreite der Therapieoptionen beim multiplen Myelom (MM) wurde innerhalb der letzten zwei Dekaden enorm erweitert: Bei keiner anderen Entität im Fach der Hämatologie kann auf derart bahnbrechende Fortschritte zurückgeblickt werden. Doch auch für die Zukunft werden vor allem im Bereich der Immuntherapie einige spannende Neuerungen erwartet. OÄ Prof. Dr. Katja Weisel, stellvertretende Klinikdirektorin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, erzählt im Gespräch mit JATROS Hämatologie & Onkologieüber Höhepunkte und Herausforderungen in der Therapie des MM und anderer hämatologischer Entitäten.

Was waren für Sie persönlich in den letzten Dekaden die entscheidendsten Entwicklungen in der Therapie des MM?

K. Weisel: In den letzten zwanzig Jahren wurden in der Therapie des MM die größten Fortschritte innerhalb einer Entität unseres Faches erzielt.

Von den 1960er- bis Anfang der 1990er-Jahre stand uns im Prinzip nur ein Chemotherapeutikum zur Verfügung, und zwar Melphalan, welches dann ab den 1990er Jahren auch in Form einer Hochdosistherapie Anwendung fand. Große Fortschritte wurden dann erst in den 2000er-Jahren mit der Etablierung der Proteasominhibitoren (Bortezomib) und immunmodulatorischen Agenzien (von Thalidomid über Lenalidomid bis zu Pomalidomid) erreicht, welche nahezu parallel entwickelt worden waren. Zusätzlich tauchten zuletzt noch die monoklonalen Antikörper (mAB) auf der Bildfläche auf. All diese Agenzien vermochten die komplette Therapie des MM zu reformieren und führten zu einer dramatischen Verbesserung der Prognose der Patienten, deren mittleres Überleben von 3–4 Jahren bis an die 10 Jahre erhöht werden konnte.

Angesichts dieser Vielzahl an Entwicklungen dachte man ursprünglich, dass die autologe Stammzelltransplantation (ASCT) möglicherweise ersetzt werden könnte. De facto aber ist derenBedeutung durch die neuen therapeutischen Optionen vor und nach einer ASCT weiterhin unverändertund sie ist als Goldstandard in der Therapie transplantierbarer Patienten verankert geblieben.

Gab es auch weniger erfolgreiche Entwicklungen?

K. Weisel: Prinzipiell sind wir unseren Weg streng nach vorne gegangen und ein positiver Trend konnte glücklicherweise beibehalten werden. Am ehesten sind wir ins Straucheln gekommen beim Versuch, die Checkpoint-Inhibitoren (CPI) zu etablieren, welche bekanntermaßen in der Therapie gewisser solider Tumoren wie des Melanoms und des Bronchuskarzinoms wegweisend waren.

Die CPI wurden in klinischen Studien rasch in der Therapie des MM evaluiert. Die zwei größten Studien mussten jedoch beide aufgrund von Todesfällen im Behandlungsarm mit den CPI abgebrochen werden. Dies hat die Anwendung der CPI in der Therapie des MM quasi stillgelegt. Wir tasten uns jetzt langsam wieder an den Einsatz in bestimmten therapeutischen Settings heran.

Eine sichere, wissenschaftlich fundierte Erklärung, weshalb es zu diesen Todesfällen gekommen ist und in welchen Zusammenhang diese mit dem angewandten Immunonkologikum stehen, konnte leider nicht gefunden werden. Trotzdem haben das rasche Reagieren und Eingreifen des unabhängigen Sicherheitskomitees, der Arzneimittelbehörde und auch des Sponsors gezeigt, dass wichtige Kontrollmechanismen in klinischen Studien greifen und so die Gesundheit und Sicherheit der Patienten gewährleistet und von alleroberster Priorität sind. Zudem ist es wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass ein Therapeutikum, welches bei unterschiedlichen Entitäten zum Einsatz kommt, auch ein unterschiedliches Nebenwirkungsprofil aufweisen kann.

Welches in den letzten Jahrzehnten neu erdachte Konzept war Ihres Erachtens das innovativste?

K. Weisel: Ein wesentlicher Meilenstein war definitiv die Entwicklung der Immunmodulatoren mit dem Prototyp des Lenalidomid. Durch die Immunmodulatoren wurden zum allerersten Mal eine dauerhafte Therapie sowie folglich auch die kontinuierliche und Erhaltungstherapie bei Patienten mit MM erst ermöglicht. Der Einsatz der Immunmodulatoren in Kombination mit z.B. den mAB und Proteasominhibitoren hat uns große synergistische Potenziale und Möglichkeiten eröffnet und entscheidend zum Verständnis der Krankheitsentwicklung des MM beigetragen.

