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Dysglykämie bei Diabetes mellitus

Glukosevariabilität & Komplikationen

Es gibt bei scheinbar metabolisch gesunden Menschen eine Subgruppe mit einer höheren Glukosevariabilität (bis zu 25% der untersuchten Personen). Sie korreliert mit HbA1c, HOMA-Index („homeostasis model assessment“) und den Werten aus dem OGTT (dem oralen Glukose-Toleranz-Test) sehr gut und bildet wahrscheinlich bereits sehr frühe Stadien einer Dysglykämie ab.

Keypoints

  • Die Glukosevariabilität beschreibt die Schwankungen der Glukosespiegel, die Langzeitvariabilität in Hinsicht auf die Glukoseschwankungen über einen längeren Zeitraum von Wochen oder Monate.

  • Metadaten belegen die langfristige Glukosevariabilität als unabhängigen Prädiktor für kardiovaskuläre Komplikationen und Mortalität.

  • Starke Glukoseschwankungen stehen mit dem kardialen Remodeling in Verbindung.

  • Zusätzlich begünstigen starke Glukoseschwankungen Störungen in der BHS, die zu vermehrtem Hungergefühl und vorzeitiger Nahrungsaufnahme führen können.

  • Die Messung der Glukosevariabilität ist von entscheidender Bedeutung für das optimale Diabetesmanagement.

Die Glukosevariabilität kann im Alltag durch eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst werden. Neben Ernährung, Alter und körperlicher Aktivität zählen Medikamente, die Ovulation und auch die Schlafqualität zu wichtigen Determinanten. Die Rolle der Glukosevariabilität als zusätzlicher, unabhängiger Prädiktor für kardiovaskuläre Komplikationen und Mortalität ist aktuell nicht eindeutig geklärt.

Methoden zur Messung der Glukosevariabilität

Die Glukosevariabilität beschreibt die Schwankungen der Glukosespiegel im Verlauf der Zeit. Die Langzeitvariabilität bezieht sich auf die Glukoseschwankungen über einen längeren Zeitraum, normalerweise Wochen oder Monate. Hierbei spielt der HbA1c-Wert bei der Therapieentscheidung, aber auch als etablierter Surrogatparameter in großen Studien eine wichtige Rolle. Die Kurzzeitvariabilität konzentriert sich auf Glukoseauslenkungen über kürzere Zeiträume, oft innerhalb eines Tages oder während bestimmter Ereignisse wie Mahlzeiten. Parameter wie der Variationskoeffizient, die Standardabweichung und die „mean amplitude of glycemic excursion“ (MAGE) werden verwendet, um die Kurzzeitvariabilität zu quantifizieren. Diese Art der Variabilität ist relevant für die Beurteilung der kurzfristigen Stoffwechselkontrolle und kann Einfluss auf die Therapieanpassungen haben.

Die intraindividuelle Glukosevariabilität bezieht sich auf die Glukoseexkursionen innerhalb eines einzelnen Menschen über einen bestimmten Zeitraum. Dies umfasst sowohl kurzfristige Schwankungen während des Tages als auch langfristige Veränderungen über Wochen oder Monate. Ein Indikator für die intraindividuelle Variabilität ist beispielsweise die MAGE, die die durchschnittliche Amplitude der Schwankungen zwischen aufeinanderfolgenden Glukosewerten bildet. Eine präzise Messung der intraindividuellen Variabilität ist entscheidend, um personalisierte Therapieansätze zu entwickeln, die den individuellen Bedürfnissen des Menschen mit Diabetes gerecht werden. Außerdem beeinflusst das Ausmaß der intraindividuellen Variabilität die Lebensqualität des Menschen mit Diabetes.

Im Gegensatz dazu bezieht sich die interindividuelle Glukosevariabilität auf die Unterschiede in der Glukosekontrolle zwischen verschiedenen Personen. Jeder Mensch hat eine einzigartige Art und Weise, wie sein Blutzucker reagiert, und die interindividuelle Variabilität spiegelt diese Unterschiede wider. Diese Unterschiede können auf genetischen Faktoren, Lebensstil, Ernährung und anderen individuellen Einflüssen beruhen.

Übersicht und Definition von Messparametern

Standardabweichung

Die Standardabweichung misst die Streuung der Glukosewerte um den Mittelwert.

