
AI in der Reproduktionsmedizin
Autor:
Univ.-Prof. Dr. Heinz Strohmer
Kinderwunschzentrum an der Wien
Wien
Kein Thema bewegt derzeit die Menschen mehr als künstliche Intelligenz (AI – „artificial intelligence“). Wiewohl in der Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte zu verzeichnen waren, hat sich jetzt ein gewisses Plateau bei den Erfolgsraten eingestellt, und daher ist die Frage naheliegend: Kann die AI zur Steigerung der Schwangerschaftsrate beitragen bzw. welche Anwendungen dieser Technologie sind in der Reproduktionsmedizin sinnvoll und vorstellbar? Dabei kann es hilfreich sein, auf der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Intelligenz“ aufzubauen, im Sinne von „entscheiden“ oder „einschätzen“. Die AI besticht dabei mit der Fähigkeit, diese Entscheidungen und Vorhersagen aufgrund der Analyse von großen Datenmengen zu treffen, in denen sich bestimmte Muster verbergen. In den folgenden Anwendungsfeldern ist der Einsatz von AI denkbar oder findet bereits statt.
Prognose des Behandlungserfolges
Da die Behandlung mit In-vitro-Fertilisation (IVF) mit großen physischen, psychischen, aber auch finanziellen Belastungen einhergeht, erwarten sich die betroffenen Paare eine realistische Einschätzung der Erfolgsaussichten, letztlich die Aussage, wie wahrscheinlich die Geburt eines Kindes eintreten wird. Nachdem in diese Einschätzung zahlreiche Parameter einzubeziehen sind, bieten sich hier besonders gut AI-Anwendungen an. Das schließt auch die Fragestellung ein, ob nach einem frustranen Outcome ein weiterer Versuch noch sinnvoll ist.Beispiele für eine derartige Anwendung sind Univfy® oder Success Predictor™ von ALIFE.
Stimulationsplanung
Die kontrollierte ovarielle Hyperstimulation ist die Grundlage einer erfolgreichen IVF-Behandlung. Verschiedene Faktoren entscheiden über die „Qualität“ dieses Behandlungsschrittes, der im Idealfall die Gewinnung einer ausreichenden Anzahl an hochqualitativen Eizellen ermöglicht. Das soll u.a. erreicht werden mit 1. einer möglichst geringen Dosierung der Stimulationsmedikation, um die Belastung der Patientin kleinzuhalten und die Behandlungskosten zu minimieren, 2. einer geringen Anzahl an notwendigen Ultraschall- und Laborkontrollen und 3. einer geringen Rate an Nebenwirkungen und Komplikationen, wie z.B. dem Überstimulationssyndrom. Grundlage für die Entscheidung in Bezug aufdas Protokoll und die Dosierung sind vor allem Lebensalter, Anzahl der antralen Follikel, Anti-Müller-Hormon-Spiegel, die Anamnese und die Indikation zur Behandlung. Waren bisher die Möglichkeiten der Individualisierung überschaubar, bietet die AI die Aussicht auf eine personalisierte Auswahl des Protokolls und der Gonadotropindosis sowie auf eine exakte Bestimmung des Punktionszeitpunktes, basierend auf der automatisierten Auswertung der Ultraschallbilder. Dabei greifen die Programme auf tausende Stimulationszyklen zurück und lernen mit jedem Zyklus weiter. Beispiele dazu sind Stim Assist™ von ALIFE oder FolliScan™ von MIM Fertility.
Beurteilung und Auswahl der Embryonen
Die Kulturbedingungen wurden inzwischen so weit verbessert, dass eine Kultur der Embryonen routinemäßig bis zum fünften Tag ins sog. „Blastozystenstadium“ möglich ist. Die Beurteilung erfolgt in dieser Zeit durch erfahrene Embryolog:innen anhand von Kriterien wie Symmetrie, Anzahl der Blastomeren und Fragmentation (Abb. 1). Bisher war das eine „statische“ Beurteilung, die Embryonen konnten dazu nur kurz dem Inkubator entnommen werden, um die Kulturbedingungen möglichst wenig zu beeinflussen. Die sog. „Time lapse“-Technologie eröffnet jetzt völlig neue Möglichkeiten. Die Kombination aus Inkubator und Mikroskop liefert kontinuierliche Bilddaten über mehrere Tage, die sich zu einem dynamischen Zeitrafferfilm zusammenfassen lassen. Plötzlich steht dadurch eine Vielzahl von morphokinetischen Parametern zur Verfügung, z.B., wie viele Stunden jeder Embryo bis zur ersten Zellteilung benötigt. Die AI-Modelle wurden mit großen Mengen dieser Parameter trainiert und bieten mittlerweile eine vergleichbare, wenn nicht sogar überlegene Genauigkeit, den Embryo mit der höchsten Implantationswahrscheinlichkeit auszuwählen. Beispiele dazu sind AIVF™, Embryo Assist™ von ALIFE, Chloe™ von Fairtility, EmbryoAID™ von MIM Fertility oder Violet™ von FutureFertility.
