Wir können nicht alle Patientinnen glücklich machen
Autor:
o. Univ.-Prof. Dr. Peter Husslein
em. Vorstand der Universitätsklinik für Frauenheilkunde,
Wien
E-Mail: ph@husslein.at
aufgezeichnet von: Dr. Felicitas Witte
Jahrzehntelang schrieb ich mit großer Freude Kolumnen. In meiner letzten erkläre ich, warum man die eigene Psychologie kritisch reflektieren sollte und wie man die richtige Balance zwischen Empathie und Distanz gegenüber seinen Patientinnen findet.
Ich schrieb jahrzehntelang für Speculum Kolumnen, bis zu vier pro Jahr. Das war großartig. Ich konnte schreiben, was ich wollte. Keiner hat mir widersprochen oder mich korrigiert – schließlich war ich Autor, Schriftleiter und Herausgeber in einem. Ich denke, es ist mir gelungen, gewisse Denkanstöße zu geben. Speculum aufzugeben, fiel mir schwer. Aber es ist im Leben wichtig, den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören zu finden. Es gibt viele Beispiele für einen zu späten Ausstieg. Man denke nur an bestimmte Politiker oder erfolgreiche Wirtschaftsbosse, an Sportler oder Opernsänger. Weil sie nicht loslassen können, schaden sie sich am Ende selbst.
Danach schrieb ich jahrelang mit der Unterstützung von Frau Doktor Witte Kolumnen für JATROS. Das war wesentlich aufwendiger. Unter den strengen Augen einer seriösen Journalistin mussten alle Behauptungen fundiert und belegt sein. Auch hier, finde ich, konnten wir ein paar interessante Überlegungen wälzen. Doch auch diese Kooperation muss einmal beendet werden. Hier lesen Sie meine letzte Kolumne. Diesmal sind es keine abgesicherten Feststellungen, sondern Gedanken aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung als Klinikchef und Betreiber einer breitgefächerten Frauenarztpraxis.
Medizin steht zwar auf dem Fundament wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie ist aber nicht Mathematik und nicht wie in der IT in Ja/Nein-Antworten aufzudröseln, sondern eine empirische Wissenschaft. Unser Wissen beruht neben klinischen Studien vornehmlich auf Erfahrung. Von bestimmten Ereignissen wissen wir zwar, dass sie häufig oder selten sind, aber auch wahrscheinliche Ausgänge schließen unwahrscheinliche nicht mit Sicherheit aus. Das hat wesentlichen Einfluss auf unsere Arzt-Patienten-Beziehung und kratzt am Begriff der „medizinischen Indikation“. Denn dieser suggeriert, es sei immer völlig klar, was in einer konkreten Situation zu tun ist, und nur wir Ärzte wüssten das. Im klinischen Alltag gibt es aber fast nie nur eine Lösung für ein Problem, sondern meist verschiedene Zugänge mit Vor-und Nachteilen. Der notwendige Respekt vor der Autonomie unserer Patientinnen erfordert es, unseren medizinischen Blickwinkel mit der persönlichen Einschätzung der Betroffenen in Einklang zu bringen. Es ist das gute Recht einer Patientin, sich ihre Risken und die möglichen Endpunkte einer Behandlung auszusuchen. Denn schließlich ist sie die Leidtragende, wenn eine Komplikation oder ein unerwünschtes Ergebnis eintritt.
Wir Ärzte haben eine uns manchmal „fehlsteuernde“ Psychologie. Ist eine Komplikation eingetreten, ist uns das verständlicherweise unangenehm und wir neigen dazu, einen Bogen um die Patientin zu machen. Nichts könnte falscher sein. Gerade jetzt braucht die Patientin den Arzt, zu dem sie ein Vertrauen aufgebaut hat, um die neue, unerwartete Situation zu analysieren. Auch besteht die Gefahr, dass wir eine notwendige Revision unnötig lange hinauszögern und hoffen, dass wir es „aussitzen“ können. Gelegentlich ist es zwar gut, zuzuwarten, aber manchmal nicht. Wir müssen dies objektiv beurteilen und dürfen uns nicht von unseren Gefühlen leiten lassen. Man sollte sich bei Komplikationen auch nicht scheuen, andere Experten hinzuzuziehen. Von einem meiner Lehrer habe ich gelernt: „Eine Revision muss das Problem endgültig sanieren!“ Und von einem anderen: „Passieren kann alles, aber man muss es erkennen!“ Auch auf Beschwerden sollte man emotionslos reagieren. Die natürliche Reaktion ist, dass man sich ärgert, insbesondere dann, wenn die Beschwerde zu Unrecht erfolgt. Mit einer sachlich-konstruktiven oder gar betont freundlichen Reaktion überrascht man meist die Beschwerdeführerin und kann ihre kritische Haltung sogar komplett umdrehen. Gelegentlich ist es aber richtig, seinen Emotionen zu folgen. Zeigt es sich zum Beispiel, dass die Interaktion mit einer bestimmten Patientin nicht funktioniert, obwohl man sich sehr bemüht, ist es oft besser, die Behandlung höflich, aber bestimmt zu beenden. Man kann nicht alle Patientinnen glücklich machen. Empathie gegenüber dem Schicksal unserer Patientinnen ist wichtig, aber eine gewisse Distanz als Selbstschutz ist ebenso notwendig. Sonst laufen wir Gefahr, die große Befriedigung unseres Berufes nur eingeschränkt genießen zu können. Manchmal sind wir gekränkt oder verärgert, wenn eine Patientin eine bedeutende medizinische Leistung nicht genügend wertschätzt. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir andersherum häufig auch ohne Berechtigung überschwänglichen Dank empfangen.
Frauenheilkunde ist ein wunderbarer Beruf. Wir begleiten unsere Patientinnen von der Pubertät bis ins hohe Alter. Oft sind wir der einzige medizinische Ansprechpartner in ihrem Leben, gleichsam ihr lebenslanger „praktischer Arzt“. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen die gleiche Freude in ihrem Beruf, wie ich sie jahrzehntelang genießen durfte. Und JATROS wünsche ich weiterhin so großen Erfolg wie in den vergangenen Jahren.
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