
Chronisch krank – selber schuld?
Bericht: Dr. Albert Brugger
Es diskutierten:
Dr. Petra Fabritz
Fachärztin für innere Medizin, Vorsorgeexpertin
Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek
Psychiater, Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit der Sigmund Freud Universität, Wien
Gerald Pichowetz
Entertainer, lebt mit Typ-2-Diabetes
Stefan Reuffurth, MA
Moraltheologe und Priester
Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher
Präsident der Diabetes Initiative Österreich
Moderation:
Wolfgang Schiefer
Nachrichtenredakteur, ATV Aktuell
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Lässt sich die anhaltende Zunahme der Diabetesprävalenz tatsächlich darauf reduzieren, dass zu viele Menschen nicht die Disziplin aufbringen, sich adäquat zu ernähren und zu bewegen? Und sollten sie sich deswegen vor der Allgemeinheit rechtfertigen müssen? In den 4Gamechangers Health Talks auf PULS 24 hat die Diabetes Initiative Österreich Antworten in einer interdisziplinären Runde gesucht.
In der Diskussion um die auch in Österreich seit Jahren zunehmende Diabetesprävalenz spielen „ungesunde“ Ernährung und sedentäre Lebensweise prominente Rollen. Damit im Zusammenhang steht das Stereotyp eines Menschen, der nicht willens oder in der Lage ist, einen „gesunden Lebensstil“ mit entsprechendem Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu führen, in der Folge an Typ-2-Diabetes erkrankt und selbst angesichts schwerwiegender Folgeerkrankungen der ärztlichen Aufforderung zur nachhaltigen Änderung seiner Lebensgewohnheiten nicht nachkommt – im Grunde also „selber schuld“ ist.
Um gegen die unzulässige Vereinfachung der medizinischen Zusammenhänge und die pauschale Vorverurteilung immerhin eines Zehntels der österreichischen Bevölkerung aufzutreten, hat die Diabetes Initiative Österreich (DIÖ) im vergangenen Jahr die Kampagne „Diabetes kann jeden treffen – kein Mensch mit Diabetes ist selber schuld!“ gestartet. Ein gleichnamiger Fernsehspot wurde rund um den Weltdiabetestag 2020 Dutzende Male ausgestrahlt (Abb. 1).
Abb. 1: „Mein Leben mit Diabetes“ unter: www.youtube.com/watch?v=wXjzyUM_NGY
In die überwiegend positiven Reaktionen auf die Kampagne mischten sich, zur Überraschung der Initiatoren, auch kritische, vereinzelt sogar wütende Rückmeldungen. Der Fernsehspot nehme die Betroffenen aus der Pflicht und konterkariere jahrelange Präventionsbemühungen, hieß es sinngemäß. Wenn ohnehin niemand an seiner Diabeteserkrankung schuld sei, gebe es auch keinen Grund, sich um eine gesündere Lebensführung zu bemühen.
Für die DIÖ Grund genug, das Thema noch einmal aufzugreifen und insbesondere auch der Frage nachzugehen, inwieweit die Verwendung des Begriffs „Schuld“ im gesundheitlichen Zusammenhang zulässig ist und ob Schuldzuweisungen Menschen zu gesundheitsfördernden Verhaltensweisen motivieren.
Viele bemühen sich
Aus medizinischer Sicht greift der Fokus auf die Lebensstilmodifikation als Determinante des Diabetesrisikos und des Diabetesverlaufs zu kurz, machte DIÖ-Präsident Thomas Wascher eingangs klar. Denn zum einen erkranke längst nicht jeder Mensch, der „ungesund“ lebt, an Diabetes – die familiäre Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Zum anderen sei nicht zu erwarten, dass das Problem „vom Tisch“ sei, nur weil man weniger esse und sich mehr bewege.
