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Zeitzeugengespräche

Rückblick: Wie hat sich das Diabetesmanagement für Betroffene geändert?

Für Menschen mit Diabetes mellitus ist der Umgang mit ihrer Erkrankung heute ein ganz anderer als vor 25 Jahren. Heute besteht für Betroffene die Möglichkeit, ein langes Leben mit großem Zuwachs an Lebensqualität und an Unterstützung zu führen.

Weltweit steigt die Zahl an Menschen mit Diabetes seit Jahren weiter an. „Waren es in den 90er-Jahren noch circa 250000 Betroffene in Österreich, so sind es heute offiziell an die 600000; Dunkelziffer 800000“, so Peter Hopfinger, Journalist, Initiator des Diabetesmuseums Österreich und selbst Diabetiker seit 1995. Aber nicht nur die Zahl der betroffenen Menschen in Österreich hat sich geändert, sondern zusätzlich sind das alltägliche Diabeteshandling und die öffentliche Präsenz und Awareness um Diabetes mellitus ganz anders.

Herausforderung mitten im Leben

„Meine Diabetesdiagnose hat mich sehr überrascht – das war im Juni 1972. Ich war damals 19 Jahre alt und es hat mich gerade in meinem ersten Berufsjahr erwischt“, so Anni Mayer, Typ-1-Diabetikerin seit nun fast 49 Jahren und ehemalige Vorstandsvorsitzende der Österreichischen Diabetesvereinigung (ÖDV). Durch ihre langjährige Diabeteserkrankung durchlebte sie als Zeitzeugin die letzten 50 Jahre der Diabetesgeschichte. So auch die 75-jährige Typ-2-Diabetikerin Martha Butbul, besser bekannt als die Sängerin „JazzGitti“: „Meine Mutter ist mit 42 Jahren gestorben, da Diabetes damals einerseits noch nicht so gut erforscht war und sie sich andererseits nicht an die Vorgaben gehalten hat“, berichtet die ehemalige Köchin und Gastronomin. Früher eine tödliche Erkrankung änderte ein zentrales Ereignis in der Medizingeschichte im Juli 1921 die Zukunft für Betroffene – Frederick Banting und Charles Best gelang es erstmalig, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse von Hunden zu isolieren. Seither ermöglichte Insulin es Menschen mit Diabetes, langfristig zu überleben.

Anfänge mit tierischem Insulin

„In den 70er-Jahren war eine Zeit, in der wir keine Informationen über Diabetes bekommen haben. Es hat seitens des Arztes geheißen: ,Jeden Tag vor dem Frühstück musst du deine Einheiten an Insulin spritzen.‘ Sonst gab es keine Informationen für mich als Patientin“, so Mayer. Sie schilderte, wie sie ständig zwischen Schweine- und Rinderinsulin wechseln musste. Die tierischen Insuline riefen bei ihr allergische Hautausschläge hervor und sie zog sich durch das ständige Insulinspritzen Infektionen und Entzündungen in den Oberschenkeln zu. Damals waren Injektionen in den Bauch noch nicht üblich. Dennoch lag im täglichen Spritzen von tierischem Insulin zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit, die Erkrankung Diabetes zu bestreiten. „Eine Erlösung war es für mich erst, als die genetischen Insuline in den 90er-Jahren auf den Markt gekommen sind, da mein Körper sie besser verarbeitet und vertragen hat. Die Dosis hat sich reduziert und erst zu diesem Zeitpunkt begann es, dass wir Betroffene mehr Informationen über unsere Erkrankung bekommen haben“, erzählt Mayer.

Komplexes Handling

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Abb. 1: Glasspritzen von 1925 werden erst in den 1960ern von Plastikspritzen abgelöst

Seit 1925 konnten Betroffene Insulin mittels Glasspritzen in das Unterhautfettgewebe injizieren (Abb.1). „Wenn ich daran zurückdenke, wundere ich mich selbst manchmal, wie ich das damals geschafft habe“, so Mayer und bezieht sich damit auf das komplexe Handling der damals verfügbaren Diabetestherapie im Alltag. In den 70er-Jahren war die Insulingabe, anders als heute, auf Glasspritzen beschränkt, die zweimal pro Woche komplett zerlegt und ausgekocht und dann in Alkohol eingelegt werden mussten, um Keimen vorzubeugen. Die Anwendung der Therapie neben dem Beruf, berichtet Mayer, war für sie sehr aufwendig – erst Ende 1960 wurden erstmalig Glasspritzen durch Einwegplastikspritzen ersetzt. „Der größte Vorteil der modernen Insuline und Geräte, die wir heute zur Verfügung haben, liegt für mich darin, dass ich die Therapie an meinen Alltag anpassen kann und nicht den Alltag an die Diabeteserkrankung anpassen muss“, so Mayer.

