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(K)ein Stress mit Diabetes
Jatros
Autor:
Mag. Markus Fahrnberger
Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe Rehabilitationszentrum Alland, Pensionsversicherung<br> E-Mail: markus.fahrnberger@pensionsversicherung.at<br> Praxisgemeinschaft Neubau, Wien<br> E-Mail: praxis@fahrnberger-psychologe.at
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07.07.2016
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<p class="article-intro">Die Diagnose „Zucker“ kommt für die Betroffenen oft völlig überraschend. Wenn sie dann noch mit den empfohlenen Lebensstiländerungen hinsichtlich Ernährung und Bewegung konfrontiert werden, sind Schock, Panik, Überforderung und folglich Stress regelmäßig beobachtbare Phänomene. Nicht zuletzt scheint ein gewisser Dauerstress, neben einigen anderen psychischen Auffälligkeiten, die Entstehung von Typ-2-Diabetes zu begünstigen. </p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Die Stressreaktion ist evolutionär gesehen ein wichtiger Überlebensvorteil.</li> <li>Chronischer Stress ist aufgrund von Veränderungen im Insulin-Glukose-Haushalt besonders für Diabetiker problematisch.</li> <li>Die Folgen von chronischem Stress sind weitreichend und können u.a. zu Diabetes mellitus und Depressionen führen.</li> <li>In der Behandlung von chronischem Stress stellen Achtsamkeit, Situationskontrolle und Entscheidungsspielraum wesentliche Eckpunkte dar.</li> </ul> </div> <p>Grundsätzlich muss gesagt werden, dass Stress an und für sich gar keine so schlechte Sache ist. Wenn unsere Vorfahren einer Säbelzahnkatze begegneten, mussten sie binnen Bruchteilen von Sekunden entscheiden – Kampf oder Flucht. Dank der Stressreaktion und zahlreichen automatisch ablaufenden Veränderungen in Blutkreislauf, Hormonhaushalt und Wahrnehmung konn­ten unsere Vorfahren so ein Maximum der Leistungsfähigkeit herausholen und entweder schneller und geschickter flüchten oder dieses Tier überwältigen, besiegen und, nehmen wir einmal an, im Anschluss verspeisen. Im Entspannungsmodus wäre dies alles eher unwahrscheinlich gewesen. <br />Hier lässt sich schon eine wesentliche Komponente des „gesunden“ Stresses erahnen. Er sollte kurzfristig und nach einer überschaubaren Zeit wieder vorbei sein, damit sich der Körper in der darauffolgenden Entspannungsphase wieder erholen und zu Kräften kommen kann. Die erwähnten Veränderungen im Körper sind nicht darauf ausgelegt, über längere Zeit zu bestehen. Chronischer Stress erhöht, wie mittlerweile in zahlreichen Studien nachgewiesen, die Prävalenz von zahlreichen somatischen und psychischen Erkrankungen, aufgrund der Veränderungen in Leber und Bauchspeicheldrüse, sprich im Insulin-Glukose-Haushalt, scheinbar auch die Wahrscheinlichkeit von Diabetes mellitus Typ 2. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Diabetes_1603_Weblinks_Seite20.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <h2>Stress-Blutzucker-Kreislauf</h2> <p>In Abbildung 1 ist ein exemplarischer Stress-Blutzucker-Kreislauf von Herrn P. dargestellt, um zu veranschaulichen, wie mögliche Zusammenhänge aussehen könnten. Nach einem stressreichen Arbeitstag tendiert Herr P. abends zu einer eher ungünstigen fett- und/oder zuckerreichen Ernährung, folglich schießt aufgrund einer eingeschränkten Pankreasfunktion der Blutzucker in die Höhe. Bei der regelmäßigen abendlichen BZ-Kontrolle bemerkt Herr P. einen erhöhten BZ-Wert, was ihn wiederum in Stress versetzt. Wie oben beschrieben setzt der Körper bei der Stressreaktion noch mehr Glukose frei, was den BZ-Wert weiter erhöht oder oben hält. Dies führt womöglich zu negativen Gefühlen wie Selbstvorwürfen, Verzweiflung, Wut, Angst, die auch Stress bedeuten und sich dementsprechend auf den BZ-Spiegel auswirken können. Ähnliche Kreisläufe sind oft gesehene Phänomene in der klinischen Praxis und stellen einen wesentlichen Einfluss auch hinsichtlich der Diabetesbehandlung dar. Der Einstiegspunkt in einen Kreislauf ist dabei nebensächlich, einmal darin angekommen, dreht man sich mitunter sehr lange im Kreislauf mit.