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Adipositas und Stigmatisierung

Covid-19 und Adipositas: zwei Pandemien und deren Zusammenhänge

Über ein Jahr ist bereits vergangen, seitdem die WHO im März 2020 die Epidemie mit SARS-CoV-2 zur weltweiten Pandemie erklärte und unser aller Alltag radikal verändert wurde. Die Zahl der Verstorbenen beträgt mehr als 2915000 Menschen (Stand 10.04.2021).1 Mindestens 2,8 Millionen Tote fordert Adipositas (BMI ≥30kg/m²) laut WHO jährlich und steht damit Covid-19 in Sachen Todeszahlen um fast nichts nach.2

Keypoints

  • Adipositas ist eine chronische schubhafte Erkrankung, die mit einer erhöhten Mortalität assoziiert ist und auch zu schweren bis tödlichen Covid-19-Verläufen führen kann.

  • Stigma und Schuldzuweisungen verschlechtern die gesundheitliche Versorgung von Menschen mit Adipositas.

  • Lösungsansätze für die Behandlung von Menschen mit Adipositas sind im Kontext der Covid-19-Pandemie gefragter denn je.

Für Covid-19 wurden weltweit übergreifende Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheitsausbreitung getroffen, während vielerorts Adipositas gar nicht als Erkrankung anerkannt wird und betroffene Menschen diskriminiert werden. Die individuelle sowie gesundheitspolitische Relevanz von Adipositas wurde jedoch durch die Covid-19-Pandemie deutlich beleuchtet und es zeigt sich, dass Lösungen für Adipositas mehr denn je notwendig sind.

Risiko steigt mit BMI

Abb. 1: Assoziation zwischen BMI und Covid-19-bedingter Hospitalisierung (A), Covid-19-bedingter Intensivstation-Behandlung (B) und Tod aufgrund von Covid-19 (C) in der Gesamtpopulation mit ermitteltem BMI (n=6910695). Die durchgezogene Linie ist die Schätzung der Hazard-Ratio (HR), die schattierten Bereiche zeigen die 95%-Konfidenzintervalle. Die y-Achse stellt eine logarithmische Skala dar. Ein Referenz-BMI von 23 kg/m² wurde angewendet (nach Gao et al.)3

Eine der weltweit größten Studien zum Thema Covid-19, die rezent erschienen ist, zeigt, dass bereits ab einem BMI von >23kg/m2 ein linearer Anstieg des Risikos für einen schweren Covid-19-Verlauf besteht, inklusive Hospitalisierung und Tod.3 Über das gesamte BMI-Spektrum zeigte sich ein linearer Anstieg der Intensivstationaufenthalte, welcher nicht auf andere Nebenerkrankungen zurückzuführen war (Abb.1). Das relative Risiko, das durch einen hohen BMI entsteht, ist besonders bei Menschen, die jünger als 40 Jahre alt sind, erhöht.

Da Adipositas mit vielen Komorbiditäten einhergehen kann – wie z.B. kardiovaskulären Erkrankungen, Diabetes mellitus, Hypertension, Neoplasien sowie respiratorischen und immunologischen Erkrankungen – ist es nicht überraschend, dass auch ein erhöhter BMI zu einem schwereren Covid-19-Verlauf beitragen kann. Dies ist durch zahlreiche Studien bereits belegt. Aber auch bei anderen Viruserkrankungen führt Adipositas, insbesondere ab einem BMI von >40kg/m2, zu einer erhöhten Komplikationsrate, was beispielsweise während der Pandemie mit dem Influenzavirus H1N1 beobachtet wurde.4

Patienten mit einem BMI von 30–34kg/m2 haben eine 1,8-fache Wahrscheinlichkeit, eine intensivmedizinische Behandlung zu benötigen, ab einem BMI >35kg/m2 steigt dieses Risiko sogar auf das 3,6-Fache im Vergleich zu Patienten mit einem BMI <30kg/m2 an.5 Laut einer Metaanalyse, die 17 Studien mit insgesamt über 543000 Patienten inkludiert, ist die Mortalität einer Covid-19-Erkrankung bei gleichzeitig vorliegender Adipositas signifikant erhöht, mit einem relativen Risiko von 1,42. Die Mortalität steigt mit dem BMI, das relative Risiko beträgt bei Adipositas Grad 1 (BMI 30–34,9 kg/m2) 1,27, bei Adipositas Grad 2 (BMI 35–39,9 kg/m2) 1,57 und steigt bei einem BMI von ≥40kg/m2 auf 1,92.6