Genetisches Insulin, Selbsthilfe & Schulungen

Dass Ende der 80er/Anfang der 90er die genetischen Insuline auf den Markt gekommen sind, nennen Betroffene einen weiteren Meilenstein in der Diabetestherapie. Im Zuge dessen wurden die ersten Schulungen für Menschen mit Diabetes angeboten. Mayer erinnert sich, zu einem Gesprächskreis für Typ-1-Diabetiker von zwei jungen Ärzten der Salzburger Landeskliniken eingeladen worden zu sein. „Ich habe lange überlegt, ob ich hingehe, und habe den ersten Termin verstreichen lassen. Beim zweiten habe ich mich dann aufgerafft und habe teilgenommen. Und plötzlich habe ich die Qualität bemerkt, die dahintersteckt, wenn man sich endlich mit Leuten unterhalten kann, die ähnliche Probleme haben“, so Mayer. Dieses Erlebnis war für sie der Startschuss für ihr darauf folgendes jahrelanges Engagement in der ÖDV im Bereich Selbsthilfearbeit für Menschen mit Diabetes. „Alle in der Selbsthilfegruppe waren über das Neueste informiert. Das hat mich selbst in meinem Wissen und in meinen Schulungen weitergebracht. In der Zeit Anfang der 90er ist so viel Neues auf den Markt gekommen, z.B. das schnell wirksame Insulin (Humalog®), das zu den Mahlzeiten gespritzt wird. In Österreich war es damals noch nicht verfügbar, in Deutschland schon. Wir haben über die Patientenseite durchgesetzt, dass auch Betroffene in Österreich Zugang zu diesem Insulin bekommen“, erzählt Mayer. Die ÖDV war damals in Österreich Pionier auf dem Gebiet der Schulungsangebote für Menschen mit Diabetes und gründete das erste eigene Schulungszentrum in Goldegg. Neben diätologischem und medizinischem Schulungsangebot wurde damals schon der Bewegung große Bedeutung beigemessen. Fragen zum Blutzuckermessen, zur Penbenützung (z.B. wie oft wechselt man die Nadel), zu Steuerabsetzbeträgen und zum Führerschein waren Themen der ersten ÖDV-Schulungen (Abb. 3 u.4). „Zu Hause im Alltagsgeschehen flacht die Motivation schnell wieder ab. In der Gruppe konnten Betroffene immer wieder aufgefangen und motiviert werden, dass sie sich im Diabetesbereich um sich selbst kümmern“, so Mayer.

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Abb. 3 und 4: Erstes Blutzuckermessgerät 1969 (links) und erster Insulinpen 1985

Viele Fragen, keine Informationen

Heute stehen Menschen mit Diabetes in Österreich viele Anlaufstellen zur Verfügung (ÖDV, Diabetes Österreich, wir sind diabetes, DIABÄR u.v.m.). Dies war aber nicht immer so. Die hausärztliche Betreuung von Betroffenen gestaltete sich oft schwierig, da Ärzte u.a. nicht viel mehr Informationen über die Erkrankung Diabetes mellitus hatten als Patienten. „Früher hieß es: ‚Das brauchen Sie gar nicht wissen‘, wenn ich zum Arzt gegangen bin“, so Mayer.

Peter Hopfinger berichtet nach seiner Diabetesdiagnose 1995 mehrfach Glück gehabt zu haben, da er an eine sehr kompetente Ärztin gekommen ist, die ihm schnell beibrachte, mit seiner Erkrankung umzugehen. Der Journalist hat sich berufen gesehen, Mitbetroffene über Diabetes zu informieren. Er suchte damals selbst nach Informationen über seine Erkrankung und sah hier einen großen Bedarf an einer Plattform, auf der sich Betroffene informieren können und Hilfestellungen finden. „1995 bewegten sich Journalisten und Studenten schon im Internet, aber sonst nutzten es erst rund 300000 weitere Österreicher“, so Hopfinger. Er machte sich die sprunghafte Entwicklung des Internets zunutze und gründete eine „elektronische Zeitung“ als Soforthilfe für Menschen mit Diabetes – heute auch bekannt unter Diabetes Austria, der größten Diabetesplattform Österreichs. Hopfinger sieht nicht nur den Informationsnutzen der Plattform, sondern auch in Zukunft den Bedarf für einen Initiator in der Medienszene, um auch anderswo als in den eigenen Kreisen über Diabetes zu berichten. „Es gibt positive Nachrichten, aber es gibt auch schlechte Entwicklungen, gegen die wir uns immer wieder wehren und die wir aufzeigen müssen“, appelliert Hopfinger. Aktuell bezieht er sich auf den Beschluss der österreichischen Krankenkassen, dass Diabetiker zukünftig nur mehr eine Schulung bezahlt bekommen sollen.

