
Tinnitus-Retraining-Therapie mit Hörgeräten
Autor:
Prof.Dr. Johannes Schobel
Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
Zentrum für Tinnitus und Hyperakusis
St. Pölten
E-Mail: tinnituszentrum@schobel.at
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Die Therapie des chronischen und vor allem des chronisch-dekompensierten Tinnitus gilt weiterhin als therapeutische Krux unseres Fachgebietes. Die spezifische Anpassung von Hörgeräten mit und ohne Noiser hat sich als echter Gamechanger erwiesen.
Keypoints
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Die Tinnitus-Retraining-Therapie mit Kombinationsgeräten bzw. Noisern ist die mit Abstand wirksamste Methode zur Linderung von chronischem Tinnitus.
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Sie induziert eine Neuinterpretation und Überlagerung des Geräusches durch das Gehirn.
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Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit versierten Hörgeräteakustiker:innen kann die Lebensqualität von Betroffenen in einem hohen Ausmaß verbessern.
Ich beschäftige mich seit 30 Jahren mit dem Krankheitsbild des Tinnitus und betreibe seit 25 Jahren ein Tinnituszentrum in St. Pölten, das Patient:innen aus ganz Österreich betreut.
Während Tinnituspatient:innen in den 1990er-Jahren, als ich noch im Krankenhaus tätig war, im stationären Bereich eine relativ „unkomplizierte“ Patient:innengruppe waren, änderte sich das Bild nach Übersiedlung in meine Praxis nachhaltig: Im Gegensatz zu den stationär behandelten Patient:innen, die nach acht Tagen der früher durchgeführten Infusionstherapie mit vasoaktiven Substanzen doch eher mürbe wurden und meist bei Entlassung eine Besserung ihres Tinnitus angaben, beklagen die gleichen Patient:innen in der Sprechstunde danach, dass sich der Tinnitus überhaupt nicht gebessert habe.
Die einzig sinnvolle medikamentöse Therapie ist Cortison
Diese Erfahrungen stehen im Einklang mit allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, laut denen es bis jetzt keine einzige Substanz gibt, mit der man im Tierversuch eine Verbesserung der Durchblutung des Innenohres nachweisen konnte.
Die einzig sinnvolle medikamentöse Therapie – und dies auch nur bei akutem Tinnitus – ist die mehrtägige Gabe von Cortison, die jedoch keineswegs intravenös erfolgen muss. Nachdem die hoch dosierte Cortisonbehandlung beim Hörsturz therapeutisch gesehen mittlerweile wieder ad acta gelegt wurde, beginnen wir die Therapie beim akuten Tinnitus evidenzbasiert mit 60mg Aprednisolon über fünf Tage und dann im Laufe einer weiteren Woche langsam ausschleichend.
Ein Zentrum für schwierige Fälle
Das Frage ist also: Was tun mit jenen Patient:innen, bei denen die Akuttherapie versagt hat oder die nach längerer Zeit eines chronischen kompensierten Tinnitus plötzlich ins dekompensierte Stadium abgerutscht sind? Die Ursachen für solche Verschlechterungen eines schon lange Zeit vorbestehenden Tinnitus sind meist Stresssituationen, seelische Belastungen, Lärm oder eine Entwicklung Richtung Burnout.
Aus der schwerpunktmäßigen Beschäftigung mit diesen Patient:innen entstand vor 25 Jahren das Tinnituszentrum, das in der Zwischenzeit von mehr als 10000 Patient:innen aufgesucht wurde und in dem circa 3000 Patient:innen eine spezifische Tinnitustherapie durch eine Versorgung mit Hörgeräten bzw. Kombinationsgeräten erhielten – Letztere umfassen die Kombination eines Hörgerätes mit einem Rauschgenerator, einem Noiser, der einen weichen Klangteppich, ein sogenanntes weißes Rauschen, erzeugt.
Grundprinzip der Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)
Die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)beruht auf der Erkenntnis, dass Tinnitus primär kein „Ohrproblem“ ist, sondern in weiten Teilen im Gehirn entsteht und im limbischen System bewertet wird. Das Geräusch entsteht häufig, wenn zentrale Hörfilter im Gehirn fehlerhaft arbeiten oder periphere Hörinformationen fehlen – etwa bei einer Schwerhörigkeit. Die Folge: Das Gehirn registriert den Tinnitus als relevanten, potenziell bedrohlichen Reiz. Diese Fehlbewertung löst Stressreaktionen aus, die den Tinnitus wiederum verstärken. Dadurch entsteht ein Teufelskreis. Die Ziele der TRT sind:
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Umtrainieren der Hörwahrnehmung – der Tinnitus wird nicht mehr als Bedrohung, sondern als neutraler Reiz wahrgenommen.
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Reduktion des Leidensdrucks – bis hin zum völligen Ausblenden des Geräusches über lange Phasen.
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Verbesserung von Schlaf, Konzentration und emotionalem Wohlbefinden.
Die Behandlung erfolgt immer nach einem strukturierten Stufenplan, der an die individuelle Ausgangslage, Dauer und Art des Tinnitus sowie den Leidensdruck angepasst wird:
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Gründliche Untersuchung und Aufklärung: HNO-Diagnostik, Hörtests, Erfassung möglicher Ursachen, medizinische Abklärung von Begleiterkrankungen (z.B. Hörsturz, Morbus Menière, Otosklerose, Kiefergelenksprobleme, Halswirbelsäule).