</p> <h2>Stressfaktoren</h2> <p>Der „Vater der Stressforschung“ Hans Selye (1907–1982) hat schon vor einigen Jahrzehnten zwischen dem positiven „Eu­stress“ und dem negativen „Disstress“ unterschieden. Beim Eu­stress wird der Organismus zwar beansprucht und gefordert, aber auch gleichzeitig dazu aufgefordert, Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit zu erhöhen, um eine Aufgabe, Krankheit oder Krise zu überstehen und im Idealfall auch zu überwinden. Der Disstress wird als negativ empfunden, da er in der Regel häufig oder dauerhaft auftritt und durch individuelle Kompetenzen oder Veränderungen nicht kompensiert werden kann. <br />Die Frage nach dem Stressauslöser wird oft mit einem „Den macht man sich selbst“ beantwortet. Tatsächlich sind aber zahlreiche Auslöser nicht in der eigenen Verantwortung: Termin- und Zeitdruck in der Arbeit, Arbeitsplatzverlust sowie in weiterer Folge finanzielle Probleme und Existenzängste; Lebensereignisse wie Unfälle, Todesfälle, Umweltkatastrophen oder Kriege; Umwelteinflüsse wie Hitze, Kälte oder Lärm. Neben den „externen“ kann es aber auch „interne“, vom Menschen ausgehende, Faktoren geben, die Stress auslösen, verstärken oder aber auch abschwächen können: Gedanken, Attributionen, Erwartungen, Befürchtungen, Erkrankungen, Ängste. Grundsätzlich gilt: Auch wenn es heutzutage die lebensbedrohliche Säbelzahnkatze nicht mehr gibt, läuft die Stressreaktion dennoch mit der gleichen Symptomatik ab. Auch ist es nebensächlich, ob der Auslöser real oder eingebildet ist.</p> <h2>Akute versus Dauerstressreaktion</h2> <p>Die akute Stressreaktion erkennt man unter anderem an gesteigertem Puls, Schwitzen, Nervosität, körperlicher Unruhe, Engegefühlen in Kehle und Brust, Verspannungen, erweiterten Pupillen, Kältegefühl in den Extremitäten. Nicht direkt sichtbar, aber für Diabetiker wesentlich ist, dass die Bauchspeicheldrüse die Insulinausschüttung verringert und gleichzeitig die Leber vermehrt Zucker in den Blutkreislauf leitet. Denken wir wieder an die Situation mit der Säbelzahnkatze. Egal ob unsere Vorfahren flüchteten oder kämpften, sie brauchten den Zucker für die Muskeln, die in der jeweiligen Situation einer massiven Anstrengung ausgesetzt waren. <br />Dauerstress ist mitunter auf den ersten Blick nicht so leicht zu erkennen. Wesentliche Punkte zur Erkennung stellen die Selbstwahrnehmung und die Selbstachtsamkeit dar. Kommt es zu Veränderungen im Lebensstil, in den Gewohnheiten, zu körperlichen Auffälligkeiten und besonders zu Änderungen der psychischen Belastbarkeit? Wie diese Veränderungen genauer aussehen können, ist in Tabelle 1 dargestellt. <br />Dem fachkundigen Leser ist womöglich aufgefallen, dass sich die Checkliste mit den klinischen Symptomen einer Depression nahezu deckt. Als Folge von chronischem Stress kann es durchaus zu einem Phänomen kommen, das mit dem inflationär benutzten Begriff des Burnouts benannt wurde. Wobei wir, wenn wir uns die Symptomatik ansehen, von einer Depression sprechen. Im speziellen Fall von einer Erschöpfungsdepression, die nicht auf die leichte Schulter, sondern sehr ernst genommen werden sollte. <br />In zahlreichen Studien wurde eine Korrelation zwischen Diabetes und Depres­sion gefunden, wobei die Richtung des Zusammenhangs noch nicht endgültig geklärt scheint. Naheliegend ist eine gegenseitige Wechselwirkung, wobei jede Erkrankung einerseits die Prävalenz der anderen erhöht und andererseits auch deren Verlauf ungünstig beeinflusst. Des Weiteren zeigt sich auch eine mögliche Verbindung zwischen Diabetesfolgeerkrankungen (z.B. Neuropathie) und Depression. Alles in allem ist der aktuelle Wissensstand, dass besonders beim Vorliegen eines Diabetes mellitus eine depressive Symptomatik abgeklärt und im Auge behalten werden sollte. Dies kann schon mit wenigen gezielten Fragen (siehe obige Checkliste) im Rahmen von Routinekontrollen abgefragt werden. <img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Diabetes_1603_Weblinks_Seite22.jpg" alt="" width="434" height="806" /></p> <h2>Was können wir gegen den Stress tun?</h2> <p>Zunächst bedarf es einer Bestandsaufnahme des Ist-Zustands, ohne sofort eine Veränderung einzuplanen und anzustreben. Vor einer Veränderung der Lebensumstände und der Stressauslöser sollten auch mögliche Konsequenzen bedacht werden, die sich neben einer erhofften Stressminderung ergeben könnten. Wie wirkt es sich auf das familiäre Klima aus, wenn jeder seinen Teil zum Haushalt beitragen soll und nicht mehr automatisch das Essen am Tisch steht, die Wohnung zusammengeräumt, sauber und gesaugt ist und die gewaschene Wäsche im Kasten liegt? Wie reagieren Kolleginnen und Kollegen auf eine konsequente Einhaltung eines Achtstundenarbeitstages? Wie reagiert die Partnerin bzw. der Partner, wenn man nach der Arbeit mit Kollegen noch unterwegs ist, um sich zu entspannen? Jede Veränderung in einem bestehenden System muss im Gesamtkontext betrachtet werden. <br />Ein weiterer wichtiger Punkt in der Bear­beitung von Stress ist das Erlernen ­einer bewussten und achtsamen Lebensweise, wobei man sich in verschiedensten Situationen folgende Fragen stellt:</p> <ul> <li>Was passiert in mir?