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4Gamechangers Health Talks

Das XXL-Problem: Zuviel Fett macht krank!

Mehr als die Hälfte der österreichischen Bevölkerung ist übergewichtig, ein seit Jahren steigender Anteil sogar adipös. Adipositas kann nachweislich krank machen. Daraus kann man schließen, dass die Vermeidung und die Reduktion von Übergewicht wichtige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit darstellen. Aber in welchen Fällen sollte man therapeutisch eingreifen, welche Maßnahmen sind dazu geeignet und inwieweit ist das öffentliche Krankenversicherungssystem gefordert, die nicht unerheblichen Behandlungskosten zu übernehmen? Im „4Gamechangers Health Talk“ der Diabetes Initiative Österreich wurden diese Fragen umfassend, zum Teil auch kontrovers diskutiert.

Aktuelle Themen im Zusammenhang mit Diabetes mellitus diskutieren, Problemstellungen definieren und mögliche Lösungen aufzeigen und nicht zuletzt das Verständnis zwischen den verschiedenen Playern im österreichischen Gesundheitssystem fördern – so definiert die Diabetes Initiative Österreich (DIÖ) die Zielsetzung ihrer Diskussionsrunden, die zunächst als „Diabetes im Zentrum“ und dann in den 4GamechangersHealthTalks im österreichweiten Fernsehen veranstaltet wurden.1

Der gesundheitspolitische und mediale Umgang mit Diabetes, vor allem aber auch die Ursachen und entsprechenden Präventionsmöglichkeiten waren in diesem Rahmen immer wieder Thema. Und so ging es auch im 4Gamechangers Health Talk, der zum Weltdiabetestag 2022 ausgestrahlt wurde, um eine Entwicklung, die mit der Dynamik der Diabetesprävalenz untrennbar verbunden ist, nämlich die fast weltweit stetig ansteigende Prävalenz von Übergewicht und Adipositas. In Österreich sind 20% der Erwachsenen von Adipositas betroffen, jeder und jede Zweite gilt nach gängiger Definition als übergewichtig.2

Wann wird Adipositas zum medizinischen Problem?

Geht es um die medizinische Bewertung von Übergewicht, muss man zwei Aspekte unterscheiden, stellt DIÖ-Präsident Thomas Wascher eingangs klar. So habe ein Body-Mass-Index (BMI) über den festgelegten Grenzwerten (bei einem BMI von mehr als 25kg/m2 spricht man von Übergewicht, bei BMI-Werten ab 30kg/m2 von Adipositas) noch nicht zwingend Krankheitswert. Es gebe genügend Beispiele dafür, dass man auch als massiv adipöser Mensch relativ lange gesund leben könne, wenngleich das Risiko für Folgeerkrankungen mit zunehmendem Übergewicht naturgemäß ansteige. Als zusätzliche Möglichkeit, Adipositas medizinisch einzuordnen, nennt Wascher den Edmonton Obesity Score, der eine prognostische Einschätzung anhand von physischen, psychischen und funktionellen Kriterien erlaubt.3 Allgemein könne man aber sagen: Je mehr Begleiterkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck etc. vorliegen, desto eher wird Adipositas zum medizinischen Problem.

Wie lebt man mit Adipositas?

Mit Werner Gruber, einer breiten Öffentlichkeit als „Science Buster“ bekannt, kommt ein Betroffener zu Wort. Er sagt: „Wie man mit Übergewicht lebt, ist eine Frage der Lebensphase, des Selbstvertrauens und des sozialen Umfelds.“ Wer beruflichen Erfolg vorweisen könne, sei von Stigmatisierung weniger betroffen oder könne vielleicht besser damit umgehen. Vor einigen Jahren hat sich Gruber einer Magen-Bypass-Operation unterzogen und daraufhin 85kg an Gewicht verloren. Den Ausschlag, sich operieren zu lassen, gaben in seinem Fall nicht so sehr gesundheitliche Beschwerden als die Einsicht, andernfalls auf Dauer wohl nicht vor ernsten Komplikationen verschont zu bleiben. An der Lebensführung hat sich seit der bariatrischen Operation nicht viel verändert, sagt Gruber: „Ich habe damals schon nicht gerne Sport betrieben und tu das auch heute nicht, obwohl ich durchaus mehr Optionen und Möglichkeiten hätte.“ Viel markanter war für ihn eine andere Folge des chirurgischen Eingriffs: „Ab einem gewissen Übergewicht hast du das Problem, dass du das Hungergefühl nicht mehr stillen kannst. Eine der schönsten Erfahrungen nach meiner bariatrischen Operation war, als ich mir ein Salzstangerl gekauft habe und nach drei Bissen im guten Sinn ein Sättigungsgefühl hatte.“