Mittlere absolute Glukoseveränderung (MAG)

Die MAG ist eine wichtige Kennzahl zur Quantifizierung der Glukoseschwankungen über einen bestimmten Zeitraum. Sie berechnet sich durch die Summe der absoluten Differenzen zwischen aufeinanderfolgenden Glukosewerten, geteilt durch die Anzahl der Messungen. Eine höhere MAG deutet auf eine erhöhte Glukosevariabilität hin.

MAGE

MAGE beschreibt die durchschnittliche Amplitude der Schwankungen zwischen aufeinanderfolgenden Glukosewerten. Sie bietet einen Einblick in die Häufigkeit und Intensität der Glukoseänderungen und wird oft als Indikator für die postprandiale Glukosekontrolle verwendet.

Variationskoeffizient („coefficient of variation“, CV)

Der Variationskoeffizient beschreibt die relative Streuung der Blutzuckerspiegel um den Mittelwert. Er wird durch das Verhältnis der Standardabweichung zum Mittelwert berechnet und in Prozent ausgedrückt. Dieser Parameter bietet einen standardisierten Ansatz zur Beurteilung der Variabilität unabhängig von der Größenordnung der gemessenen Werte.

Prädiktor für kardiovaskuläre Komplikationen

Derzeit verfügbare Daten beruhen hauptsächlich auf langfristiger Glukosevariabilität über mehrere Monate bzw. Jahre, gemessenhauptsächlich mit dem HbA1c. Letztlich liegen mehrere Metaanalysen vor, welchedie langfristige Glukosevariabilität als unabhängigen Prädiktor für kardiovaskuläre Komplikationen und Mortalität belegen. Bei kritisch kranken Patient:innen nimmt die glykämische Variabilität zusätzlich eine wichtige Rolle in der Vorhersage der 30-Tage-Mortalität ein. Bei Patient:innen, die vor der kritischen Erkrankung nicht an Diabetes mellitus erkrankt waren, ist die glykämische Variabilität ein guter Prädiktor für das 30-Tage-Überleben.

Neben der MAGE ist auch der Variationskoeffizient bei Patient:innen mit akutem Koronarsyndrom in der Vergangenheit (40% Hintergrundprävalenz bei Diabetes mellitus Typ 2[T2D]) ein guter Vorhersagewert für erneute kardiovaskuläre Ereignisse.

Myokardiales Remodelling

Die glykämische Variabilität steht des Weiteren mit dem myokardialen Remodeling in Zusammenhang. In einer Studie von Hanajima Y et al. aus 2023 wurden 201 Patienten mit akutem Myokardinfarkt eine Woche und 7 Monate nach dem Akut-ereignis untersucht. Alle Parameter die Glukosevariabilität betreffend konnten als signifikante Risikofaktoren für das myokardiale Remodeling identifiziert werden. Glukosevariabilität ist unabhängig von Diabetes mellitus ein Risikofaktor für Vorhofflimmern. Dies lässt sich auch im Zellversuch gut nachweisen. Bei vitalen humanen Herzmuskelzellen führen konstant erhöhte Glukosewerte zu einer schnelleren Kontraktion. Bei raschem Wechsel des Glukosespiegels im Medium zwischen 100mg/dl und 180mg/dl alle 20 Minuten zeigen sich Einschränkungen bei der Kontraktilitätskraft und im „calcium signaling“, was ein weiterer Hinweis auf negative Effekte rasch schwankender Glukosespiegel ist.

Starke Glukoseschwankungen

Mithilfe von zerebralen Endothelzellen lässt sich bei raschen Schwankungen des Glukosespiegels zwischen 5 und 25mmol eine deutliche Störung der Blut-Hirn- Schranke (BHS) nachweisen, die teilweise durch eine vemehrte Synthese von Methylglyoxal bedingt sein dürfte. Neben einer Störung der BHS bewirken rasche Glukoseschwankungen ein vermehrtes Hungergefühl und vorzeitige Nahrungsaufnahme. Die Glukosevariabilität kann bei Menschen mit Diabetes neben ausreichend Bewegung medikamentös mit SGLT2-Hemmern und GLP-1-Analoga gut reduziert werden. Eine gesteigerte Glukosevariabilität führt jedenfalls zu oxidativem Stress, endothelialer Dysfunktion sowie malignem Essverhalten und beeinflusst möglicherweise die BHS negativ. Aus heutiger Sicht sollte die glykämische Variabilität auch in der Therapie berücksichtigt werden.

