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Belastungs- und Dranginkontinenz zunächst konservativ behandeln
Leading Opinions
30
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21.09.2017
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<p class="article-intro">Belastungs- und Dranginkontinenz, Deszensusbeschwerden und Harnwegsinfekte sind häufige urogynäkologische Krankheitsbilder. Über die konservativen Therapiemöglichkeiten und die präoperative Abklärung urogynäkologischer Patientinnen in der Praxis referierten Prof. Dr. med. Volker Viereck und Dr. med. Gloria Ryu von den Beckenbodenzentren der Kantonsspitäler Frauenfeld und Aarau.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Therapie einer Harninkontinenz – gleichgültig, ob es sich um eine Drang- oder eine Belastungsinkontinenz handelt – erfolgt zunächst konservativ.</li> <li>Eine bewährte Massnahme zur Behandlung der Belastungsinkontinenz ist das Beckenbodentraining, bei dem unterschiedliche Verfahren und Hilfsmittel kombiniert werden.</li> <li>Eine Dranginkontinenz wird zum Teil mit den gleichen Verfahren behandelt wie die Belastungsinkontinenz. Zusätzlich können muskelrelaxierende Medikamente eingesetzt werden.</li> </ul> </div> <p>Man unterscheidet zwei Hauptformen der Harninkontinenz: die Belastungs- und die Dranginkontinenz. Die Ursache der Belastungsinkontinenz ist eine Beeinträchtigung des Harnröhrenverschlusses oder eine Schwächung der Beckenbodenmuskulatur. Bei physischer Belastung oder intraabdomineller Druckerhöhung wie beim Husten oder Niesen kommt es zu einem unfreiwilligen Urinabgang. Die Belastungsinkontinenz kann schon in jüngeren Jahren auftreten, zum Beispiel nach Schwangerschaft oder Geburt. Weitere Risikofaktoren sind Alter, Abnahme der Sexualhormone, Adipositas und Rauchen. Die initiale Behandlung erfolgt immer konservativ. Die erfolgreichste konservative Therapie ist die Beckenbodengymnastik zur Stärkung der Willkürmotorik. „Das moderne Beckenbodentraining ist funktionell orientiert und kombiniert Vibrationstherapie, etwa mit dem Galileo®, mit traditionellen Hilfsmitteln wie Theraband® oder Gymnastikball“, sagte Prof. Volker Viereck vom Blasen- und Beckenbodenzentrum am Kantonsspital Frauenfeld. Nicht kombinierte Trainingsmethoden wie das alleinige Anspannen des Beckenbodens werden heute selten angewendet. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit ist die Pessartherapie. Pessare drücken von dorsal auf die Harnröhre und führen zur Kontinenz. Zur Verfügung stehen neben Silikon- auch Schaumstoffpessare. «Der Erfolg der Pessartherapie stellt sich im Unterschied zum Beckenbodentraining sofort ein», sagte der Urogynäkologe. Wichtige Voraussetzungen sind neben der korrekten Indikation die Wahl des richtigen Modells und ein guter Sitz des Pessars. Die lokale Östrogenisierung zum Wiederaufbau der Vaginalhaut spielt vor allem nach den Wechseljahren eine Rolle. Lokal angewendete Östrogene haben darüber hinaus eine positive Wirkung auf die Willkürmuskulatur und erleichtern die Einführung des Pessars. Bei vielen Frauen mit Belastungsinkontinenz nimmt nach den Wechseljahren die Drangsymptomatik zu. Es entsteht eine Mischharninkontinenz.</p> <h2>Hoher Leidensdruck bei Dranginkontinenz</h2> <p>Die hyperaktive Blase („overactive bladder“, OAB) oder Reizblase ist eine idiopathische Erkrankung, bei der es zu einem imperativen Harndrang und – ausgelöst durch unkontrollierbare Blasenkontraktionen – oft zu unfreiwilligem Urinverlust kommt. Die Erkrankung ist definiert als Pollakisurie mit mehr als acht Miktionen pro Tag und mehr als einer Miktion pro Nacht. «Der Leidensdruck bei einer Dranginkontinenz ist höher als bei der Belastungsinkontinenz, weil sich bis zur Hälfte der Blase spontan entleeren kann», wie der Referent sagte. Da die Dranginkontinenz oft als Begleitsymptom von anderen Erkrankungen auftritt, müssen andere Ursachen vor der Diagnose ausgeschlossen werden (Tab. 1).