Abb. 1: Stadien der Eizell- und Embryonalentwicklung während eines IVF-Zyklus
Herausforderungen, Möglichkeiten und Risken
Wie anhand der oben genannten Beispiele zu sehen ist, finden diese Entwicklungen vor allem in der Privatwirtschaft statt. Überwiegend werden die Produkte durch Start-ups entwickelt, die z.T. als Spin-off aus dem universitären Umfeld gegründet wurden. Da für das Training der AI-Modelle eine äußerst große Anzahl an Trainingsdatensätzen notwendig ist, kann nämlich ein einzelnes Zentrum kaum derartige Modelle selbst entwickeln. Um daher diese Produkte anwenden zu können, müssen Daten an das beauftragte Unternehmen übermittelt werden. Das wirft Fragen auf:
-
Wer trägt die Verantwortung für eine fehlerhafte Einschätzung bzw. Empfehlung durch das AI-Modell?
-
Kann die Entscheidung der AI überhaupt nachvollziehbar gemacht werden?
-
Sind die Trainingsdaten des Modells auf die eigenen Daten anwendbar?
-
Wie ist der Behandlungsvertrag mit dem Paar geregelt?
-
Wie sind der Datenschutz bei der Übertragung und der Zugriff dieser externen Anbieter auf diese sehr sensiblen Gesundheitsdaten geregelt?
Dabei ist zu bedenken, dass die Firmen z.T. außerhalb der Europäischen Union angesiedelt sind und damit anderen gesetzlichen Regelungen unterliegen.
Die Integration dieser AI-Modelle in die Routine erfordert einige Anpassungen:
-
Die erste Herausforderung kann sein, auf jegliche Papierdokumentation verzichten zu müssen, weil digitale Daten die einzige Grundlage für die AI-Verarbeitung sind. Selbst wenn die Kinderwunscheinrichtung hier schon sehr fortgeschritten ist, müssen die AI-Produkte in die bestehende Zentrumssoftware, z. B. mittels Schnittstellen, und in die Laborprozesse integriert werden.
-
Um eine Verbesserung überhaupt wahrnehmen zu können, braucht es etablierte Kennzahlen, sog. „key performance indicators“ (KPIs), denn nur so ist zu sehen, ob die AI zur gewünschten Veränderung dieser KPIs geführt hat.
-
Es bestehen gesetzliche Verpflichtungen, das Team im Umgang mit AI zu schulen. So schreibt Artikel 4 des EU-KI-Acts seit Februar 2025 vor, dass jene Personen, die mit dem AI-System operieren, dessen Risiken und Chancen verstehen müssen, um das System sachkundig einzusetzen und sich möglicher Schäden bewusst zu werden.
-
Die Patient:innen müssen über den Einsatz des AI-Modells aufgeklärt werden, die Verantwortlichkeiten in der Erbringung der Leistung müssen klar geregelt sein. Es ist denkbar, dass sie der Verwendung von AI zustimmen müssen, da sie u. U. bevorzugen, dass der Embryo durch einen Menschen statt durch eine Maschine ausgewählt wird.
Natürlich sind auch Vorteile zu erwarten:
-
Die Standardisierung und Objektivierung der Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit und der Entscheidungen zur Stimulation und Auswahl der Embryonen
-
Eine Steigerung der Erfolgsrate
-
Ein weiterer Schritt zur zunehmenden Automatisierung der IVF-Behandlung
-
Geringerer Personalbedarf und darüber hinaus ein Bedeutungsschwund der Reproduktionsmediziner:innen und Embryolog:innen
Es ist schon jetzt offensichtlich, dass der Siegeszug der AI in der Reproduktionsmedizin nicht mehr aufzuhalten ist. Weitere Anwendungen sind schon absehbar und erlauben u.U.:
-
die Auswahl genetisch unauffälliger Embryonen ohne invasive Maßnahmen wie Polkörperchen- oder Trophoblastbiopsie,
-
die Aufbereitung der verschiedenen „Omics“-Informationen, wie Proteomics, Metabolomics der Embryonen, aber auch des Endometriums,
-
die Darstellung des Echtzeit-Status einer Kinderwunscheinrichtung unter der Verwendung der oben genannten KPIs und deren Echtzeit-Vergleich mit anderen Einrichtungen im Sinne eines Benchmarkings mit gezielten Hinweisen auf Bereiche mit Verbesserungspotenzial.
Schlussbemerkung
Natürlich war es verlockend, diesen Artikel im Sinne von „quod erat demonstrandum“ durch eine AI-Lösung verfassen zu lassen, und ChatGPT hat auch innerhalb von wenigen Sekunden eine ausgezeichnete Abhandlung verfasst. Ich habe schlussendlich nicht darauf zurückgegriffen. Klar ist jedoch, dass sich durch AI nicht nur in der Reproduktionsmedizin, sondern auch in Hinblick auf wissenschaftlich-medizinische Autorenschaft und Expertentum dramatische Umwälzungen abzeichnen.
Literatur:
beim Verfasser
Das könnte Sie auch interessieren:
Welche Risiken sind zu erwarten?
Die präventive Mastektomie wird vor allem bei genetischer Vorbelastung, z.B. bei BRCA1/2-Mutationen, erwogen. Der Eingriff kann das Brustkrebs-Erkrankungsrisiko deutlich reduzieren, aber ...
Operative Therapie und Risikoreduktion bei BRCA-Mutations-Trägerinnen
Familiäre Krebserkrankungen, besonders durch pathogene Genveränderungen bedingt, sind vermehrt in den Fokus der Forschung gerückt. Dies zeigt sich vor allem bei Brustkrebs (BC). Das ...
Pharmakogenetik zur Vermeidung unerwünschter Arzneimittelwirkungen
Alle praktizierenden Mediziner:innen hatten schon einmal mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen zu kämpfen. Wir gehen davon aus, dass diese Nebenwirkungen ein unangenehmer Teil von ...