Ursachen für erhöhtes Risiko vielfältig

Die Gründe für diesen Mortalitätsanstieg sind komplex. Übergewicht führt zu einer Veränderung der angeborenen und adaptiven Immunantworten, wodurch eine chronische, geringgradige Entzündung im Gewebe entsteht. Dieser Zustand ist durch erhöhte Spiegel von proinflammatorischen Zytokinen wie Tumornekrosefaktorα (TNF-α ) oder Interleukin 6 (IL-6) charakterisiert. Wird dem Immunsystem ein Virusantigen präsentiert, verlaufen die proinflammatorische Zytokinproduktion und die Makrophagenaktivierung im Vergleich zu gesundem Gewebe gedämpft. Ein geringeres Ansprechen auf Impfungen und exazerbierte Symptome sind die Folge. Des Weiteren ist die Funktion der T-Zellen und B-Zellen eingeschränkt, Menschen mit Adipositas sind somit empfänglicher für virale Infektionen beziehungsweise schwere Krankheitsverläufe.4 Ein Grund hierfür scheinen erhöhte Leptinspiegel und damit einhergehende Leptinresistenz zu sein, weil dieses Fettgewebshormon nicht nur eine wichtige Rolle im Energiehaushalt spielt, sondern Leptinrezeptoren auch auf Immunzellen exprimiert werden. Neben Adipozyten können zum geringeren Teil auch regulatorische Entzündungszellen Leptin produzieren, sodass die Leptinspiegel während akuter Infektionen ansteigen. Bei Adipositas kann die Störung des Leptinhaushaltes zu einer Dysregulation der inflammatorischen Immunantwort führen. Als weitere Gründe für ein schlechteres Outcome von Covid-19-Patienten mit Adipositas werden eine eingeschränkte pulmonale Ventilation und Zwerchfellexkursion, eine verminderte Lungendurchblutung, metabolische und vaskuläre Komplikationen, hormonelle Dysregulationen sowie eine durch das Übergewicht erschwerte intensivmedizinische Behandlung vermutet.

Bereits beim Influenza-A-Virus und neuerdings auch bei SARS-CoV-2 haben manche Untersuchungen darauf hingedeutet, dass Patienten mit Adipositas das Virus längere Zeit im Körper behalten und ausscheiden. Dies kann der Tatsache geschuldet sein, dass viele Viren, darunter auch das HIV oder CMV, Fettgewebe als Reservoir nutzen können. Für Coronaviren stellt die Bindung an den Angiotensin-Converting-Enzyme-2-Rezeptor (ACE2-Rezeptor) einen wichtigen Schritt dar, um in die Zellen zu gelangen. Der ACE2-Rezeptor ist in Geweben verschiedener Organe, beispielsweise der Lunge, aber auch im Fettgewebe exprimiert.7

Risikogruppe dem Gesundheitssystem nicht immer bekannt

Durch die Diagnose Adipositas wird die Zugehörigkeit zu einer Covid-19-Risikogruppe in Österreich attestiert, bei hochgradiger Adipositas mit BMI >40kg/m2 zu einer Hochrisikogruppe. Bei dieser Erkrankung können Betroffene jedoch nicht a priori durch die Medikation identifiziert werden, denn obwohl Medikamente zur Gewichtsreduktion in Österreich zugelassen sind, werden diese jedoch nicht erstattet. Oft wird Adipositas in ihren frühen Stadien nicht adäquat behandelt und es kommt zu einem Anstieg der Prävalenz an hochgradiger Adipositas, sodass die bariatrische Operation die letzte gerechtfertigte Therapieoption ist.8,9

Diskriminierung und Stigmatisierung vergrößern Problem

Statt konstruktive Präventions- und Therapieansätze zu fördern, wird dieser Erkrankung oft mit Diskriminierung und Stigmatisierung begegnet. Studien zeigen, dass Ärzte bis zu 30% weniger Zeit mit einem Patienten verbringen, wenn dieser Adipositas hat.10 Dabei zeigt es sich auch ganz klar, dass „Fat-Shaming“, also die Verhaltensart, jemanden, der als „fett“ oder „übergewichtig“ wahrgenommen wird, der Kritik oder dem Spott auszusetzen, das Problem weiter verschlechtert.11

An der Definition von Adipositas ist keine moralische Komponente zu erkennen, wie bei jeder Erkrankung ist hier keine „Bewertung“ angebracht. Adipositas ist eine chronische fortschreitende Krankheit, die schubförmig verläuft und multifaktoriell bedingt ist, mit ungünstigen Auswirkungen auf den Stoffwechsel, auf die körperliche und psychosoziale Gesundheit. Die Ursachen sind mannigfaltig und beinhalten Hunderte gesellschaftliche und biologische Faktoren, welche unsere Energiebilanz direkt oder indirekt beeinflussen (FORESIGHT – Tackling Obesities: Future Choices: www.gov.uk). Obwohl der Lebensstil eine wichtige Rolle bei der Entstehung spielt und die Lebensstilmodifikation eine wichtige Säule der Therapie darstellt, darf dies nicht zu Schuldzuweisungen führen: „Warum Menschen mit Adipositas die Schuld geben im Vergleich zu Menschen, die gefährliche oder extreme Sportarten betreiben? Menschen sind nicht gleich, auch nicht in ihrer Fähigkeit, ein gesundes Leben zu führen und für sich selbst stets die besten Gesundheitsentscheidungen zu treffen. Manche sind besser gebildet, selbstbewusster, genetisch ‚gesünder‘ und werden vom sozialen Umfeld mehr unterstützt. Dies zu ignorieren, alle Patienten als gleichwertige Konkurrenten zu sehen und die ohnehin Bessergestellten zu belohnen, ist ungerecht und unfair. In dieser Situation ist es falsch, Ungleiches gleich zu behandeln.“ (Kumar und Clark, Clinical Medicine, 7th Edition).