Welche der derzeitigen Entwicklungen beurteilen Sie als besonders vielversprechend?

K. Weisel: Auf jeden Fall die zellulären Therapien, insbesondere die „Chimeric antigen receptor“(CAR)-T-Zelltherapie. Diese wird derzeit in einer Phase-III-Studie getestet und eine Zulassung in bestimmten Therapiesituationen bei Patienten mit MM darf schon für das nächste Jahr erwartet werden.

Wesentlich sein werden zukünftig auch andere Immuntherapeutika, wie bispezifische AK und Immunkonjugate.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?

K. Weisel: Ich wünsche mir, dass das MM endlich für einen Großteil der Patienten eine heilbare Erkrankung wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir dieses Ziel erreichen können, wenn wir die Möglichkeiten, welche uns zum Teil jetzt schon gegeben sind, klug nutzen.

Meine größte Sorge gilt deshalb einem potenziellen Innovationsstopp, vor allem angesichts der Covid-19-Pandemie, denn es ist von größter Wichtigkeit, dass wir die Entwicklungen im Bereich der Therapie des MM unbeirrt und mit maximaler Sicherheit für unsere Patienten vorantreiben.

Die in der Arzneimittelentwicklung maßgeblich vorangehenden Vereinigten Staaten sind von der Covid-19-Pandemie leider besonders betroffen, was sich u.a. dadurch äußert, dass der Austausch untereinander teilweise zum Erliegen gekommen ist und die Mitarbeiter häufig ans Homeoffice gefesselt sind. Außerdem können große, internationale Kongresse nicht wie üblich stattfinden. Es werden zwar Daten präsentiert, aber die daraus gewonnenen Erkenntnisse oftmals nicht mehr aktiv und innovativ in neuen Projekten umgesetzt.

Wenn Sie das Fach der Hämatologie in seiner Gesamtheit betrachten: Welche Fortschritte waren besonders beeindruckend?

K. Weisel: Das Paradebeispiel einer Meilensteinentwicklung war die Etablierung der Tyrosinkinaseinhibitoren (TKI) wie Imatinib zur Therapie der chronischen myeloischen Leukämie (CML). Hier konnte erstmals die Ursache einer hämatologischen Erkrankung zielgerichtet behandelt werden, was dazu führte, dass betroffene Patienten heutzutage in den allermeisten Fällen eine normale Lebenserwartung aufweisen. Es wurde also gezeigt, welches unglaubliche Potenzial in einer zielgerichteten Therapie stecken kann.

Ein anderer Meilenstein in der Therapie hämatologischer Entitäten war die Entwicklung des monoklonalen Anti-CD20-Antikörpers Rituximab, welcher in die Therapie sämtlicher B-Zell-Neoplasien Einzug gehalten hat und auch bei Autoimmunerkrankungen eingesetzt wird. Auch hier hat man letztlich durch Identifikation und gezieltes Angreifen einer relevanten Zielstruktur auf beispiellose Weise den Weg weg von einer alleinigen Polychemotherapie hin zu einer zielgerichteten Therapie ebnen können.

Bei all diesen Fortschritten bleibt der Wermutstropfen, dass bei manchen Erkrankungen wie der Myelofibrose oder den meisten Formen des myelodysplastischen Syndroms (MDS) trotz unseres enormen Wissenszuwachs noch keine wegweisenden, für große Patientengruppen zugänglichen und effektiven Therapieoptionen zur Verfügung stehen.

Haben Sie jemals bereut, sich für eine ärztliche Karriere im Fach der Hämatologie entschieden zu haben?

K. Weisel: Keinesfalls, als Hämatologin tätig zu sein ist immer noch jeden Tag ein Traumjob. Natürlich ist es oft nicht einfach, aber wir können mit unseren Bemühungen viel bewegen.

Auch wenn wir für einzelne Patienten in aussichtsloser Situation die Lebenserwartung nicht erhöhen können, obliegt uns immer noch die optimale Gestaltung der verbleibenden Lebenszeit. Das Wissen darum, dass weitere innovative Therapieoptionen auf den Weg in die Klinik sind, verleiht uns zusätzlich Hoffnung.

Grundsätzlich ist das Fach der Hämatologie sehr facettenreich und es ist täglich wieder eine wunderbare Herausforderung, meinen Patienten die bestmögliche Betreuung zu bieten und sie auf ihren Wegen begleiten zu dürfen.

Das Interview führte
Jasmin Gerstmayr, MSc

Unsere Gesprächspartnerin:
OÄ Prof. Dr. Katja Weisel
Stellvertretende Klinikdirektorin
Zentrum für Onkologie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
E-Mail: k.weisel@uke.de

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