
Aggression und Gewalt im Gesundheits- und Sozialbereich – (k)ein Problem?
Autorin:
Nicole Paulus
Trainerin, Beraterin für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement im Gesundheits- und Sozialbereich
Stellvertretende Obfrau des Vereins NAGS Österreich
Lehrende für Gesundheits- und Krankenpflege am Campus Donaustadt, Wien
E-Mail: deeskalation.paulus@gmail.com
Bestürzt? Überrascht? Hilflos? Wie auch immer die Reaktionen auf Aggressions- und Gewaltereignisse ausfallen mögen, längst sind diese für Mitarbeiter:innen im Gesundheits- und Sozialbereich eher Regel als Ausnahme. Die Entstehung ist multifaktoriell (Alkohol- und Drogenkonsum, Zunahme an neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, lange Wartezeiten, hohe Erwartungen an das Gesundheitssystem, Ressourcenknappheit aufseiten der Gesundheitsversorger u.v.m.).1
Keypoints
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Aggressions- und Gewaltereignisse sind nicht nur gesellschaftspolitisch relevante Phänomene, sondern eine nicht von der Hand zu weisende Realität für Mitarbeiter:innen im Gesundheits- und Sozialbereich.
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Die Implementierung von Präventions-, Schulungs- und Sicherungsmaßnahmen sowie die Einhaltung des Arbeitsschutzgesetzes ist Führungsaufgabe, dennoch müssen auch Mitarbeiter:innen ihren Beitrag leisten.8
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Es wird auch sichtbar, dass für ein nachhaltiges Sicherheitsmanagement konkurrierende Rahmenbedingungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen.
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Alle Maßnahmen, die geeignet sind, Vertrauen und Zusammenarbeit zwischen Angehörigen, Patient:innen und Professionist:innen zu verbessern, entfalten eine generalpräventive Wirkung bezüglich aggressiven und gewalttätigen Verhaltens.9
Häufigkeit und Vorkommen
Ein Viertel aller Fälle von Aggressionen am Arbeitsplatz kommt im Gesundheitswesen vor. Am häufigsten sind Mitarbeiter:innen verbaler Gewalt ausgesetzt, an zweiter Stelle steht körperliche Gewalt.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) definiert Gewalt am Arbeitsplatz als „Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung, gleich, ob es sich um ein einmaliges oder ein wiederholtes Vorkommnis handelt, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen, diesen zur Folge haben oder wahrscheinlich zur Folge haben“. Gewalt am Arbeitsplatz umfasst auch „geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung“.2
Entgegen der landläufigen Meinung, dass Aggression und Gewalt typische Vorkommnisse im psychiatrischen Setting sind, zeigen aktuelle Zahlen ein ganz anderes Bild. Bei einer bundesweiten Umfrage in Deutschland gaben von 250 befragten Pflegepersonen in Notaufnahmen 81,11% der Frauen und 74,76% der Männer an, in den letzten zwölf Monaten verbaler Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Im Rahmen einer weiteren Befragung von Personal in Notaufnahmen berichten von 305 Befragten 87% von physischer Gewalt in den letzten zwölf Monaten. Von diesen erzählen 64% von physischer Gewalt von Angehörigen, der sie ausgesetzt waren.
Bei einer Online-Umfrage unter Pflegenden aus dem extramuralen Setting gaben von 972 Personen 79,9% an, einige Male pro Jahr oder öfter von Pflegebedürftigen oder Angehörigen ausgehende verbale Gewalt erlebt zu haben. 51,2% berichten über einige Male erlebte sexuelle Belästigung und immerhin 39,1% erlebten körperliche Gewalt.
In allen Arbeiten zu den Umfragen wird ein Zusammenhang zwischen Gewalt und weitreichenden, zum Teil katastrophalen gesundheitlichen Konsequenzen für das Personal hergestellt (Krankenstandtage, Ausscheiden aus der Ausbildung bzw. dem Beruf, Traumatisierung).3–5
Die sichere Institution
Bei einer hohen Anzahl von Aggressions- und Gewaltereignissen sind nicht alle Mitarbeiter:innen in der Lage, diese Phänomene konstruktiv zu bearbeiten oder ihnen schon im Vorfeld präventiv zu begegnen.
Menschen in Führungspositionen bzw. im Management haben die Aufgabe, für einen sicheren Arbeitsplatz ihrer Mitarbeiter:innen zu sorgen. Diese Fürsorgepflicht findet ihre gesetzliche Grundlage beispielsweise im §1157 des ABGB (Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch). Auf der anderen Seite sind auch Mitarbeiter:innen verpflichtet, sich konstruktiv und respektvoll zu verhalten.6,1
David Leadbetter (UK) hat das Modell der sicheren Institution entwickelt. Anhand dessen lässt sich erahnen, wie umfangreich die Thematiken Aggression bzw. Gewalt sind. Es wird auch sichtbar, dass für ein nachhaltiges Sicherheitsmanagement konkurrierende Rahmenbedingungen miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Gleichzeitig ist das Modell auch ideengebend dafür, in welchen Bereichen Maßnahmen anzudenken sind. Leadbetter beschreibt auch den typischen prozesshaften Verlauf, den Institutionen auf dem Weg zur sicheren Institution durchlaufen:
Stufe 1: Verleugnung
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Es herrscht eine Kultur der Schuldzuweisung: „Wenn du das nicht aushalten kannst, bist du einfach falsch hier …“
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Mitarbeiter:innen, die auf das Problem hinweisen, werden oft zu Sündenböcken gemacht.