Das Narrativ der Schuldzuweisung muss im Kontext von Adipositas aufhören. Um diese Erkrankung zu entstigmatisieren sind wir gefragt und müssen das Krankheitsbild verstehen und adäquate Behandlungsmöglichkeiten anbieten.

Während der Einfluss von Adipositas auf den Schweregrad von Covid-19 bereits in zahlreichen Studien untersucht wurde, finden die Auswirkungen der Coronapandemie auf die Adipositas selbst weniger Beachtung. Es scheint einleuchtend, dass Lockdown und Homeoffice nicht gerade förderlich für einen gesunden Lebensstil sind, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass laut einer britischen Studie, an der 543 an Adipositas erkrankte Patienten teilnahmen, mehr als die Hälfte von einer Verschlechterung ihrer Ernährung und physischen Aktivität berichtete.12 Wie sich die Prävalenz und der Schweregrad der Adipositas in der Bevölkerung durch die Pandemie im Detail ändern, wird sich erst zeigen, es steht jedoch fest, dass dieses Problem im klinischen Alltag vermehrter Aufmerksamkeit bedarf und die Patienten mit Adipositas nicht vernachlässigt werden dürfen. Dies ist angesichts der Überlastung im Gesundheitsbereich und der damit verbundenen Aufschiebung nicht unbedingt notwendiger Arzt-Patienten-Kontakte natürlich keine leichte Aufgabe, es gilt jedoch neben einer nächsten Covid-19-Welle auch die Adipositas-Pandemie zu lösen, und hier sind wir alle gefragt.

PraXiStiPP

Zeit nehmen: Diskriminierung und Stigmatisierung geschehen auch unbewusst –Studien zeigen, dass Ärzte bis zu 30% weniger Zeit mit einem Patienten verbringen, wenn dieser Adipositas hat.

1 Johns Hopkins Coronavirus Resource Center. Covid-19 Map - Johns Hopkins Coronavirus Resource Center; 2021 [cited 2021 Apr 10]. Available from: URL: https://coronavirus.jhu.edu/map.html 2 World Health Organization. Obesity; 2021 [cited 2021 Apr 10]. Available from: URL: https://www.who.int/news-room/facts-in-pictures/detail/6-facts-on-obesity 3 Gao M et al.: Associations between body-mass index and Covid-19 severity in 6.9 million people in England: a prospective, community-based, cohort study. Lancet Diabetes Endocrinol 2021; Apr 28: S2213-8587(21)00089-9 4 Abiri B et al.: Obesity and risk of covid-19 infection and severity: available evidence and mechanisms. Adv Exp Med Biol 2021; 1321: 97–107 5 Jayawardena R et al.: Obesity: a potential risk factor for infection and mortality in the current covid-19 epidemic. Diabetes Metab Syndr 2020; 14(6): 2199-203 6 Poly TN et al.: Obesity and mortality among patients diagnosed with covid-19: a systematic review and meta-analysis. Front Med (Lausanne) 2021; 8: 620044 7 Guglielmi V et al.: Susceptibility and severity of viral infections in obesity: lessons from influenza to covid-19. Does leptin play a role? Int J Mol Sci 2021; 22(6): 3183 8 Bray GA et al.: Obesity: a chronic relapsing progressive disease process. A position statement of the World Obesity Federation. Obes Rev 2017; 18(7): 715-23 9 Blüher M: Obesity: global epidemiology and pathogenesis. Nat Rev Endocrinol 2019; 15(5): 288-98 10 Phelan SM et al.: Impact of weight bias and stigma on quality of care and outcomes for patients with obesity. Obes Rev 2015; 16(4): 319-26 11 Tomiyama AJ et al.: How and why weight stigma drives the obesity ‚epidemic‘ and harms health. BMC Med 2018; 16(1): 123 12 Brown A et al.: Negative impact of the first covid-19 lockdown upon health-related behaviours and psychological wellbeing in people living with severe and complex obesity in the UK. EClinicalMedicine 2021; 100796

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