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„Menschlich, unterstützend, empathisch“

„Lancet“ hat kürzlich drei Artikel zum Thema Fehlgeburten veröffentlicht,1–3 denn das Thema gehe in der Öffentlichkeit nach wie vor unter und es gebe viele Missverständnisse. Prof. Tempfer, einer der Autoren der AWMF-Leitlinie zu wiederholten Spontanaborten,4 erklärt, warum die Situation hierzulande anders ist und wie man als junger Mediziner lernt, für die Frauen die richtigen Worte zu finden und selbst mit der psychologischen Belastung klarzukommen.

Was halten Sie von dem Schwerpunkt in „Lancet“? Hat es wirklich drei solch ausführliche Artikel gebraucht?

C. Tempfer: Dass „Lancet“ dem Thema so viel Platz widmet, finde ich gut. Im Editorial zu den drei Artikeln heißt es: „For too long miscarriage has been minimised and often dismissed.“ Das trifft zu, wenn wir das Problem global betrachten. In ärmeren Ländern sind die medizinische Betreuung der Betroffenen und die Abklärung von wiederholten Fehlgeburten häufig mangelhaft. Für Deutschland, Österreich und die Schweiz trifft die Aussage aber nicht zu.

Sie mögen recht haben. Aber haben wir Daten, dass die Betroffenen in Deutschland, Österreich und der Schweiz gut betreut werden? Schließlich ist immer wieder von Frauen zu hören, dass sie sich alleine gelassen und stigmatisiert fühlen.

C. Tempfer: Ich kann das nach mehr als 25 Jahren medizinischer Praxiserfahrung mit Gewissheit sagen. Aus meiner Sicht ist das definitiv so. In nunmehr vielen Jahren intensiver Beschäftigung mit diesem Thema ist mir eine derartige Problematik nicht begegnet, ganz im Gegenteil. Es gab und gibt viele Diskussionen über die zu intensive Betreuung von betroffenen Frauen, insbesondere was unnötige und nicht evidenzbasierte diagnostische Maßnahmen betrifft. Nach meinem besten Wissen gibt es keine Evidenz dafür, dass die Betreuung von Frauen mit wiederholten Fehlgeburten mangelhaft wäre.

Werden die körperlichen und psychischen Konsequenzen einer Fehlgeburt unterschätzt?

C. Tempfer: Weder die körperlichen noch die psychischen Konsequenzen werden im deutschsprachigen Raum unterschätzt. Dieses sehr hohe Versorgungsniveau gilt jedoch nicht bei einer globalen Betrachtungsweise. Insbesondere die psychologischen Konsequenzen einer Fehlgeburt sind gravierend. Deshalb umfasst die Leitlinie4 auch ein eigenes Kapitel zu diesem Thema und empfiehlt eine psychologische Unterstützung betroffener Frauen.

Wiederum eine provokante Rückfrage: Wenn es so wäre, wie Sie sagen, wozu bräuchte es dann die vielen Selbsthilfegruppen, etwa die „Schmetterlingskinder“, die „Schmetterlingsseelen“, die „Sternenkinder“ oder die „Initiative Regenbogen“?

C. Tempfer: Wenn Sie Belege dafür haben, dass die körperlichen und psychischen Konsequenzen von Fehlgeburten unterschätzt werden, legen Sie diese bitte vor. Wenn es dafür keine Belege gibt, werden Sie wohl meine Expertise und Erfahrung akzeptieren müssen. Niemandem ist durch provokative Behauptungen geholfen, auch wenn solche Behauptungen das Thema aus journalistischer Sicht interessanter machen.

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie im Ultraschall ein schlagendes Herz sehen müssten, aber keines sehen?

C. Tempfer: Eine Fehlgeburt ist jedes Mal ein erschütterndes Erlebnis und kann psychisch ziemlich belasten. Die Situation ist immer sehr unterschiedlich und es kommt darauf an, den individuellen Bedürfnissen jeder einzelnen Frau gerecht zu werden. Ein psychologisches Unterstützungsangebot ist immer sinnvoll, eine fachpsychiatrische Betreuung nur in seltenen Ausnahmefällen.

Was raten Sie jungen Kollegen: Wie findet man die richtigen einfühlsamen Worte?