</li> <li>Was passiert um mich herum?</li> <li>Was tue ich und warum tue ich es?</li> <li>Was ist gut für mich, was weniger gut?</li> </ul> <p>Diese Fragen inkludieren innerpsychische Prozesse und Phänomene, die uns aufzeigen können, welchen Umwelteinflüssen wir ausgesetzt sind und welche gut bzw. schlecht für uns sind bzw. wie wir darauf reagieren und uns verhalten. Dies eingeübt und praktiziert soll dem Patienten einerseits die Situationskontrolle vor Augen führen (Was ist passiert? Wie ist die Situation entstanden? Wie habe ich darauf reagiert?) und andererseits kann darauf aufbauend der Entscheidungsspielraum erweitert werden, indem man herausfindet, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten und Lösungen es für Situationen und Probleme gibt.</p> <p>Neben den innerpsychischen Ansätzen können auch soziale und institutionelle Unterstützungsmöglichkeiten aktiviert werden. Das unmittelbare familiäre und soziale Umfeld sollte in die Veränderungen miteinbezogen werden, und das nicht nur, wenn dort Stressauslöser vorkommen, sondern auch als wichtige Ressource in der Bekämpfung von Stress. Sehr viele Menschen haben Belastungen in der Arbeit und/oder Familie. Hier kann man sich im Freundes- und Bekanntenkreis austauschen und sich gute Tipps holen, wobei schon alleine der Austausch als Entlastung fungieren kann. Des Weiteren können Erfolge und Misserfolge geteilt und besprochen werden. Ein wesentlicher Punkt in der Behandlung von Diabetes, Stress und Depressionen ist, dass sich die Patientin bzw. der Patient Wissen holt und aneignet, um überhaupt eine Ahnung davon zu haben, womit man es zu tun hat und wie man diesen Krankheiten begegnet. Hier gibt es zahlreiche Kompetenzzentren und Spezialisten, die in Anspruch genommen werden sollten. <br />In der psychologischen Behandlung stellt die Aktivierung von Ressourcen einen wichtigen Bestandteil dar. Diese Ressourcen können von innen kommen und stellen einerseits physische Eigenschaften und Kompetenzen wie Fitness, Kraft, Gesundheit und andererseits psychische Eigenschaften wie Achtsamkeit (s.o.), Selbstwirksamkeit, Selbstakzeptanz, Genussfähigkeit, Interessen und Sinngebung dar. Äußere, externe Ressourcen könnte man zum Beispiel unterteilen in materielle (Fahrrad, Geld, BZ-Messgerät …), soziale (Freunde, Bekannte, Familie …), institutionelle (Vereine, Bildung, Arbeitsplatz …) und kulturelle Ressourcen (Museen, Musik, Theater …). Hier gilt es, diese Möglichkeiten zu erkennen, schrittweise aufzubauen und in den Lebensrhythmus und Alltag zu integrieren, damit sie über längere Zeit zur Verfügung stehen.</p> <h2>Tipps, die Patienten mitgegeben ­werden können</h2> <ul> <li>An der neuen Situation, der Diagnose, den notwendigen Maßnahmen nicht verzweifeln</li> <li>(Symbolisch) durchatmen und Ruhe bewahren</li> <li>Situation analysieren</li> <li>Hilfe suchen und in Anspruch nehmen – Ressourcen aktivieren</li> <li>Notwendige Veränderungen umsetzen</li> <li>Lernen und sich weiterentwickeln</li> </ul></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p>• Bartoli F et al: Association between depression and neuropathy in people with type 2 diabetes: a meta-analysis. Int J Geriatr Psychiatry 2016 Jan 4. [Epub ahead of print] <br />• Buchberger B et al: Symptoms of depression and anxiety in youth with type 1 diabetes: a systematic review and meta-analysis. Psychoneuroendocrinology 2016; 70: 70-84 <br />• Comer RJ: Klinische Psychologie. Heidelberg: Spektrum, 2008 <br />• Kelly SJ, Ismail M: Stress and type 2 diabetes: a review of how stress contributes to the development of type 2 diabetes. Annu Rev Public Health 2015; 36: 441-62 <br />• Roy T, Lloyd CE: Epidemiology of depression and diabetes: a systematic review. J Affect Disord 2012; 142: 8-21 <br />• Spruijt-Metz D et al: Behavioral contributions to the ­pathogenesis of type 2 diabetes. Curr Diab Rep 2014; 14(4): 475</p>
</div>
</p>