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Selbstmanagement vs. Diabetesmanagement in der Geriatrie

Rückblicke: Diabetesschulung & Geriatrie

Leitlinienempfehlungen zur strukturierten Diabetikerschulung als Basis einer erfolgreichen Therapie werden seit Jahren in aktualisierten und technischen Entwicklungen angepassten Versionen von den Diabetesfachgesellschaften publiziert. Die Bedeutung einer individualisierten Form der Schulung sowie der Anpassung von Therapiezielen und Therapieformen geht insbesondere aus den Leitlinienempfehlungen für geriatrische Patienten hervor.

Keypoints

  • Menschen mit Diabetes erhalten Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Schulungen, die für den Alltag und die Prävention von Akut-, Spätkomplikationen und Begleiterkrankungen wichtig sind.

  • Eine Schulung ist zwingend zum Diagnosezeitpunkt indiziert, aber auch wenn Behandlungsziele nicht erreicht werden, bei Therapieumstellungen von parenteral auf oral und bei Komplikationen.

  • Für geriatrische Menschen mit Diabetes gibt es angepasste Schulungen und die Einbeziehung des Betreuungsumfeldes kann Patienten bei der Umsetzung der Kontroll- und Therapiemaßnahmen unterstützen.

Schulungen für Menschen mit Diabetes

Empfehlungen zur strukturierten Diabetikerschulung sind seit rund 3 Jahrzehnten Teil internationaler und nationaler Leitlinien, wie bei der American Diabetes Association (ADA) und bei der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG).1,2 Grundsätzlich ist die Schulung eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Diabetestherapie. Schulungen für Menschen mit Diabetes vermitteln Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für eine Umsetzung der Therapiemaßnahmen im Alltag zur Behandlung des Diabetes sowie zur Risikoreduktion und Behandlung möglicher Komplikationen und Begleiterkrankungen notwendig sind.1,2 Die möglichst selbstständige Steuerung der Therapie durch den Patienten stellt auch einen wichtigen Aspekt für den Erhalt der Lebensqualität dar. In den letzten Jahren wurde deshalb neben dem Wissenstransfer und der Information zur Lebensstiloptimierung unter dem Begriff Empowerment verstärkt das Selbstmanagement von Menschen mit Diabetes angestrebt.3 Schulungsprogramme sollten bei allen Menschen mit Diabetes Umsetzung finden, erfordern aber auch personelle, infrastrukturelle und finanzielle Ressourcen.

Schulungsmodelle und der richtige Zeitpunkt

Zu häufig eingesetzten validierten Schulungsprogrammen zählen unter anderem das Düsseldorfer Schulungsmodell für Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes und interaktive Programme, die für Typ-1- und Typ-2-Diabetes in Bad Mergetheim entwickelt wurden.2 Die Erfahrungen der letzten Jahre haben zur Definition von 4 kritischen Zeitpunkten geführt, die Schulungsmaßnahmen erforderlich machen. Dazu zählen der Diagnosezeitpunkt, das Nichterreichen von Behandlungszielen im Rahmen der Kontrolluntersuchungen, bei Umstellung einer oralen auf eine parenterale Therapie und das Auftreten von diabetischen Komplikationen.

Schulungen erfolgen in Form von Einzel- oder Gruppenschulungen entsprechend den Bedürfnissen von Menschen mit Diabetes. Zum Schulungsteam zählen Ärzte, Diabetesberater und Diätologen mit entsprechender Ausbildung. Die Erstschulung bei Neudiagnose eines Typ-1-Diabetes erfolgt dabei meist unmittelbar nach Diagnosestellung im Rahmen des stationären Aufenthalts im Krankenhaus. Für den nicht-stationären Bereich wurden in Österreich in den unterschiedlichen Bundesländern Diabetikerschulungsprogramme entwickelt, die auf die regionalen Gegebenheiten und Ressourcen Bezug nehmen. Bei Typ-2-Diabetes findet österreichweit vor allem durch niedergelassene Ärzte zunehmend die Schulung und Betreuung im Disease-Management-Programm (DMP) „Therapie aktiv“ statt. Kontrollen von Blutzucker, HbA1c, Körpergewicht und Blutdruck dienen als Parameter hinsichtlich der Ergebnisqualität der Diabetikerschulung.