Geringere Glukosevariabilität und strenge Glukosekontrolle

In der FLAT-SUGAR-Studie (Diabetes Care 2016) wurden Menschen mit T2D entweder mit einer Basis-Bolus-Insulintherapie behandelt oder mit einem Basalinsulin und einem GLP-1-Rezeptoragonisten (Exenatid 2xtgl.). Nach 26 Wochen zeigte sich unter letzterer Therapie eine geringere Glukosevariabilität, gemessen an den Parametern CV und MAGE, bei vergleichbaren HbA1c-Werten.

Mit Einführung der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) wurde neben dem Variationskoeffizienten das ambulante Glukoseprofil (AGP) etabliert. Der International Consensus Report von Battelino T et al. (Diabetes Care 2019) behandelt die Definition, Messung und Anwendung der „time in range“ (TIR). Demzufolge ist sie ein aussagekräftigeres Maß für die Glukosekontrolle bei Diabetes als der herkömmliche HbA1c-Wert. Der Bericht betont, dass die kontinuierliche Glukoseüberwachung und die Bewertung der Zeit im vordefinierten Glukosezielbereich entscheidende Parameter für eine präzisere Einschätzung der Stoffwechselkontrolle sind. Die TIR stellt dabei einen zusätzlichen Mehrwert zum traditionellen HbA1c-Wert dar, der gewisse Kriterien zur Auswertung eines AGP voraussetzt (Tab. 1).

Tab. 1: Kriterien zur Auswertung des AGP (modifiziert nach Battelino T et al., Diabetes Care 2019, International Consensus Report)

In der Arbeit von Vigersky RA et al. (Diabetes Technol Ther 2019) wurde der Zusammenhang zwischen TIR und HbA1c untersucht. Die Ergebnisse zeigten, dass die Zeit im Zielbereich eine Korrelation mit dem HbA1c-Wert aufweist. Eine höhere TIR war mit niedrigeren HbA1c-Werten verbunden. Jede absolute Veränderung der TIR um 10% ergab eine Veränderung des HbA1c-Wertes um 0,8%. Dabei fand sich bei einer 70%igen Zeit im Zielbereich ein HbA1c von ca. 7%.

Praxistipp
Die Zeit im Zielbereich (TIR) weist eine Korrelation mit dem HbA1c-Wert auf – eine hohe TIR ist mit einem niedrigen HbA1c assoziiert.

Ebenfalls 2019 publizierten Beck RW et al. (Diabetes Care) die Langzeiteffekte der intensiven Blutzuckerkontrolle im Diabetes Control and Complications Trial (DCCT). Die Ergebnisse zeigten, dass eine frühe intensive Insulintherapie bei Menschen mit Typ-1-Diabetes (T1D) langfristige Vorteile hinsichtlich der Reduzierung diabetischer Komplikationen wie Mikroalbuminurie und Retinopathie bietet. Insbesondere wurde festgestellt, dass eine verbesserte TIR mit geringeren Langzeitkomplikationen assoziiert war. Die Studie unterstreicht die nachhaltigen positiven Auswirkungen einer stringenten Glukosekontrolle, die sich auch in einer erhöhten TIR manifestieren und somit Langzeitkomplikationen bei Menschen mit Typ-1-Diabetes reduzieren kann. Die TIR wurde jedoch nicht mittels CGM ermittelt, sondern anhand von 7-Punkte-Messungen (vor und 90min nach den Mahlzeiten und vor dem Schlafengehen), die an einem Tag alle 3 Monate erhoben wurden. Die mittlere TIR war 41%, in der intensivierten Gruppe 52% und in der Kontrollgruppe 31%.

Die Messung der Glukosevariabilität ist von entscheidender Bedeutung für das optimale Diabetesmanagement. Die Integration von verschiedenen Parametern wie HbA1c, Standardabweichung, MAG, MAGE, Variationskoeffizient und AGP mit der Zeit im Zielbereich ermöglicht eine umfassende Beurteilung der kurz- und langfristigen sowie inter- und intraindividuellen Glukosevariabilität.

bei den Verfassern

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