C. Tempfer: Es gibt Seminare und Workshops mit dem Thema „Wie überbringe ich schlechte Nachrichten“, die ärztlichen Kollegen Unterstützung bieten können.

Und wie lernt man, als Arzt mit der psychologischen Belastung klarzukommen?

C. Tempfer: Eine systematisch implementierte psychologische Unterstützung von Ärzten, die Frauen mit Fehlgeburten betreuen, gibt es nach meinem Wissen im deutschsprachigen Raum nicht. Jeder Arzt, jede Ärztin ist grundsätzlich selbst in der Lage, sich professionelle Hilfe zu holen. Sollte ich bei einem Mitarbeiter Zeichen der psychischen Dekompensation feststellen, würde ich unterstützend einschreiten.

Gerade wird die AWMF-Leitlinie zur Frühgeburt überarbeitet und Sie sind einer der beiden Hauptautoren. Ein Punkt, der diskutiert wird, ist die Frage, ab wann man eine ausführlichere Diagnostik einleitet. Manche Ihrer Kollegen sollen dafür plädieren, erst ab der dritten Fehlgeburt, andere meinen, schon nach der zweiten. Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen?

C. Tempfer: Es gibt international unterschiedliche Definitionen, ab wann man von wiederholten Fehlgeburten spricht. Eine einheitliche Definition wird derzeit diskutiert, ist aber noch nicht final beschlossen worden. Dabei geht es im Kern um die Frage, welche Definitionen in den einschlägigen Studien – deren Ergebnisse zentral für die Empfehlungen sind – verwendet wurden.

Welche Definition halten Sie für besser, und warum?

C. Tempfer: Ich persönlich finde die aktuelle Definition am sinnvollsten: drei konsekutive Fehlgeburten vor der 20. Schwangerschaftswoche. Allerdings sollte meiner Meinung nach die Empfehlung ausgesprochen werden, dass bei Frauen über 35 Jahre bereits nach zwei konsekutiven Fehlgeburten eine Abklärung gemäß der Leitlinie erfolgen soll. Dies ist aber wie gesagt noch nicht final ausdiskutiert und beschlossen.

Was halten Sie von dem „graded model of care“, das die „Lancet“-Autoren vorschlagen?

C. Tempfer: Das vorgeschlagene Modell ist für Schwellenländer und vor allem für Entwicklungsländer gedacht. Für Industrieländer wie Deutschland, Österreich und die Schweiz sind die genannten diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen allesamt Standard und stehen deshalb nicht infrage.

Was raten Sie Ihren Kollegen, vor allem den unerfahreneren: Was ist das Wichtigste bei der Betreuung einer Frau mit Fehlgeburt?

C. Tempfer: Wie überall in der Medizin soll auch bei diesem Thema gute Medizin gemacht werden, das heißt: menschlich, unterstützend und empathisch. Wichtig ist zudem, dass evidenzbasiert diagnostiziert und therapiert und entsprechend den Ressourcen des jeweiligen Gesundheitssystems auf dem höchstmöglichen Versorgungsniveau gearbeitet wird. Die Leitlinie enthält viele Informationen zum Thema, ist auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand und daher für Kollegen empfehlenswert. Die Leitlinie ist eine Wissensgrundlage, um betroffenen Patientinnen in dieser schwierigen Lebenslage zu helfen. Allerdings reicht dieses Wissen alleine nicht aus, um Frauen mit Fehlgeburten optimal zu betreuen. Daher muss man auch darauf vorbereitet sein, die Frauen in dieser schwierigen Situation empathisch zu begleiten. Der Arzt kann die Fehlgeburt nicht rückgängig machen, aber durch eine medizinisch optimale und menschlich einfühlsame Betreuung die betroffene Frau behandeln und unterstützen.

Weiterführende Informationen finden Sie im Interview mit Prof. Dr. Peter Husslein
„Abklärungsschemata sind oft nutzlos“

1 Quenby S et al.: Lancet 2021; 397: 1658-67 2 Coomarasamy A et al.: Lancet 2021; 397: 1668-74 3 Coomarasamy A et al.: Lancet 2021; 397: 1675-82 4 Diagnostik und Therapie von Frauen mit wiederholten Spontanaborten. AWMF 015/050; www.awmf.org

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