Schulungsinhalte und Effekte

Zu den Inhalten der strukturierten Diabetikerschulung zählen die Diagnostik, Therapie (Ernährung, Bewegung, Medikamente), Glukosekontrolle, Injektionstherapie sowie die diabetischen Akut- und Spätkomplikationen und Begleiterkrankungen. Zusätzlich können Schulungen über spezifische Situationen wie sportliche Aktivität, Reisen, Hypoglykämie, Erkrankung und Schwangerschaft (Gestationsdiabetes bzw. Schwangerschaft bei Typ-1-Diabetes) angezeigt sein. Auch die aktuellen technischen Entwicklungen, wie Glukosesensorsysteme, Insulinpumpen, Closed-Loop-Systeme, telemediznische und internetbasierte Kommunikation und Dienste (Apps) erfordern Erweiterungen der Schulungsinhalte. Eine Adaptierung der Schulung ist meist für geriatrische Patienten notwendig. Für Menschen mit Migrationshintergrund werden sprachliche und ethnische/kulturelle Gegebenheiten berücksichtigt.5,6

Klinische Studien konnten aufzeigen, dass die strukturierte Diabetikerschulung die glykämische Kontrolle (Glukosewerte, HbA1c), Blutdruck und Körpergewicht günstig beeinflussen kann.1,2 Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2005 bestätigt den Wissenszuwachs durch die Schulungsmaßnahmen sowie eine HbA1c-Reduktion um 0,8% für einen Zeitraum von 12 Monaten und eine Gewichtsreduktion von 1,6kg.7

Im Hinblick auf die kontinuierliche Zunahme der Diabetesprävalenz und den steigenden Schulungsbedarf wird in den letzten Jahren auch auf die Bedeutung von Peer-Supportprogrammen hingewiesen.1

Geriatrische Patienten mit Diabetes

Die in Österreich, wie in vielen wohlhabenden Ländern, ansteigende Lebenserwartung hat auch zu einer deutlichen Zunahme der Zahl älterer Menschen mit Diabetes mellitus geführt. Rund 20% der Bevölkerung im Alter über 65 Jahre weisen einen manifesten Diabetes mellitus auf. Altersassoziierte Veränderungen und Erkrankungen erfordern häufig eine Adaptierung von Schulungsmaßnahmen, Therapiezielen und Therapieformen für ältere Menschen mit Diabetes. Erfreulicherweise finden seit einigen Jahren geriatrische Aspekte zunehmend Berücksichtigung in internationalen und nationalen Leitlinienempfehlungen.8,9 Die Leitlinien der ÖDG beinhalten seit der Ausgabe von 2012 einen Beitrag über die geriatrischen Aspekte und die Notwendigkeit der individuellen Anpassung von Therapiezielen und des Betreuungsmanagements. Hinsichtlich des kalendarischen Alters werden Menschen im Alter von 65 bis 75 Jahren als „älter“ bezeichnet, im Alter von 75 bis 90 Jahren als „alt“, ab 90 Jahren als „hochbetagt“ und über 100 Jahren als „langlebig“. Wichtiger als das kalendarische Alter sind bei älteren Menschen hinsichtlich der Prognose von Erkrankungen jedoch die möglichen funktionellen und kognitiven Einschränkungen. Die Österreichische Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) definiert geriatrische Patienten als biologisch älter (kalendarisch meist über 80 Jahre) mit mehreren relevanten und behandlungsbedürftigen Diagnosen (einer Multimorbidität entsprechend) sowie einem besonderen Handlungsbedarf in rehabilitativer, sozialer und psychosozialer Sicht. Geriatrische Patienten sind bei akuten Erkrankungen von einem Verlust der Selbstständigkeit und damit der Lebesnqualität bedroht. Für die Prognose einer Erkrankung ist deshalb weniger das kalendarische Alter als vielmehr die Vulnerabilität infolge von funktionellen und kognitiven Einschränkungen von Bedeutung. Ältere Menschen mit Diabetes weisen vermehrt geriatrische Syndrome wie Immobilität, Instabilität, Sturzneigung, kognitive Einschränkungen, Malnutrition, ein erhöhtes Risiko für Polypharmazie und soziale Isolation auf. Das multidimensionale geriatrische Assessement als diagnostisches Instrument zur Erfassung der geriatrischen Syndrome gilt deshalb auch als wichtige Grundlage in der Diabetestherapie (Tab.1).8

Tab. 1: Behandlungsziele für geriatrische Patienten mit Diabetes mellitus (adaptiert nach ADA-Leitlinien Diabetes Care 2022)8