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Beratung und Counseling: Vermittlung eines realistischen Krankheitsmodells und positiven Therapieziels, Reduktion von Ängsten („Damit müssen Sie leben“ gilt nicht); Aufzeigen, wie Stress, Schlaf und Lebensstil den Tinnitus beeinflussen, sowie detaillierte Aufklärung über die Entstehung des Tinnitus und die Therapieoptionen.
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Gerätetherapie: Einsatz von Noisern oder Kombinationsgeräten (Hörgerät + Noiser) mit dem Ziel, den Tinnitus durch ein sanftes Hintergrundrauschen zu überlagern und das Gehirn von der Fixierung auf das Geräusch zu lösen. Die Geräte werden individuell programmiert und können schon beim ersten Termin getestet werden.
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Ergänzende Maßnahmen: Biofeedback und Neurofeedback beim Psychologen zur Stressreduktion, psychologische Unterstützung bei Belastungen, Angst oder Depression, Schulung in Entspannungstechniken.
Die Rolle von Hörgeräten in der TRT
Die Hörgeräteakustiker:innen nehmen bei Behandlung der Tinnituspatient:innen eine Schlüsselrolle ein. Die Hörgeräteanpassung bei Tinnitus unterscheidet sich grundlegend von jener bei lediglich schwerhörenden Patient:innen. Sie erfordert eine andere, weil viel offenere Versorgung, andere Algorithmen der Verstärkung, fallweise auch ganz bestimmte Typen von Hörgeräten und sie erfordert vor allem eines: erfahrene Tinnitusakustiker:innen, die seit vielen Jahren mit Tinnituspatient:innen arbeiten und einen entsprechenden Erfahrungsschatz gesammelt haben.
Die Erkenntnis, dass die Hörgeräteakustiker:innen die eigentlichen Schlüsselspieler:innen sind, deren Arbeit über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, hat zu einer intensiven Zusammenarbeit mit interessierten Akustiker:innen bzw. Firmen geführt. Dieses Netzwerk erstreckt sich über ganz Österreich und ist der Schlüssel zum Erfolg der Behandlung meiner Patient:innen.
Hörgeräte als das zentrale Therapieelement
Viele von Tinnitus Betroffene leiden zugleich unter einer Hörminderung, oft in den hohen Frequenzen, auch wenn sie dies selbst noch nicht bemerken. Dieser Hörverlust führt dazu, dass dem Gehirn akustische Informationen fehlen, was die Entstehung und Aufrechterhaltung des Tinnitus begünstigt. Hörgeräte erfüllen hier zwei zentrale Aufgaben:
1. Ausgleich des Hörverlusts: Fehlende Frequenzbereiche werden wieder hörbar, wodurch das Hörsystem vollständiger mit Schallinformationen versorgt wird.
2. Tinnitusmaskierung: Durch die verstärkte Wahrnehmung von Umgebungsgeräuschen rückt der Tinnitus wieder in den Hintergrund.
Kombinationsgeräte mit integriertem Noiser sind daher besonders wirksam: Sie bieten neben der Hörverbesserung ein individuell anpassbares Rauschen, das gezielt aufden Tinnitus abgestimmt wird. In einer Bestandsaufnahme des Tinnituszentrums St. Pölten wurde die Therapie anhand von 68 Patient:innen evaluiert: Die Abbildungen 1 und 2 zeigen, dass der größte Therapiefortschritt bereits nach drei Monaten erreicht wird und die Patient:innen im Wesentlichenbereits nach dieser Zeit vom dekompensierten Zustand (6,3 von 10 möglichen Punkten) in den kompensierten Zustand (3,1 von 10 möglichen Punkten) gelangt sind und sich ihr Leidensdruck halbiert hat. Diese Ergebnisse bleiben stabil und bessern sich noch weiter.
Abb. 1: Der größte Therapiefortschritt wird bereits nach 3 Monaten erreicht und die Patient:innen gelangen im Wesentlichen bereits nach 3 Monaten vom dekompensierten Zustand (Selbsteinschätzung: 6,3 von 10 möglichen Punkten) in den kompensierten Zustand (3,1 von 10 möglichen Punkten) – der Leidensdruck hat sich halbiert (modifiziert nach Schobel J 2024)
Abb. 2: Ergebnisse anhand des evaluierten Mini-Tinnitus-Fragebogens (max. 20 Punkte). Die größte Verbesserung ergibt sich bereits nach 1 bis 3 Monaten (Reduktion der Belastungen um 57%). Nach 4 bis 12 Monaten ist eine Reduktion von 63% feststellbar. Danach liegt die gesamte Reduktion bei 69% – 12% mehr als nach 1 bis 3 Monaten (modifiziert nach Schobel J 2024)
Fazit
Die Tinnitus-Retraining-Therapie, also eine gezielte Hörgeräteversorgung mit Kombinationsgeräten oder für den ideal Hörenden mit reinen Noisern, ist heute für mich die mit am Abstand wirksamste Methode, um chronischen Tinnitus zu lindern. Sie setzt nicht bei der völligen „Heilung“ im klassischen Sinn an, sondern bei der Neuinterpretation und Überlagerung des Geräusches durch das Gehirn – mit dem Ziel, dass der Tinnitus seine Bedrohlichkeit verliert und aus dem Bewusstsein verschwindet. Durch die Kombination aus fachärztlicher Kompetenz, individueller Gerätetherapie und interdisziplinärer Zusammenarbeit können die meisten Patient:innen wieder zu einem weitgehend ungestörten Alltag zurückfinden.
Literatur:
beim Verfasser
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