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Anschluss und Ausschluss
DAM
Autor:
Dr. Christian Euler
E-Mail: ch.euler@a1business.at
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
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<p class="article-intro">1938 erfolgte der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ein in der ersten Republik weitverbreiteter Wunschgedanke wurde politisch umgesetzt. Gleichzeitig wurden aber auch latente Ausschlussgelüste auf menschenverachtende Weise konkret, auf vielen Ebenen, und so auch in der Ärzteschaft.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Wie schon in den letzten Jahren, so suchen auch in diesem Jahr Menschen in Österreich Anschluss. Unter Aufbietung aller emotionalen und körperlichen Kräfte und nicht minder unter Aufbietung großer finanzieller Mittel verließen sie ihre Heimatländer, ihre Familien, ihre muttersprachliche Sicherheit, oft ihre geregelten und erfüllenden Lebensumstände. Sie entflohen Kriegs- und Krisengebieten, viele von ihnen verloren auf dieser Flucht ihr Leben. Die hier bei uns Angekommenen aber suchen Anschluss: an unser Bildungssystem, unsere Arbeitswelt, unsere rechtsstaatliche Sicherheit.<br /> Im Anschlussgedenkjahr sollen wir uns also die Frage stellen: Bieten wir diesen Menschen einladende Voraussetzungen, sich uns anzuschließen, oder erschweren wir durch Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung diesen Anschluss? Sind wir lediglich bereit, des vergangenen Anschlusses zu gedenken, während wir den gegenwärtigen Ausschluss leben?<br /> Seit 1933 war in Deutschland durch das Inkrafttreten des „Berufsbeamtengesetzes“ die willkürliche Entlassung missliebiger Beamter, auch angestellter Ärztinnen und Ärzte, möglich. In den Folgejahren eliminierte man durch sieben Gesetzesverschärfungen vordringlich die jüdische Kollegenschaft, bis ihr am 30. September 1938 unter Mitwirkung der eigenen Standesvertretung die Approbation aberkannt wurde.<br /> Gerade jene, die sehnsüchtig zum großen Nachbarn blickten, schlossen die Augen vor dem absehbaren Unheil. Das geschah nicht immer aus Bösartigkeit. Mitunter war es unvorstellbare Arglosigkeit. Prof. Robert Braun, selbst Halbjude, berichtet in einer autobiografischen Skizze über jene Zeit:<br /> „Vater und Mutter lebten überhaupt ,am Mond‘. Als ob ihnen nichts geschehen könnte, weil mein Vater fast nur ,arische‘ Patienten behandelte bzw. ,national‘ gesinnt war. Übrigens hatte er den ersten Weltkrieg an der Front mitgemacht. Schon als Jüngling hatte er sich taufen lassen, eine Christin geheiratet und die Kinder christlich erzogen. Die drohenden Nürnberger Gesetze, die ihn zu einem rechtlosen Untermenschen machen würden, interessierten ihn nicht. Das konnte unmöglich für ihn Bedeutung bekommen. So lebte er mit verbundenen Augen in den Tag hinein.“<br /> Robert Braun selbst war hellhöriger: „1932 bis 1937, während meines Studiums, gab es an den österreichischen Hochschulen Angriffe auf Juden.“ Auch Halbjuden und „Mischlingen“ wurde der Bildungsweg zunehmend erschwert: „Gejagt von Hitlers Aufstieg brachte ich das Studium als Erster von ca. 800 Gleichsemestrigen hinter mich. Alle drei Medizin-Rigorosen absolvierte ich mit Auszeichnung.“<br /> Bereits ein Jahr später wurden innerhalb weniger Wochen ungefähr tausend jüdische Medizinstudenten von der Universität vertrieben. Jene, die im zweiten Halbjahr 1938 promoviert wurden, waren sofort mit einem Berufsverbot konfrontiert. 55 % der Hochschullehrer, Juden und auch deren Ehepartner, wurden entlassen. Der berührende Briefwechsel der Eltern des ehemaligen Primararztes der urologischen Abteilung des Krankenhauses Oberwart, Lutz Elija Popper, ist ein eindrucksvolles Dokument aus dieser Zeit. Das von ihm 2008 herausgegebene Buch „Briefe aus einer versinkenden Welt: 1938/1939“ lässt uns die alltäglichen Schikanen der österreichischen Bürokratie gegenüber auswanderungswilligen Juden nachvollziehen. Poppers Vater, schon in der zweiten Generation der Kultusgemeinde fernstehender Jude und Assistenzarzt an der Universitätsklinik in Wien, legte 1933, noch nicht ganz 29-jährig, seine Habilitationsunterlagen vor. Trotz unzweifelhafter Qualifikation und persönlichen Engagements wird er in seiner beruflichen Karriere behindert. 