
Auf den Spuren der weiblichen überaktiven Blase
Universitätsklinik für Frauenheilkunde<br> Medizinische Universität Wien<br> E-Mail: marianne.koch@meduniwien.ac.at
Das Erkrankungsbild der überaktiven Blase betrifft geschätzt 13–20% der weiblichen Bevölkerung. Dennoch erscheint die Pathogenese dieser häufigen Erkrankung nach wie vor unklar. Ein Zusammenspiel aus neuronalen, myogenen und inflammatorischen Prozessen wird vermutet, jedoch ist die Evidenz gering.
Überaktive Blase ist ein Syndrom, charakterisiert durch eine Kombination aus verstärktem Harndrang mit gehäuftem Wasserlassen und Nykturie, mit oder ohne Harninkontinenz. Ein Leben mit der Erkrankung überaktive Blase ist geprägt von der Angst vor plötzlich einsetzendem Harndrang und nicht aufhaltbarem Harnverlust. Eine überaktive Blase verursacht eine hohe sozioökonomische Belastung für betroffene Frauen (soziale Isolation, Selbstwertverlust, Depression, Limitierung der Tagesaktivitäten, beeinträchtigtes Sexualleben, allgemeine Reduzierung der Lebensqualität) sowie für das Gesundheitssystem im Allgemeinen (direkte Kosten, Folgekosten durch Krankenstände etc.).
Aufgrund der geringen Evidenz zur Pathogenese der überaktiven Blase sind die Therapiemöglichkeiten limitiert. Diese zielen zudem lediglich auf eine Minderung der Symptome ab, tangieren jedoch nicht die Ursache der Erkrankung und können demnach nicht zu einer Heilung beitragen. Zu aktuellen Therapieoptionen zählen zunächst die Lebensstilmodifikation (Reduzierung von Flüssigkeitsaufnahme, Vermeidung koffeinhaltiger Getränke), Blasentraining („Miktion nach der Uhr“) und Physiotherapie. Die medikamentöse Therapie umfasst Anticholinergika (p.o.) und Botox-Injektion in die Blasenschleimhaut.
Im Rahmen einer von uns durchgeführten Studie, welche bei der Jahrestagung der IUGA (International Urogynecology Association) 2020 präsentiert wurde und mit einem „best abstract award“ prämiert wurde, wollten wir uns der Fragestellung der Pathogenese der überaktiven Blase annähern. Mit einem besseren Verständnis der Entstehung der Erkrankung und der zugrundeliegenden Pathomechanismen wäre es in einem nächsten Schritt möglich, neue, kausalere Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Eine etablierte Methode zu diesem Zweck ist die Forschung über das sogenannte Proteom – also die Gesamtheit der vorhandenen Proteine in einem definierten Bereich. Um ein möglicherweise charakteristisches Proteom bei Patientinnen mit überaktiver Blase zu erforschen, wählten wir den Zugang einer Fallkontrollstudie. Patientinnen mit der Diagnose überaktive Blase stellten wir einer gesunden Kontrollgruppe gegenüber, welche im Alter und im Body-Mass-Index (beides definierte Risikofaktoren für die Erkrankung überaktive Blase) ähnlich waren. Von beiden Gruppen nahmen wir zu einem einmaligen Zeitpunkt Harnproben ab, um diese später im Labor zu untersuchen. Der Forschungszweig „proteomics“ bedient sich der Methodik der Chromatografie (Auftrennung der Peptide nach vorangesetztem Proteinverdau) und Massenspektrometrie (Identifizierung und Zuordnung der Peptide). Anhand digitaler Datenbanken erhält man schlussendlich eine Liste aller vorhandenen Proteine, welche innerhalb einer Harnprobe identifiziert wurden, sowie deren Häufigkeitsverteilung. Somit kann schlussendlich abgelesen werden, welche Proteine in welcher Quantität in einer bestimmten Probe enthalten waren. In einem letzten Schritt erfolgt der statistische Abgleich zwischen den beiden Gruppen, womit einzelne Proteine identifiziert werden, welche sich in ihrer Quantität statistisch signifikant zwischen beiden Gruppen unterscheiden.
Über diese Herangehensweise lässt sich feststellen, ob bestimmte Proteine im Harn bei überaktiver Blase im Vergleich zu gesunden Kontrollen signifikant über- oder unterrepräsentiert sind. Während ein „Zuviel“ an bestimmten Proteinen einen Hinweis auf die Pathogenese der Erkrankung bieten kann, kann ein „Zuwenig“ an bestimmten Proteinen gleichwohl als Indiz für einen „Verlust“ potenziell protektiver Mechanismen angesehen werden.
Verlust protektiver Mechanismen in der Entstehung der überaktiven Blase?
Ergebnisse unserer Studie zeigten, dass signifikante Proteine der Fallgruppe vermehrt in Prozesse der Antwort auf zellulären Stress und Apoptose involviert sind. Außerdem waren fünf der signifikanten Proteine der Fallgruppe in neurologische Prozesse involviert. Dies könnte möglicherweise auf eine neurologische Komponente auch bei nichtneurogener überaktiver Blase hindeuten. Auffällig war, dass signifikante Proteine der Kontrollgruppe vermehrt in immunologische, mikrobenprotektive und Gewebselastizitätsprozesse involviert sind. In Zusammenschau dieser Daten könnte sich das Gesamtbild der überaktiven Blase aus einerseitseinem Verlust protektiver Mechanismen und andererseitserhöhtem zellulärem Stress und Apoptose zusammensetzen.