Das System muss Geld in die Hand nehmen

Nach den eigenen Erfahrungen ist Gruber überzeugt, dass die Aufforderung zur Lebensstilintervention, sei es im Gespräch mit dem/der Diabetesberater*in oder durch öffentliche Gesundheitskampagnen, bei Menschen mit Adipositas nicht zum Ziel führt. So hätten alle Initiativen zu einer gesünderen Lebensführung nicht verhindern können, dass die Bevölkerung insgesamt in den vergangenen 40 Jahren immer stärker übergewichtig geworden ist. „Jeder Übergewichtige weiß genau, was er essen soll und was nicht und wie viel er sich bewegen soll“, sagt Gruber. Man müsse zur Kenntnis nehmen, dass das Gehirn sehr stark hormonell gesteuert wird und dass der Hirnstoffwechsel bei Menschen mit Adipositas von jenem gesunder Menschen abweicht. Daher müsse man Medikamente, die in den Hirnstoffwechsel eingreifen und den bei Adipositas häufig überstarken Drang zur Nahrungsaufnahme bremsen, breiter verfügbar machen.

<< Stigmatisierungserlebnisse kommen interessanterweise in erster Linie aus der Familie, aber dann kommt schon das Gesundheitspersonal: Ärzte, Ernährungswissenschaftler, Trainer, aber auch die, die es auffangen sollten, Psychologen und Psychotherapeuten. Dann geht’s darum: Habe ich jemanden, der mich stützt, ohne dass er mich bevormundet, denn auch das kann verletzen.>>
Dr. Christian Tatschl

Gruber bezieht sich dabei auf GLP-1-Rezeptoragonisten und weitere inkretinbasierte Therapeutika, die ursprünglich für die Behandlung von Typ-2-Diabetes entwickelt wurden, in höherer Dosierung aber auch in der Adipositastherapie eine immer wichtigere Rolle spielen.4 Internist Thomas Wascher dazu: „Es hat sich herausgestellt, dass die Gewichtsreduktion, die man mit diesen Therapien erzielen kann, weit über das hinausgeht, was man bisher kannte. Wir haben jetzt Substanzen, die immer noch zur Diabetesbehandlung eingesetzt werden, mit denen man in höherer Dosierung aber auch Gewichtsreduktionen bis zu 25kg erwarten kann.“

<< Wir sprechen hier nicht über Optionen, wir sind dabei, das umzusetzen. Aber es bedarf es auch einer gewissen Struktur, das umzusetzen – das ist im Laufen. Wir sind derzeit in den ­Verhandlungen, und ich gehe davon aus, dass es heuer noch fertig wird.>>
Dr. Andreas Krauter

Von den Kassen werden diese Medikamente bisher nur in Einzelfällenerstattet, so etwa bei Diabetes und einem BMI ab 35kg/m2 – für Wascher nicht ganz verständlich, weil man mit den Therapien in einen Bereich komme, den viele Menschen auch mit einem bariatrisch-chirurgischen Eingriff nicht überschreiten. Für Gruber wäre es „wichtig, diese Medikamente so rasch wie möglich nicht nur Diabetikern zu geben, sondern zu sagen: Wir stellen als Regierung das Geld zur Verfügung.“ Damit könne man nicht nur bei vielen Betroffenen eine einschneidende und unumkehrbare chirurgische Operation vermeiden, sondern auch Gesundheitskosten einsparen.