1938, fünf Jahre nach der Vorlage, wird sein Habilitationsansuchen wegen der nichtarischen Abstammung des Verfassers abgewiesen, am 12. März 1938 wird er selbst endgültig aus dem Krankenhaus entfernt. Er verlässt schweren Herzens seine Frau und den noch keine zwei Jahre alten Sohn und bringt sich bei einem Arztkollegen und Freund in der Schweiz in Sicherheit.<br /> Die Mutter, Christin und diplomierte Krankenschwester, widersteht dem Druck, sich scheiden zu lassen, und betreibt beharrlich und mitunter verzagt den „Familiennachzug“. Persönliche Enttäuschungen, eigennützige Hilfsangebote, Widerwillen zelebrierende Trägheit des Aktenlaufes können das räumlich getrennte, im gemeinsamen Ziel und in großer Liebe verbundene Paar nicht entmutigen. Im Juli 1939 bricht die Familie gemeinsam von Zürich nach Bolivien auf.<br /> Nicht alle der 1938 entlassenen Ärztinnen und Ärzte konnten sich retten. Im März 1938 werden die Kolleginnen und Kollegen aus den Krankenhäusern entlassen, am 1. Oktober wird den niedergelassenen jüdischen Ärztinnen und Ärzten die Berufsausübung untersagt. Insgesamt ist ein Drittel der österreichischen Ärzteschaft betroffen. Die Wiener Ärztekammer registrierte in einem Projekt zur Aufarbeitung dieser Jahre 3700 verfolgte Kolleginnen und Kollegen, davon 3500 Juden.<br /> Die Arisierungswelle rollt. Ungeniert, zunächst ungeregelt, dann mit schikanösen, Geringschätzung und Missgunst festschreibenden Gesetzen, wird auf jüdisches Vermögen zugegriffen. Fabriken, Wohnungen, Ordinationen und Kanzleien, Häuser, Sanatorien, Kunstsammlungen und jede Art von Vermögenswerten werden treuen Parteigängern zuerkannt oder direkt von ihnen beansprucht. Denunziation und Bespitzelung treiben grausame Blüten. Der Neid von Jahrzehnten und der herrschende politische Wille vernichten jeden Anstand und jedes Schamgefühl. Befasst man sich mit der Restitution, kommen auch heute noch Zweifel an der Rückkehr dieses Anstandes hoch.<br /> Antisemitismus hat auch in Ärztekreisen Tradition. Dies kam selten so ungeniert und ausdrücklich daher wie 1875 in einer Publikation das hochberühmten Theodor Billroth. Er schrieb über das „leider nicht ganz auszurottende Unkraut der Wiener Studentenschaft“ und benannte es: „schlimme galizische und ungarischjüdische Elemente“. Diese Äußerung fiel bei national gesinnten Studenten auf fruchtbaren Boden. Als Billroth bei einer der nächsten Vorlesungen mit frenetischem Beifall begrüßt wurde und „Juden raus“-Rufe laut wurden, erschrak er, distanzierte sich vom Judenhass und trat sogar einem „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ bei. 1875 wies die medizinische Fakultät 512 katholische und 421 israelitische Studenten aus.<br /> Die subtile Ablehnung alles Jüdischen, das mitunter ein Synonym für „modern“ war, und das neidvolle Bremsen von Hochschulkarrieren jüdischer Kollegen blieben jedenfalls salonfähig. Arthur Schnitzler, Autor, Jude, Arzt, bringt in seinem Stück „Professor Bernardi“ diese Stimmung auf die Bühne und lässt uns in seiner unvollendeten Biografie, erschienen unter dem Titel „Jugend in Wien“, noch tiefer blicken. Schnitzlers Vater Johann, Professor der Laryngologie und leidenschaftlicher Publizist, Herausgeber der „Wiener medizinischen Presse“, war Mitbegründer der Wiener Allgemeinen Poliklinik. Er war ein leidenschaftlicher Verfechter einer Dezentralisierung medizinischer Forschung und Lehre nach angelsächsischem Vorbild. Die 1884 von vornehmlich jüdischen Universitätsdozenten gegründete Poliklinik, für die auch Billroth sich stark machte, war nicht zuletzt eine Antwort auf die Behinderung des letzten Karriereschrittes dieser aufgeschlossenen Wissenschaftler zur Professur. Zunächst nur ambulant, ab 1892 schließlich auch mit Fachabteilungen und Bettenstation, stand dieses Haus für Aufgeschlossenheit gegenüber dem medizinischen Fortschritt und für soziale Kompetenz.<br /> Es blieb dem Anschluss 1938 vorbehalten, die vernichtende Form des Antisemitismus einzuläuten. Die Lehre aus den Geschehnissen der Vergangenheit, die bei diversen Gedenkstunden von diversen Rednern ganz sicher beschworen wird, kann nur lauten: Fehlentwicklungen früh erkennen und benennen. Anschlussgedenken soll die Beschäftigung mit der Frage sein: Wem schließe ich mich an, was schließe ich für mich aus?</p></p>
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