
Adipositas ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Unser Gesprächspartner:
Univ.-Prof. Dr. Hermann Toplak
Abteilung für Klinische Endokrinologie und Diabetologie, Medizinische Universität Graz
E-Mail: hermann.toplak@medunigraz.at
Das Interview führte
Dr. Albert Brugger
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Adipositas umfasst mehr als den Begriff „starkes Übergewicht“. Betroffnenen fehlt der Zugang zu Prävention, Therapie, sowie Maßnahmen gegen Diskriminierung und für ein gesünderes Lebensumfeld. Die WHO sieht in der Adipositas längerfristig das größte globale Gesundheitsproblem, wobei flächendeckend keine spezifischen Betreuungsstrukturen existieren. Darüber hinaus kommt im Rahmen der medizinischen Ausbildung die Adipositasbehandlung praktisch nicht vor und auch spezifische Fortbildungsangebote fehlen.
Herr Prof. Toplak, im Jänner 2021 hat die Association for the Study of Obesity (EASO) die Unterstützung der „Milan Charter on Urban Obesity“ erklärt.1 Worum geht es dabei im Detail?
H. Toplak:Die EASO betont die gesellschaftliche Dimension der Adipositas seit Langem. Schon im Jahr 1999, anlässlich des europäischen Adipositaskongresses in Mailand, wurde die „Milan Declaration“ verabschiedet. Darin wurden die europäischen Regierungen aufgefordert, Schritte zu setzen, damit Adipositas als chronische Erkrankung anerkannt wird und die Möglichkeiten für eine evidenzbasierte Prävention und Therapie geschaffen werden. Die Mailänder Erklärung wurde 2015 erneuert und von Bernhard Ludvik, dem damaligen Präsidenten der Österreichischen Adipositas Gesellschaft (ÖAG), mitunterzeichnet. Die Charta enthält eine ganze Reihe von Forderungen, darunter ein fairer Zugang zu Prävention und Therapie, Maßnahmen gegen Stigmatisierung und Diskriminierung und konkrete Aktionen für ein gesünderes Lebensumfeld, auch im urbanen Raum. Die „Milan Charter on Urban Obesity“ ist die konsequente Fortsetzung dieser Bemühungen, weil wir wissen, dass Städte – und hier sprechen wir nicht nur von den Megacities der Welt – die Entwicklung von Adipositas und auch von Typ-2-Diabetes fördern.
Sie sprechen von Adipositas als chronischer Erkrankung. Wie akzeptiert ist diese Klassifizierung mittlerweile?
H. Toplak:Aus medizinischer Sicht und für die meisten Fachgesellschaften, darunter die EASO und die ÖAG, ist Adipositas ohne Zweifel eine chronische Erkrankung, die allerdings mehr umfasst als starkes Übergewicht. Brisant ist die Diskussion vor allem wegen der versicherungsrechtlichen Dimension, weil kranke Menschen in den meisten Ländern kein Anrecht auf Therapie und entsprechende Versicherungsleistungen haben. Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel darüber gelernt, welche gesundheitlichen Folgen Adipositas haben kann, aber auch, dass wir durch die Behandlung von Adipositas in der Lage sind, die Morbidität und Mortalität der Betroffenen deutlich zu reduzieren. Die Weltgesundheitsorganisation deklariert Adipositas als „größtes globales Gesundheitsproblem“, die EASO hat Adipositas zu einem zentralen krankheitsbestimmenden Faktor („gateway of ill health“) erklärt und eine neue Klassifikation für ICD-11 vorgeschlagen.2 Letzten Endes geht es aber darum, dass die Betroffenen die erforderliche Unterstützung und Behandlung bekommen.
Wie ist die Versorgungssituation für Menschen mit Adipositas in Österreich?
H. Toplak: Wir haben leider flächendeckend keine spezifischen Betreuungsstrukturen. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, vor allem natürlich aus dem Bereich der Diabetologie und der Stoffwechselmedizin, die sich auf das Adipositasmanagement spezialisiert haben, es gibt einige Adipositasambulanzen, und es gibt vier von der EASO akkreditierte „Collaborating Centres for Obesity Management“ in Wien (Universitätsklinik für Innere Medizin III; Klinik Landstraße), Graz (Universitätsklinik für Innere Medizin) und Salzburg (Paracelsus Medizinische Privatuniversität). Im Adipositasnetzwerk der ÖAG ( www.adipositasnetzwerk.at ) gibt es außerdem Personen, die diätologisch, bewegungstherapeutisch und psychologisch bzw. psychotherapeutisch tätig sind. Auch auf der Ausbildungsseite haben wir Defizite: Im Rahmen der medizinischen Ausbildung kommt die Adipositasbehandlung praktisch nicht vor, und abgesehen von der Adipositas Akademie der ÖAG und dem ÖÄK-Diplom für Ernährungsmedizin gibt es auch kaum spezifische Fortbildungsangebote.
Literatur:
1 Carruba MO et al.: Obes Facts 2021; 14:163-168 2 Toplak H et al. : Wien Klin Wochenschr 2019; 131(Suppl 1):S71-S76
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