Mit Medikamenten allein ist es nicht getan

Andreas Krauter vertritt als leitender Arzt der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) die gesetzliche Krankenversicherung in der Diskussionsrunde. Er verweist darauf, dass die Versicherungssysteme, von Vorsorgeprogrammen bis hin zur Adipositaschirurgie, jetzt schon vieles ermöglichen. Bei Diabetes und Adipositas sei die Bewilligung moderner Medikamente zur Gewichtsreduktion bereits möglich. Die Erstattung bei Adipositas ohne Begleiterkrankungen werde derzeit mit den Herstellern ausverhandelt, ein Ende dieser Verhandlungen sei absehbar.

<< Man kann ganz banal sagen: Je mehr Begleiterkrankungen – Diabetes, Bluthochdruck etc. –, desto mehr wird Adipositas zum medizinischen Problem. Das Gewicht selbst ist nicht das medizinisch primäre Problem.>>
Univ.-Prof. Dr. Thomas Wascher

Auf Aufklärung und Bewusstseinsbildung ganz zu verzichten lehnt Krauter ab. „Wir stehen vor der Situation, dass wir beinahe 50% übergewichtige Menschen haben, auch schon viele Kinder. Wir müssen uns überlegen: Wie bringen wir das Wissen über Ernährung und über Bewegung in die Schulen? Wie können wir durchsetzen, dass Bewegung ein Stück weit wieder mehr in den Alltag hineinkommt?“ Auch in der Adipositastherapie gelte es, Grundlagenwissen zu Ernährung und Bewegung zu vermitteln und in ein Gesamtkonzept einzubetten. Auf dieser Grundlage könne man, wenn die entsprechende Indikation gegeben ist und die Betroffenen zur begleitenden Lebensstilmodifikation bereit sind, Adipositasmedikamente bezahlen.

Psychotherapie der Adipositas

Christian Tatschl, Mediziner und angehender Psychotherapeut, schildert seine Erfahrungen in der Begleitung von Menschen mit Adipositas im niedergelassenen Bereich. Übergewicht entstehe oft aus einer anhaltenden Überforderung einerseits des Motivationssystems, andererseits des Stresssystems, sagt er. Die resultierenden negativen Empfindungen beeinflussen das Ernährungsverhalten, weil Essen nicht nur sättigt, sondern auch emotionale Inputs gibt. Essen könne belohnen und entschädigen, aber auch Sicherheit und Rückzugsmöglichkeiten geben. „Das alles wird halbbewusst oder unbewusst abgespeichert und bleibt in unserem Erfahrungsrepertoire. Wenn die Situation passt, kann es sein, dass ich in Spannungsphasen reflektorisch zugreife.“

Wie sehr Essen eine Stütze sein kann, sehe man auch daran, dass mit der kalorischen Restriktion häufig Depressionen auftreten. So gibt es insbesondere nach bariatrischen Operationen eine Gruppe von Patienten, die mit dem Gewichtsverlust plötzlich problematische Verhaltensweisen in anderen Bereichen (z.B. einen gesteigerten Alkoholkonsum) entwickeln.

<< Die Patienten kommen mit einem gewissen Leidensdruck in die Rehabilitation. Nach den drei bis vier Wochen gehen sie mit einer viel positiveren Grundeinstellung hinaus. Sie ­merken, es hat sich körperlich sehr viel getan, sie haben aufgrund der Rahmenbedingungen an Gewicht verloren, die Fitness ist gesteigert, das Stresslevel gesunken, das ­Belohnungssystems aktiver. Mit diesem Schwung startet es sich auch leichter in den Alltag.>>
Mag. Markus Fahrnberger

Die Aufgabe der Psychotherapie sieht Tatschl nicht primär in der Unterstützung einer Ernährungs- und Bewegungsberatung. Vielmehr gehe es um die psychische Belastung, die zur Adipositas geführt hat oder die aus der Adipositas heraus entsteht, so wie Stigmatisierungserlebnisse oder der Umgang mit Schuld- oder Schamgefühlen. „Die Klienten wundern sich oft, dass es relativ schnell von der Adipositas weg zu anderen Themen geht, und empfinden es als befreiend, weil sie merken: Es gibt einen Zusammenhang mit dem Essverhalten. Wenn der psychische Druck sinkt, kommt es auch im Umgang mit Nahrungsmitteln zu Veränderungen.“

Eine begleitende Psychotherapie sei nicht in jedem Fall notwendig, resümiert Tatschl, aber immer dann hilfreich, wenn die Psyche ein treibender Faktor in der Pathogenese ist. Und sie gehört in die Hand von erfahrenen Therapeuten, die ein Grundverständnis für die Komplexität des Krankheitsbilds mitbringen.