Petra Fabritz, niedergelassene Internistin und Vorsorgemedizinerin in Klosterneuburg, widersprach auch der These, Menschen mit Übergewicht seien generell nicht daran interessiert abzunehmen: „Ich erlebe eher, dass die Patienten frustriert sind, wenn sie schon alle Diäten ausprobiert haben, und dass sie medizinischen Rat suchen, wie sie der Adipositas, die ja auch eine chronische Erkrankung ist, aus der Diabetes entstehen kann, entgegenwirken können.“
„Schuld“ ist keine medizinische Kategorie
In der Theologie hat der Terminus „Schuld“ eine klar umrissene Bedeutung. „Das ist ein altes Erklärungsschema, das die Menschheit schon immer gehabt hat“, führte Stefan Reuffurth, Priester und Moraltheologe aus Wien, aus. Gleichzeitig zeige sich schon im Alten Testament die Vielschichtigkeit des Konzepts, wenn etwa im Buch Hiob von einem Menschen berichtet wird, der offensichtlich völlig unschuldig ist an seinem Unglück.
Im Kontext von Gesundheit und Krankheit mit Schuld zu argumentieren hält Reuffurth ohnehin für kontraproduktiv, weil sich dadurch nur die Fronten verhärten. „Wenn ich sage, du bist selber schuld, dann nehme ich mich aus der Verantwortung und lass den anderen damit alleine. Irgendwann verliert man dann den Mut und die Zuversicht.“
Reuffurth spricht lieber von Verantwortung für die eigene Gesundheit, und zwar „unter den Voraussetzungen, die ich mitbringe, und in dem Kontext, in dem ich lebe“. Auch müsse die eigene Verantwortung im Kontext der Verantwortung anderer wahrgenommen werden. „Beispiel Ernährung: Wenn in der Familie die Meinung vorherrscht, dass ein Schweinsbraten dem Buben noch nie geschadet hat, oder Kinder von klein auf mit Fast-Food-Werbung konfrontiert sind, dann fördert das vermutlich nicht den Zugang zu gesunder Ernährung.“ Das entlässt den Einzelnen zwar nicht aus der Verantwortung, resümiert Reuffurth, aber es gehört mehr dazu: „Aufklärung und unter Umständen weitere Hilfe von außen, um die Menschen in die Lage zu versetzen, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen können.“
Unterscheidung von Schuld und Ursache
Für Michael Musalek, Psychiater und Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit an der Sigmund Freud Universität in Wien, ist der Drang, Schuldige für die Ausbildung von Lebensstilerkrankungen wie Typ-2-Diabetes zu benennen, nicht neu. „In der Psychiatrie sind wir daran gewöhnt, dass Patienten beschuldigt werden, dass sie psychisch krank geworden sind, weil sie in ihrem Leben etwas falsch gemacht haben. Bei Suchterkrankungen wird überhaupt davon ausgegangen, dass man selber schuld ist.“
Das gehe so weit, dass zwischen Ursache und Schuld sprachlich keinen Unterschied mehr gemacht werde, so Musalek – mit zum Teil massivsten Auswirkungen für die Betroffenen: „Viele beginnen in der Tat, sich schuldig zu fühlen. Zum Leiden an der Krankheit kommt das Leiden an der Schuld, und es wird noch schwieriger, einen Ausweg zu finden.“ Wie man dagegen ankommt? Musalek: „Das Erste und Wesentlichste ist, auf diesen gesamten Komplex auch sprachlich einzugehen und der betroffenen Person klarzumachen: Es gibt einen Unterschied zwischen Ursache und Schuld. Ohne Zweifel sind Bewegungsmangel und zu viel zu essen Ursachen für Diabetes, man ist also Mitverursacher. Das ist auf der einen Seite eine schlechte Nachricht ist, weil es darin bestärkt, zu glauben, dass man schuld ist. Die gute Nachricht ist auf der anderen Seite: Wenn man Mitverursacher ist, kann man auch etwas dagegen tun.“
Verantwortung für die Gesundheit
