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Lebensstil, Umweltfaktoren, Genetik und Entzündungsprozesse

Adipositaspandemie: eine Ursachensuche

Rasant ansteigende Zahlen und epidemiologische Daten zeigen: Die Adipositaspandemie ist längst eine Tatsache. Die Gründe dafür sind jedoch nicht so leicht zu identifizieren.

Keypoints

  • Die Adipositaspandemie ist ein multifaktorielles Problem mit starken physischen, psychischen und sozialen Wurzeln.

  • Die Komplexität des Zusammenspiels der zahlreichen Faktoren bei der Entwicklung der Adipositas ist enorm.

  • Zur Eindämmung der Adipositaspandemie und deren gesundheitlichen und volkswirtschaftlichen Folgen muss an verschiedensten Stellen therapeutisch und präventiv eingegriffen werden.

Die Prävalenz der Adipositas nimmt weltweit zu und liegt im OECD-Schnitt bei knapp unter 20% der Bevölkerung älter als 15 Jahre mit deutlichem prognostiziertem Anstieg bis 2030 (Abb. 1).1 Besonders besorgniserregend sind die rasant steigenden Zahlen der Adipositas im Kindes- und Jugendalter, die sich von 2000 bis 2016 mehr als verdoppelt haben.2

Abb. 1: Prognostizierter Anstieg der Prävalenz von Adipositas bis 2030 der OECD1

Prinzipiell liegt der Entwicklung der Adipositas eine Energie-Dysbalance zugrunde. Auf der einen Seite liegt die Kalorienzufuhr durch Nahrungsaufnahme, auf der anderen Seite der Kalorienverbrauch durch körperliche Aktivität. Dazwischen liegen aber große interindividuelle Unterschiede in Stoffwechselregulation und Energieverbrauch, die die Energiebilanz maßgeblich beeinflussen.3

Kalorienbilanz vs. körperliche Aktivität

Mögliche Gründe für eine anhaltend positive Kalorienbilanz sind vielschichtig.3 Die übermäßige Kalorienzufuhr beruht z.B. auf Nichtwissen über den Kaloriengehalt bzw. die Kaloriendichte der zugeführten Nahrungsmittel, dem soziokulturellen Umfeld, „peer pressure“, Hungergefühl oder Kontrollverlust, emotionalem Essen, Snacking, Schlafstörungen oder einer Reihe von Medikamenten. Ähnlich verhält es sich mit der körperlichen Aktivität, die stark vom soziokulturellen Umfeld, vom Arbeitsplatz und von Medikation, besonders aber auch durch körperliche Einschränkungen einschließlich chronischer Müdigkeit, Muskel-/Gelenksschmerzen, einem niedrigen Fitnessniveau und emotionalen Barrieren beeinflusst wird. Darüber hinaus kann der intrinsische Energieverbrauch bedingt durch Alterungsvorgänge, genetische und epigenetische Veränderungen, neuroendokrine Faktoren, Aktivität des braunen Fettgewebes, Sarkopenie und durch das Darmmikrobiom sehr unterschiedlich sein.

Selektionsprozesse könnten die Bevölkerung besonders empfänglich für die Adipositas gemacht haben. Durch wiederholte Hungersnöte in der Menschheitsgeschichte könnte die Bevölkerung hin zu hocheffizienter Energieaufnahme und -speicherung selektiert worden sein. In solchen Situationen bringen rasche Energiezufuhr, niedriger Energieverbrauch und geringe körperliche Aktivität entscheidende Überlebensvorteile.

Umgebungsfaktoren

Adipositas muss auch nicht a priori ungewollt sein. So gibt es regional sehr große Unterschiede in der präferierten Körperfülle. Solche Unterschiede in der Wahrnehmung können auch soziokulturelle oder sozioökonomische Gründe haben. Dazu kommen regionale und lokale Faktoren, z.B. zwischen Stadt und Land.

In Zusammenschau dieser wohlgemerkt exemplarisch aufgelisteten Ursachen entsteht eine enorme Komplexität, indem individuelle Physiologie und Verhalten durch starke soziale und globale und lokale Umgebungsfaktoren beeinflusst wird.3 Ein Beispiel für die Bedeutung des sozialen Gefüges zeigt eine prominent publizierte Studie, die die Bedeutung verschiedener Beziehungen in einem sozialen Netzwerk auf das Risiko der Adipositas hin untersuchte.4 Je nach Beziehung als Freund, Partner, Geschwister etc. bestehen unterschiedliche Risiken für die Entwicklung einer Adipositas.