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Gewalttätige Zwischenfälle werden als vereinzelte Ereignisse gesehen, die durch individuelles Versagen entstanden sind.
Stufe 2: Ignorieren
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Das Risiko für aggressive, gewalttätige Übergriffe durch Patient:innen/Klient:innen ist hoch und wird wahrgenommen, aber nicht bearbeitet.
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Fehlzeiten und Arbeitsunfähigkeit der Mitarbeiter:innen kommen häufig vor.
Stufe 3: Aufwachen
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Die Risiken werden anerkannt, allerdings haben die Mitarbeiter:innen an der Basis das Problem. Teilweise wird die Lösung in den Aus-, Fort- und Weiterbildungsbereich weitergereicht. Einführung von Trainings, die nicht die komplette Gewaltprävention abdecken (Selbstverteidigungskurse).
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Opfer können ihre Erfahrungen austauschen und dürfen das Problem benennen. Die Unterstützungssysteme werden kritisiert.
Stufe 4: Durchbruch
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Das Management untersucht Kosten und Konsequenzen und erkennt, dass ein anderer Ansatz verfolgt werden muss.
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Das Training wird vielfältiger bzw. spezifischer.
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Es werden Leitlinien entwickelt, die noch Stückwerk bleiben.
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Eine koordinierende Leitungsperson übernimmt die Verantwortung.
Stufe 5: Management
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Praxis und Prozesse werden den Gegebenheiten, dem Bedarf angepasst.
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Unterschiedliche Leitlinien und Verfahrensanweisungen werden zu einem Gesamtkonzept integriert.
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Das Management übernimmt Verantwortung, indem es den Umgang mit Aggression am Arbeitsplatz zur Managementaufgabe macht.
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Warnzeichen und Ursachen erlangen größere Beachtung und es entwickelt sich ein vertieftes Verständnis von Kausalketten.
Stufe 6: Integration
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Sicherheitsaspekte werden bei allen Tätigkeiten berücksichtigt.
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Präventiver Ansatz auf allen Ebenen.
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Aggression wird im direkten Zusammenhang mit Arbeitsaufgaben gesehen und weniger mit individuellen Qualitäten der Mitarbeiter:innen.
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Ein Modell des ganzheitlichen institutionellen Umgangs wird umgesetzt.
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Einbezug der Klient:innen7
Der Paradigmenwechsel hin zur „sicheren Institution“ kann und wird nicht von einem Tag auf den anderen stattfinden, dennoch ist konsequentes Handeln dringend gefordert. Um die komplexen Faktoren der Entstehung von Aggression und Gewalt bzw. die Wirkmechanismen von Prävention und Deeskalation verstehen und nutzen zu können, ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Sachverhalten vonnöten. Wie anhand des Modells von Leadbetter dargestellt, muss sich dieses Verständnis auf allen Ebenen durchsetzen.
Es ist die Aufgabe aller beteiligten Berufsgruppen, eine konstruktive Grundhaltung Menschen gegenüber einzunehmen, Risikofaktoren zu kennen bzw. zu vermeiden und präventive Maßnahmen stringent umzusetzen. Dies reicht von der räumlichen Gestaltung von Wartebereichen über das Interaktionsverhalten, die Optimierung von organisatorischen Abläufen, den Einsatz von Assessmentinstrumenten bis hin zur konsequenten Nachbesprechung von Aggressions- bzw. Gewaltereignissen mit allen Betroffenen. Deeskalation bzw. Sicherheitsmanagement ist ein komplexes System, das „top-down, bottom-up“ gelebt bzw. praktiziert werden muss.
Wie bereits Konfuzius sagte: „Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.“
Literatur:
1 Thomann S et al.: Aggression im Gesundheitswesen: Haltung des Pflegemanagements. Pflegewissenschaft 2021; 2: 84-9 2 Internationale Arbeitskonferenz (ILO): Beendigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt. 2019: 108. Tagung 3 Schuffenhauer H, Hettmannsperger-Lippolt R.: Gewalt gegen Pflegende in Notaufnahmen. ASU-Zeitschrift für medizinische Prävention 2022; 57: 98-105 4 Schablon A et al.: Risk of burnout among emergency department staff as a result of violence and aggression from patients and their relatives. Int J Environ 2022; 19(9): 4945 5 Petersen J, Melzer M: Gewalt in der ambulanten Pflege: Prävalenz, Antezedenzien und gesundheitliche Auswirkungen. Pflege und Gesellschaft 2023; 28: H2: 121-36 6 Schrenk O: Arbeitsschutz in Österreich. In: Walter G et al: Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement. 2. Auflage. bern: hogrefe, 2019; 433 7 Walter G et al: Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement. 2. Auflage. Bern: hogrefe, 2019. Seite 476 8 Walter G et al.: Es braucht Orientierung und Haltung. Aggressions- und Gewaltmanagement praktisch. Psychiatrische Pflege 2022; 7(1): 23-7 9 S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. 2018. Online unter https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-022 . Abgerufen am 22.2.2024
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