Rolle der Stoffwechselrehabilitation

Mit der psychischen Verfassung von Menschen mit Adipositas beschäftigt sich auch Markus Fahrnberger, Psychologe im Rehabilitationszentrum der Pensionsversicherungsanstalt für Stoffwechselerkrankungen in Alland. Der Vorteil der Rehabilitationsmedizin in diesem Kontext: Die Patientinnen und Patienten werden umfassend (klinisch, psychologisch, diätologisch und leistungsdiagnostisch) abgeklärt, geschult und beschäftigen sich über mehrere Wochen intensiv mit ihrer Gesundheit. Die meisten verspüren dadurch einen Motivationsschub und verlassen Alland mit einer wesentlich positiveren Grundeinstellung, sagt Fahrnberger: „Sie merken, es hat sich körperlich sehr viel getan, sie haben aufgrund der Rahmenbedingungen an Gewicht verloren, die Fitness wurde gesteigert, das Stresslevel gesenkt, das Belohnungssystem aktiver.“

<< „Ab einem gewissen Übergewicht hast du das Problem, dass du das Hungergefühl nicht mehr stillen kannst. Du bist eigentlich den ganzen Tag über in einem Zustand des ­Dauerhungers. Eine der schönsten Erfahrungen nach meiner bariatrischen Operation war, als ich mir ein Salzstangerl gekauft habe und nach drei Bissen im guten Sinn ein ­Sättigungsgefühl hatte.“>>
Mag. Werner Gruber

Eine ständige Herausforderung liege darin, die im Rehabilitationszentrum angestoßenen Verhaltensänderungen anschließend in den Alltag zu integrieren. „Wir haben immer wieder Patient*innen, die wiederkommen, weil der erhoffte Erfolg nicht eingetreten ist. Wir haben aber auch Patient*innen, die sagen: Ich habe 10, 15, 20kg abgenommen und das Gewicht eine Zeitlang gehalten, aber jetzt stehe ich an und brauche wieder einen Motivationsschub.“ Fahrnberger sieht darin per se kein Versagen der Rehabilitation, schließlich sei Adipositas eine chronische Erkrankung und müsse auch so behandelt werden.

Schlusswort Werner Gruber

„Jemandem mit einem Übergewicht von 5–10 kg würde ich sagen: Entspannt euch, esst weniger, bewegt euch mehr, schlaft mehr! Personen mit mehr als 20 kg Übergewicht, bei denen Diäten sehr oft nichts mehr bringen, würde ich ernsthaft empfehlen, sich in Behandlung zu begeben. Es gibt tolle Lösungen, man muss sich nur trauen, den ersten Schritt zu machen. Bei mir hat es hervorragend funktioniert, und ich kenne viele andere, bei denen es sehr gut funktioniert hat, die sich aber nicht trauen, das offen auszusprechen. Wir müssen da auch etwas an der Gesellschaft verändern“, resümiert Werner Gruber.

4Gamechangers Health Talks:„Das XXL-Problem! Zuviel Fett macht krank!“, 16. November 2022, PULS 24

1 Diabetes Initiative Österreich: Aktuelles; https://www.diabetesinitiative.at/aktuelles.html 2 Statistik Austria: Übergewicht und Adipositas (2019). https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/gesundheit/gesundheitsverhalten/uebergewicht-und-adipositas 3 Sharma AM, Kushner RF: A proposed clinical staging system for obesity. Int J Obes (Lond) 2009; 33: 289-95 4 Del Prato S et al.: Obes Rev 2022; 23: e13372

Österreichische Adipositas Gesellschaft,
www.adipositas-austria.org

Österreichische Gesellschaft für Adipositas- und Metabolische Chirurgie,
www.adipositaschirurgie-ges.at

Adipositas-Selbsthilfegruppen Österreich,
www.adipositas-shg.at

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