Ziele in der Diabetesbehandlung geriatrischer Patienten

Behandlungsziele bei geriatrischen Patienten mit Diabetes sind der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Selbstständigkeit und Lebensqualität, die Symptomfreiheit vonseiten der Hyperglykämie, das Vermeiden diabetischer Akut-(hypoglykämische, hyperglykämische Entgleisung) und Spätkomplikationen, die Beachtung geriatrischer Syndrome (Malnutrition, Sarkopenie, Immobilität, Polypharmazie) sowie das Screening auf Spätkomplikationen (augenärztliche Kontrollen, Neuropathie, PAVK, kardiovaskuläre Erkrankungen) und auf Komorbiditäten (Depression, Demenzerkrankung, Osteoporose).8–10 Für geriatrische Patienten sind standardisierte angepasste Diabetikerschulungsprogamme verfügbar.10,11 Eine Einbeziehung des Betreuungsumfeldes ist dabei von Vorteil, um die Patienten bei der Umsetzung der Kontroll- und Therapiemaßnahmen zu unterstützen.

Malnutrition und Medikation

Aufgrund des erhöhten Malnutritionsrisikos bei geriatrischen Patienten sind strikte Diätformen abzulehnen. Im Rahmen der medikamentösen Therapie müssen die altersassoziierte Einschränkung von Organfunktionen und das erhöhte Risiko für Arzneimittelnebenwirkungen und -interaktionen berücksichtigt werden. Besonders vulnerabel sind geriatrische Patienten in Bezug auf das Hypoglykämierisiko. Dies beruht insbesondere auf einer altersassoziierten Einschränkung gegenregulatorischer Mechanismen sowie Einschränkungen der Nierenfunktion und einer veränderten hepatischen Metabolisierung von Medikamenten. Besonders zu beachten ist dabei auch das hohe Arzneimittelinteraktionspotenzial von Sulfonylharnstoffderivaten. Als Prädiktoren für ein hohes Hypoglykämierisiko gelten ein hohes Lebensalter, eine lange Diabetesdauer und ein hoher Charlson-Komorbiditätsindex.12

Bei der Wahl der Medikation ist auch zu bedenken, dass eine Gewichtsreduktion bei geriatrischen Patienten unerwünscht sein kann. Dies gilt insbesondere für Metformin und GLP-1-RA. Bei parenteralen Therapieformen sollte die Umsetzbarkeit im Alltag Berücksichtigung finden. Dabei kann eine Vereinfachung der Insulintherapie angezeigt sein.8

1 American Diabetes Association Professional Practice Committee: Facilitating behavior change and well-being to improve health outcomes: standards of medical care in diabetes-2022. Diabetes Care 2022; 45(1): 60-82 2 Weitgasser R et al.: Diabetesschulung und -beratung bei Erwachsenen mit Diabetes (Update 2019). Wien Klin Wochenschr 2019; 131(1):110-4 3 Tang TS et al.: Self-management support in „real-world” settings: an empowerment-based intervention. Patient Edu Couns 2010; 79(2): 178-84 4 Pereira K et al.: Internet delivered diabetes self-management education: a review. Diabetes Technol Ther 2015; 17(1): 55-63 5 Biessels GJ, Whitmer RA: Cognitive dysfunction in diabetes: how to implement emerging guidelines. Diabetologia 2020; 63(1): 3-9 6 Creamer J et al.: Culturally appropriate health education for type 2 diabetes in ethnic minority groups: an updated Cochrane Review of randomized controlled trials. Diabet Med 2016; 33(2): 169-83 7 Deakin T et al.: Group-bases training for self-management strategies in people with type 2 diabetes mellitus. Cochrane Database Syst Rev 2005; 2: CD3417 8 American Diabetes Association Professional Practice Cimmittee. Older adults: standards of medical care in diabetes-2022. Diabetes Care 2022; 45(1): 195-207 9 Huber J et al.: Geriatrische Aspekte bei Diabetes mellitus (Update 2019). Wien Klin Wochenschr 2019; 131 (1): 236-43 10 Zeyfang A et al.: Diabetes mellitus im Alter. Z Gerontol Geriat 2021; 54(1): 61-71 11 Braun AK et al.: SGS: a structured treatment and teaching programme for older patients with diabetes mellitus – a prospective randomized controlled multi-centre trial. Age Ageing 2009; 38(4): 390-6 12 Lipska KJ et al.:. Potential overtreatment of diabetes mellitus in older adults with tight glycemic control. JAMA Intern Med 2015; 175(3): 356-62

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