Wir haben die Lösung! Oder doch nicht ...?
Anhand der Proteommethode lässt sich letztlich nicht feststellen, ob die Veränderungen im Proteommuster ursächlich an der Entstehung der überaktiven Blase beteiligt sind (z.B. genetische Veränderung > verändertes Proteom > verringerte/eingeschränkte Mikrobenabwehr) oder ob das veränderte Proteom eine Folge der Erkrankung widerspiegelt (z.B. ???? > vermehrte Bildung von Proteinen des zellulären Stresses und der Apoptose) oder ob es möglicherweise eine Kombination aus beidem wäre.
Daher wäre es in einem nächsten Schritt sinnvoll, eine Stufe „tiefer“ zu gehen und in die Gene der betroffenen Frauen zu blicken. Ausgehend von den Proteinen, die sich in beiden Gruppen signifikant unterschieden, könnte man bekannte Genmutationen („single nucleotid polymorphisms“) der Gene, welche für diese Proteine codieren, bei betroffenen Frauen untersuchen und dies wiederum mit einer gesunden Kontrollgruppe vergleichen.
Studienteilnehmerinnen gesucht
Wir suchen Patientinnen, die eine reine überaktive Blase haben (also keine Stressharninkontinenz oder Mischharninkontinenz) und die während der letzten 3 Monate keine medikamentöse Therapie für die überaktive Blase erhalten haben. Es sind im Rahmen der Studie insgesamt 2 Besuche (ca. 30–45 Minuten) an unserer Ambulanz vorgesehen (inkl. Diagnostik, Probenabnahme und Behandlung der überaktiven Blase, wenn gewünscht). Die Patientinnen erhalten eine finanzielle Vergütung (einmalig 35 Euro) für ihren Zeitaufwand.
Terminvereinbarung: Urogynambulanz, Medizinische Universität Wien (AKH Wien) unter 01/40 400-29040 oder 28040 (Leitstelle 8C), Mo–Fr 7:30 bis 15:30 Uhr
Wir haben uns entschieden, vorerst einen anderen Weg einzuschlagen und von der Theorie der Infektion/Inflammation aus weiter in die Tiefe zu gehen. Dazu gibt es bereits einen großen Forschungszweig der Mikrobiologie – die Erforschung der vorhandenen Bakterien in einem Bereich. In letzter Zeit gab es rasante Fortschritte in der Methodenentwicklung zur Bestimmung des Mikrobioms und sehr viele Forschungszweige befassen sich aktuell mit dem Einfluss des Mikrobioms auf die Entstehung von Erkrankungen. Zur Erkrankung überaktive Blase gibt es aktuell einige Publikationen, welche darauf hindeuten, dass betroffene Frauen (gleichwohl wie ein verändertes Proteom) ein verändertes Mikrobiom in der Harnblase aufweisen. Es gibt jedoch nach wie vor keine Studien zu einem möglichen Einfluss des Viroms auf das Mikrobiom bzw. die Entstehung einer Erkrankung, v.a. nicht im Bereich der Urogynäkologie.
Die Entdeckung, dass ein Virus (HPV) maßgeblich an der Entstehung von Gebärmutterhalbskrebs beteiligt ist, ist sensationell. Noch sensationeller ist die Entwicklung einer Impfung als Prävention für eine Krebsart! Könnte also auch ein Virus an der Entstehung der überaktiven Blase beteiligt sein? Entweder direkt ursächlich oder indirekt über eine Beeinflussung des bakteriellen Mikrobioms? Diese Fragestellung ist neu und innovativ. Im Rahmen einer Forschungsförderung des Jubiläumsfonds der Nationalbank haben wir aktuell die Möglichkeit, uns der Beantwortung dieser Frage zu widmen. Wir werden 50 Patientinnen mit überaktiver Blase einer Gruppe von 50 gesunden Frauen gegenüberstellen und Harnproben sowie Abstrichproben aus Vagina, Urethra, Rektum und Mundschleimhaut abnehmen und daraus das bakterielle und virale Mikrobiom bestimmen und vergleichen.
Wir würden uns sehr über Ihre Mithilfe freuen und würden Sie gerne um Zuweisung von Patientinnen mit überaktiver Blase bitten.
Take home message
Die Pathogenese der überaktiven Blase ist wenig erforscht. Analysen des Proteoms deuten auf eine Kombination aus erhöhtem zellulärem Stress und Apoptose mit einem Verlust an protektiven Mechanismen hin. In einer Folgestudie wollen wir das virale und bakterielle Mikrobiom bei überaktiver Blase charakterisieren. Wir bitten Sie um Ihre Mithilfe und Zuweisung Ihrer Patientinnen an unsere Urogynambulanz.
Literatur:
bei der Verfasserin
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