Einfluss von „Obesogenen“

Sog. „Obesogene“ könnten eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung der Adipositas einnehmen. Obesogene sind Chemikalien, die bei Exposition in vivo zu einer Vermehrung des weißen Fettgewebes führen.5 Zahlreiche solcher Obesogene sind in unserer modernen Welt zu finden. Sie wirken zum Teil als sogenannte „endocrine-disrupting chemicals“, wie z.B. Bisphenole und Phthalate in Kunststoffen.6 Durch Interferenz mit Hormonen und Signaltransduktionswegen können sie die Nahrungsaufnahme, das Mikrobiom und die Entwicklung von weißen Fettzellen beeinflussen und damit zur Gewichtszunahme beitragen.5

Genetische & epigenetische Ursachen

Praxistipp
Nachdem de facto Ende der Covidpandemie muss die Bekämpfung der Adipositaspandemie zur Priorität erhoben werden.

Aufgrund der familiären Häufung der Adipositas ist es naheliegend, an genetische oder epigenetische Ursachen zu denken. Monogene Erkrankungen mit dem Leitsymptom der Adipositas weisen z.B. Defekte in den Genen für den Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R), Leptin oder den Leptinrezeptor (LEP, LEPR) auf. Viel häufiger sind jedoch polygene Formen, die mittels genomweiter Assoziationsstudien untersucht wurden. Zahlreiche Gene wurden in diesen Studien identifiziert, deren Polymorphismen einen Teil des BMI oder der Verteilung des Fettgewebes erklären könnten.7,8 Enttäuschend an diesen Ergebnissen ist, dass trotz Einbeziehung von rund 1000 signifikanten Polymorphismen nur etwa 6% der Variation des BMI erklärt werden konnten,9 obwohl man rechnet, dass rund 30% des BMI vererbbar sind.8 Dies führte zu einer Reihe von Untersuchungen zu epigenetischen Veränderungen, die auf Basis von Genetik und Umfeld den Energieverbrauch im Sinne einer Adipositasentstehung beeinflussen könnten. Die Liste der bisher identifizierten Histon-Modifikationen, DNA-Methylierungen und nichtcodierenden RNAs ist lang, deren Voraussagekraft aber noch nicht geklärt.10 Dazu kommen Gen-Umwelt-Interaktionen, die auch in großen Datenbanken nur eine limitierte Mehrinformation hinsichtlich des BMI liefern.11

Folge von Inflammationen

Spannende Themen in der Adipositasforschung sind weiterhin Entzündungsvorgänge, die besonders im – metabolisch ungünstigen – viszeralen Fettgewebe auftreten und Insulinresistenz, Diabetesentwicklung und kardiovaskuläre Ereignisse begünstigen.12,13 Kommunikation von Immunzellen im Fettgewebe beeinflussen auch das „Beige“-ing der weißen Fettzellen, also deren Veränderung hin zu energieverbrauchenden braunen Adipozyten.14 Darüber hinaus beeinflusst das Darmmikrobiom durch verschiedenste Signalvorgänge maßgeblich die Entzündungsreaktion und damit die Stoffwechselregulation.15

Fazit

Alles in allem wird die Entwicklung der Adipositas durch zahlreiche Faktoren auf verschiedensten Ebenen beeinflusst. Genetik, Epigenetik, Stoffwechselregulation, Mikrobiota, Umfeldfaktoren, Lebensstil, Verhalten, psychologische, ökonomische, soziale u.a. Faktoren spielen eine Rolle. Das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren ist extrem komplex. Die dringend erforderliche Eindämmung der Adipositaspandemie benötigt daher Maßnahmen auf verschiedensten Ebenen, einschließlich und insbesondere auch der Politik.

1 Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD): www.oecd.org/health/obesity-update.htm ; zuletzt aufgerufen am 2.1.2022 2 NCD Risk Factor Collaboration: Lancet 2017; 390(10113): 2627-42 3 Bluher M: Nat Rev Endocrinol 2019; 15(5): 288-98 4 Christakis NA, Fowler JH: N Engl J Med 2007; 357(4): 370-9 5 Heindel JJ et al.: Biochem Pharmacol 2022; 199: 115015 6 Gore AC, Krishnan K et al.: Horm Behav 2019; 111: 7-22 7 Stryjecki C et al.: Obes Rev 2018; 19(1): 62-80 8 Pigeyre M et al.: Clin Sci (Lond) 2016; 130(12): 943-86 9 Yengo L et al.: Hum Mol Genet 2018; 27(20): 3641-9 10 Mahmoud AM: Int J Mol Sci 2022; 23(3): 1341 11 Mason K et al.: Lancet 2018; 3(1): e24-33 12 Zeyda M, Stulnig TM: Gerontology 2009; 55(4): 379-86 13 Leitner L et al.: Obesity (Silver Spring) 2015; 23(4): 779-85 14 Cheong LY, Xu A: J Mol Cell Biol 2021; 13(7): 466-79 15 Tilg H et al.: Nat Rev Immunol 2020; 20(1): 40-54

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