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Patientenverfügung kritisch betrachtet
DAM
Autor:
Dr. Christian Euler
E-Mail: ch.euler@a1business.at
30
Min. Lesezeit
19.04.2018
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<p class="article-intro">„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ (Immanuel Kant, 1784)</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Möglicherweise hält sich der Ärztestand für mündig und aufgeklärt. Bedient er sich aber bei dieser Selbsteinschätzung seines eigenen Verstandes? Oder verlässt er sich auf die Wissenschaft?<br /> In einem Aufsatz, erschienen im Februar 2017 in der Wochenzeitung „Die Furche“, warnt Univ.-Prof. Dr. Peter Strasser, Rechtsphilosoph an der Universität Graz, vor dem Mythos Wissenschaft. „Es ist gewiss ein Irrtum zu glauben, die Wissenschaft schütze die Wahrheit davor, in den Dienst wahrheitsfremder Interessen zu treten. Meist stehen hinter den angeblich harten Fakten die unterschiedlichsten Interessen, unterstützt von Machtzirkeln, welche die Suche nach Wahrheit am wenigsten interessiert.“<br /> Es ist viele Jahre her, da erschrak ich über das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie, nämlich, dass die letzten Monate eines Menschenlebens die kostenintensivsten sind. Die Wissenschaftlichkeit hob diese banale Erkenntnis und die Diskussion darüber auf ein Niveau, das durch grundgesetzlich zugesicherte Freiheit vor allgemeiner Entrüstung geschützt ist. Als Schritt in eine ähnlich unbehagliche Richtung empfand ich auch den Beschluss eines Patientenverfügungsgesetzes im Jahre 2006, das seither die Bürger dazu ermuntert, ihr Lebensende „mit zu gestalten“. In seinem 2014 erschienenen Buch „Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst“ nennt der aus Österreich stammende Neurowissenschaftler Prof. Dr. Niels Birbaumer die Patientenverfügung eine Aufforderung zum Selbstmord. Dem Patienten fehle jeder Realitätsbezug, um die hier gefragten Entscheidungen zu treffen. Prof. Birbaumer steht damit in krassem Gegensatz zu Gesundheitspolitikern und Patientenanwaltschaft, die alljährlich wieder die zu geringe Zahl getroffener Patientenverfügungen beklagen.<br /> Der Newsletter „Bioethik aktuell“ berichtet in seiner Februarausgabe von der kanadischen Studie „Kostenanalyse von medizinischer Sterbehilfe“, die ein Einsparungspotenzial von 139 Mio. US-Dollar (99 Mio. Euro) jährlich ausweist. Diese Studie wurde im Jänner 2017 ausgerechnet im offiziellen Medium der kanadischen Ärztekammer veröffentlicht. Die Autoren, ein Gesundheitswissenschaftler und ein Gesundheitsökonom, wollen zwar ihre Arbeit nicht als Aufzeigen einer Möglichkeit der Kostenreduktion im Gesundheitswesen verstanden wissen, doch liefern sie ihre Erkenntnisse genau sieben Monate nach der Verabschiedung eines Gesetzes, das sowohl aktive Sterbehilfe wie auch assistierten Suizid für todkranke Menschen in Kanada landesweit legalisiert. Es erhoben sich prompt kritische Stimmen, die von Diskriminierung sprachen. Sie forderten auch für chronisch Kranke das gleiche Recht auf aktive Sterbehilfe ein.<br /> In den Monaten von Juni bis Dezember 2016 starben in Kanada 774 Personen durch Tötung auf Verlangen. Mit einer Steigerung darf gerechnet werden. In den Niederlanden mit grob halb so vielen Einwohnern wie Kanada ließen 5516 Menschen im Jahr 2015 ihr Leben durch Euthanasie beenden, das sind zehnmal mehr, als der Straßenverkehr forderte.</p> <h2>Was geht uns das an?</h2> <p>Unsere Gesundheitspolitiker bedauern immer wieder die geringe Zahl getroffener Patientenverfügungen. Österreichische Wissenschaftler gefallen sich seit Jahren als Forscher über eine mögliche Verbesserung der natürlichen Geburt. Wenn aber der Beginn des Lebens durch medizinisches Eingreifen komfortabler gestaltet werden könnte, warum nicht auch das Lebensende?<br /> Kanada wird aktuell in der Diskussion um ein Freihandelsabkommen als in seinen Rechtsnormen und seinem Wirtschaftssystem durchaus vergleichbares Land gepriesen und die Niederlande bieten vielen Gesundheitsreformern schon lange ein Beispiel für ein erstrebenswertes Gesundheitssystem.<br /> Die Solidarität der politisch Verantwortlichen mit den gesunden Beitragszahlern steht zumindest gleichberechtigt neben dem Versorgungswillen gegenüber Bedürftigen. Auch im Wissen um lebensbedrohliche Not halten sie es für angebracht, zunächst Berechnungen anzustellen, ob man sich Hilfe leisten kann. Die Patientenanwaltschaft ist mit ihrer Propaganda für Standardisierung und Automatisierung voll ausgelastet. Eine ausreichende Dokumentation scheint ihr ein allzeit ausreichender Kontrollmechanismus zu sein. Von der neu angetretenen „Reform- Regierung“ ist eine energische und konsequente gesellschaftspolitische Positionierung dringend einzufordern.</p></p>
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