Für die eigene Gesundheit verantwortlich zu sein fällt nicht immer leicht, berichtete Thomas Wascher aus der eigenen klinischen Erfahrung. Immer wieder erlebt er, dass Menschen mit anhaltend schlechter Diabeteseinstellung sich in die Autorität des Arztes flüchten wollen und Zurechtweisungen erwarten. „Wie könnte ich schimpfen? In dem Moment impliziere ich schon eine Form von schuldhaftem Verhalten oder die Idee, dass der Betroffene etwas für mich tun sollte. Vielleicht ist es für manche Menschen leichter, an etwas schuld zu sein, als für etwas Verantwortung zu übernehmen. Wenn ich an etwas Schuld habe, dann kann mich jemand entschuldigen. Im kirchlichen Kontext ist es der Priester, im medizinischen Kontext der Arzt, der es wiedergutmacht. Das ist aber eine Idee, die aus der Akutmedizin kommt. Bei chronisch erkrankten Menschen kann der Arzt, das betreuende Team nur die Möglichkeiten aufzeigen, annehmen muss sie der Betroffene selbst. Damit muss er auch Verantwortung übernehmen.“
Psychiater Michael Musalek warnte allerdings davor, Betroffene für den Verlauf ihrer Erkrankung allein verantwortlich zu machen. „Für die bestmögliche Behandlung ist natürlich der Arzt zuständig, und diese Verantwortung kann er auch nicht abgeben. Auf der anderen Seite ist der Patient für die Gestaltung seines Lebens verantwortlich.“ Und dann gebe es auch noch die gemeinsame Verantwortung, verantwortungsvoll miteinander umzugehen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein chronisch kranker Mensch Verantwortung wahrnehmen kann, sei die Motivation, sein Verhalten entsprechend anzupassen. „Wir müssen die Frage stellen: Wann wollen wir etwas? Dann, wenn es für uns schön ist und wenn wir es für möglich halten. Wenn wir etwas Attraktives vor Augen haben und das Gefühl haben, wir können das erreichen, dann wollen wir es und sind auch bereit, viel dafür zu tun. Wenn wir etwas nicht attraktiv finden, wollen wir das nicht, und wenn wir es nicht für möglich halten, auch nicht.“
Also müssten sich Patient und Behandler auf die gemeinsame Suche nach den Motivatoren machen: „Was ist schöner als Essen? Was ist schöner als Trinken? Wir haben im Anton-Proksch-Institut ein Programm entwickelt, in dem Menschen lernen, die Schönheit in ihrem Leben wieder wahrzunehmen – in der Kunst sein, in der Beziehung sein, in der Fantasie.“ Das könne helfen, sich Ziele zu setzen und diese für sich erreichbar zu machen, so Musalek.
Mit Diabetes leben lernen
Beim Schauspieler Gerald Pichowetz wurde vor rund 20 Jahren Typ-2-Diabetes diagnostiziert. Gerade bei Diabetes liege die Tücke der Erkrankung darin, dass die Grundlagen oft in jungen Jahren gelegt werden, wenn man sich stark fühlt, und dass man lange Zeit nichts spürt und keine Einschränkungen erlebt, sagt er. Pichowetz schildert auch, wie er lernen musste, mit der chronischen Erkrankung umzugehen. „Man geht zum Arzt und denkt: Nimm die Pulver, und es wird schon weggehen. Aber Diabetes geht nicht weg.“ Im Gegensatz zu Akuterkrankungen könne man sich auch nicht darauf verlassen, dass die Ärztin oder der Arzt es „schon richtet“. Es sei ein Prozess, bin man erkennt: „Da muss ich etwas tun, es liegt an mir.“ Und bis man begreift, dass Diabetes eine Erkrankung ist, die einen lebenslang begleitet. Pichowetz: „Das haben die meisten nicht erkannt.“
Quelle:
4Gamechangers Health Talks: „Chronisch krank – selber schuld? Über Stigmatisierung, Schuldzuweisung und Verantwortung“, 17. November 2021, Puls 24
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