<br /> Die Behandlung der Dranginkontinenz erfolgt multimodal und zum Teil mit den gleichen Bausteinen wie bei der Belastungsinkontinenz. Unterstützt wird die Behandlung durch die richtige Intimpflege und eine lokale Östrogenisierung. Dabei sei darauf zu achten, dass die Haut schon vor dem Duschen, Velofahren etc. mittels einer speziellen Fettcreme geschützt wird und nicht erst danach. Zur Blasenentspannung werden Anticholinergika (Vesicare<sup>®</sup>, Emselex<sup>®</sup>, Detrusitol SR<sup>®</sup>, Spasmourgenin<sup>®</sup>, Kenter<sup>®</sup>) oder ein Beta-3-Adrenozeptor-Agonist (Betmiga<sup>®</sup>) eingesetzt. Die Kombination beider Wirkstoffe ist auch möglich. Komplementäre Behandlungsmethoden wie Phytotherapeutika (Tee) und Akupunktur können ebenfalls hilfreich sein.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Gyn_1702_Weblinks_s18_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="898" /></p> <h2>Senkungen treten meistens kombiniert auf</h2> <p>Welche Form des Deszensus vorliegt, ist davon abhängig, ob das vordere, mittlere oder hintere Beckenbodenkompartiment betroffen ist. In der Regel handelt es sich um kombinierte, selten um isolierte Deszensussituationen. Typische Deszensussymptome sind Druck- und Senkungsgefühl, ziehende Unterbauch- und Rückenschmerzen, Reizblase, Blasen- und Darmentleerungsstörungen und Stuhl- und Harninkontinenz. Etwa 7–23 % der Frauen sind von einem symptomatischen Prolaps betroffen. In der Schweiz werden pro Jahr etwa 4000 Prolaps-Operationen durchgeführt, davon ein Drittel aufgrund von Rezidiven. Die konservative Therapie besteht aus Physiotherapie mit Beckenbodentraining und Pessartherapie, gegebenenfalls in Kombination mit lokaler Östrogenisierung.</p> <h2>Prophylaktische Massnahmen bei Harnwegsinfekten</h2> <p>Die Infektion der Harnwege erfolgt durch aszendierende Keime aus dem Enddarm. Per definitionem liegt eine Harnwegsinfektion (HWI) vor, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: >105 Keime/ml im Mittelstrahlurin oder 103–104 Keime/ ml im Mittelstrahlurin bei klinischen Symptomen und Reinkultur oder eine Kolonie im Katheterurin oder nach Blasenpunktion. Von einem rezidivierenden HWI spricht man bei mehr als zwei HWI innerhalb von sechs Monaten oder mehr als drei HWI pro Jahr. Die Mittel der ersten Wahl zur kurzzeitigen Antibiotikatherapie bei unkomplizierter Zystitis sind gemäss Guidelines Fosfomycin (Monuril<sup>®</sup>), Nitrofurantoin (Uvamin<sup>®</sup> retard) oder Trimethoprim- Sulfamethoxazol (Bactrim<sup>®</sup> forte). Die Wahl erfolgt bei akuten Symptomen blind, muss aber gegebenenfalls nach Bestimmung der Keimresistenzen angepasst werden.<br /> Viereck forderte angesichts der weltweiten Zunahme von Resistenzen einen verantwortungsvollen Umgang mit Antibiotika und eine Ausschöpfung von prophylaktischen Massnahmen. Zur Vorbeugung rezidivierender HWI ist die Einnahme von Preiselbeerprodukten (z.B. Biotta<sup>®</sup> Preiselbeersaft, Alpinamed<sup>®</sup> Preiselbeer- Granulat), D-Mannose (Hänseler D-Mannose) oder Substanzen zum Aufbau der Blasenwand (Glycosaminoglycan- Schicht) empfohlen, unter anderem Ialuril<sup>®</sup> oder Gepan<sup>®</sup> instill. A-Typ-Proanthocyanidin, der Wirkstoff der Preiselbeere, resp. die D-Mannose verhindern das Andocken der Bakterien an die Blasenwand. Gegen rezidivierende HWI mit Escherichia coli gibt es auch eine Schluckimpfung (Uro-Vaxom<sup>®</sup>), die für Kinder ab vier Jahren zugelassen ist und in Kombination mit Antibiotika angewendet werden kann. Weitere Impfungen mit genetisch modifizierten, nicht pathogenen Escherichia-coli-Stämmen befinden sich in Entwicklung.