Initiativen für Diabetes

Aktionsjournalist Hopfinger sieht damals wie heute eine große Relevanz im Aktionismus für Menschen mit Diabetes. Früher war das Interesse für Diabetes wesentlich geringer als heute, da die Anzahl der Betroffenen geringer war. Eine Reihe an Aktionen hat er selbst mitumgesetzt – sei es das legendäre Konzert mit „JazzGitti“ zugunsten von Kindern mit Diabetes, eine Blutzuckerscreening-Aktion der Mitarbeiter des Wiener Parlaments oder ein Fußballmatch mit der ehemaligen Ministerin Sabine Oberhauser (verstorben 2017). Das Ziel lag einerseits darin, Gelder für Kinder mit Diabetes zu sammeln, um private Kindercamps zu organisieren, und andererseits darin, immer wieder Awareness für die Erkrankung zu schaffen. „Solche Initiativen machen mir nicht nur Spaß, sondern halten mich auch jung, machen ein gutes Image und bringen noch dazu einen Benefit für Betroffene“, so Hopfinger.

Aktionismus für Kinder mit Diabetes

Abb. 2: Logo von wir sind diabetes

Mit der Typ-1-Diabetes-Erkrankung seines Sohnes begann für DI Harald Führer, Vorstand von DIABÄR und heute Präsident von „wir sind diabetes“ (Abb. 2), sein Einstieg in den Aktionismus für Kinder mit Diabetes. DIABÄR besteht seit 1995 und hat es sich zum Ziel gesetzt, Kinder mit Diabetes besser über ihre Erkrankung zu informieren und sie in ihrem Selbstmanagement zu stärken. Seit den 70er-Jahren gibt es Diabetescamps für betroffene Kinder, deren Organisation vom Verein DIABÄR später übernommen wurde. Auch wenn es mangels finanzieller Unterstützung und mangels verfügbarer Ärzte sowie zuletzt durch die Corona-Pandemie nicht leicht war, die Camps für Kinder mit Diabetes mellitus Typ 1 aufrechtzuerhalten, starteten die Kindercamps 2022 wieder voll durch.

Abseits der Camps für Kinder wurde 2015 die Idee für Abenteuercamps für Teenager geboren, mit dem Ziel, auch Jugendliche im Selbstmanagement ihrer Erkrankung mit altersgerechten physischen und psychischen Herausforderungen (Outdooraktivitäten wie Wandern, Klettern, Baden, …) zu fördern (Abb. 5–8). „Dabei lernen sie, dass sie selbstständig agieren müssen. Manchen Jugendlichen ist es nicht bewusst, dass es Eltern gibt, die über die Schulter schauen und ihnen so durch ihre Erfahrung immer etwas abnehmen“, erzählt Führer. Er beschreibt, wie sich Jugendliche selbstständig auf eine 200-Höhenmeter-Wanderung vorbereiten müssen. Sie können dadurch in der Peer-Group die Erfahrung machen, eigenständig Verantwortung zu übernehmen, aber auch erleben, wie sie durch andere betroffene Jugendliche oder die Peer-Group Unterstützung erhalten. Die Gründung von „wir sind diabetes“ im späten Frühjahr 2019 baute auf den Kontakten, die Führer in der Arbeitsgruppe Soko Diabetes u.a. mit der ÖDV und ADA knüpfen konnte, und dem Kontakt zu Dr. Strasser auf.

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Abb. 5–8: Camps und Aktivitäten für Kinder mit Typ-1-Diabetes

Nach Dr. Strasser hat Führer heute die Präsidentschaft übernommen. Er berichtet, dass sich „wir sind diabetes“ zukünftig für bezirksunabhängige Vorgaben für Diabetiker in Wien einsetzen möchte (Stichwort HbA1c-Werte und Führerscheinrichtlinien) und einen rechtzeitigen und einfachen, bundeslandunabhängigen Zugang zu Insulinpumpen und weiteren Hilfsmitteln fordert.

Fazit

Die Zeitzeugenberichte des österreichischen Diabetes Museums führen vor Augen, wie sich das Wissen allein rund um die Erkrankung Diabetes mellitus in den letzten 50 Jahren verändert hat. Heutige Errungenschaften sind dem aktuellen Stand der Forschung, den heutigen Möglichkeiten in der medikamentösen Therapie und der Medizintechnik, aber auch dem gesellschaftlichen Wandel und der Auffassung von Diabetes mellitus durch Mithilfe von Vereinen, Plattformen, Selbsthilfegruppen und durch Aktionismus zu verdanken.

Zeitzeugenvideos von Peter Hopfinger, Anni Mayer, JazzGitti und Harald Führer des Diabetes Museums Österreich. https://diabetes-museum.at/zeitzeugen ; zuletzt aufgerufen am 19.8.2022

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