</p> <h2>Präoperative Abklärung und Vorbereitung urogynäkologischer Patientinnen</h2> <p>Die präoperative Basisdiagnostik umfasst neben der vaginalen Untersuchung und ausführlichen Anamnese die Auswertung des Miktionskalenders, die Infektabklärung und die Perinealsonografie. Die Anamnese mit Fragen, unter anderem zu vorhergehenden Therapien und aktuellen Beschwerden, ist oft richtungsweisend für die Diagnose. Wichtig ist zudem die Medikamentenanamnese: «Viele Blasenbeschwerden treten in Zusammenhang mit Medikamenteneinnahmen, beispielsweise von Diuretika oder Psychopharmaka, auf», sagte Dr. Gloria Ryu vom Beckenbodenzentrum des Kantonsspitals Aarau. Nicht wegzudenken sei der standardisierte Beckenbodenfragebogen mit 42 Fragen zu Blasen- und Darmfunktion, Senkungsbeschwerden und Sexualität. Dieser wird den Patientinnen im Vorfeld der gynäkologischen Abklärung, zusammen mit dem Miktionskalender, zugestellt.<br /> Bei der vaginalen Inspektion von Patientinnen mit urogynäkologischen Beschwerden sollte auf die Hautfaltung von Scheide und Perineum geachtet werden. Der Anus sollte ebenfalls in die Untersuchung mit einbezogen werden. «Wichtig ist, dass jedes Beckenbodenkompartiment für sich beurteilt wird», sagte die Gynäkologin. Bei der Zystozele ist die Unterscheidung zwischen einem paravaginalen und einem zentralen Prolaps wichtig. Bei der zentralen Zystozele liegt eine Dehnung der endopelvinen Faszie mit verstrichenen Hautfalten und erhaltenen lateralen Vaginalsulci vor. Bei der paravaginalen Zystozele deszendiert die gesamte urethrovesikale Einheit aufgrund der fehlenden lateralen Aufhängung am Arcus tendineus. Die Hautfaltung ist bei dieser Form der Zystozele intakt, die Sulci sind dagegen verstrichen.<br /> Bei einem Uterusvorfall deszendiert die Portio in die Scheide. Die rektale Untersuchung bei einer Rektozele dient dazu, die Lücke zu finden, durch die das Rektum nach vorne in die Scheide prolabiert. Die bimanuelle Untersuchung ist indiziert, um eine Enterozele zu diagnostizieren. Wichtig ist auch die Durchführung eines sogenannten Testings, mit dem Ziel, die Spannung der Beckenbodenmuskulatur zu ermitteln. Der Hustentest sollte bei voller Blase, zunächst im Liegen, bei negativem Befund im Stehen, gegebenenfalls beim Hüpfen, durchgeführt werden. «Bei vorliegendem Deszensus sollte der Hustentest erst nach der Reposition der Senkung durchgeführt werden, damit eine versteckte Belastungsinkontinenz erkannt wird», sagte die Gynäkologin.<br /> Die Infektabklärung erfolgt mit dem Streifentest, bei Bedarf werden zusätzlich Abstriche von Urethra und Zervix durchgeführt. Die Durchführung von Urinkulturen ist bei rezidivierenden HWI indiziert. Die Perinealsonografie ist praktisch überall verfügbar und liefert wichtige Zusatzinformationen, darunter feinstrukturelle Informationen der urethrovesikalen Einheit und dynamische Informationen zum besseren Verständnis der Beckenbodenpathologie. Bei jeder erfolglos behandelten, störenden oder unklaren Inkontinenzform und bei Patientinnen mit komplexer Vorgeschichte oder Rezidivinkontinenz ist die Durchführung einer Urodynamik indiziert. Die Untersuchung erfolgt in aller Regel in spezialisierten Praxen oder Beckenbodenzentren.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Update Refresher Gynäkologie, 15. Mai 2017, Technopark
Zürich
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