
Abgestempelt! Stigma bei Diabetes mellitus
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Menschen mit Diabetes sehen sich häufig mit Stigmatisierung konfrontiert. Als Folge solcher Herabwürdigung und Diskriminierung können das emotionale Erleben, das Gesundheitsverhalten und der Therapieerfolg der Betroffenen beeinträchtigt werden. Während die Stigmaforschung bei anderen chronischen Erkrankungen bereits weit fortgeschritten ist, steht sie im Bereich des Diabetes mellitus noch weit zurück.
Die diabetesbezogene Forschung hat sich lange Zeit auf die medizinische Betreuung körperlicher Symptome und die Prävention von Komplikationen fokussiert. In den letzten Jahren rücken jedoch zunehmend auch die psychologischen Aspekte der Erkrankung wie Depression, Angst, Diabetes-Disstress und die Lebensqualität in das Zentrum des Interesses.1, 2 Im Rahmen der psychosozialen Aspekte bei Diabetes mellitus erscheinen Herabminderung und Ungleichbehandlung von Menschen mit Diabetes bislang zu wenig beachtete Konsequenzen der Erkrankung zu sein, die das körperliche und seelische Wohlbefinden der Betroffenen beeinträchtigen können.2 2013 hat die International Diabetes Federation die diabetesbezogene Stigmatisierung als ein dringliches Problem identifiziert, das hohe Priorität hat.3 Auch die American Diabetes Association betont im Kapitel 16 („Diabetes Advocacy“) ihrer aktuellen „Standards of Medical Care in Diabetes“, dass Menschen mit Diabetes keiner diabetesbedingten Diskriminierung ausgesetzt sein sollten.4 Während die Stigmaforschung bei anderen Erkrankungen wie HIV/Aids, psychischen Erkrankungen oder Adipositas schon substanziell fortgeschritten ist, wird dieses Thema im Rahmen des Diabetes mellitus als noch unzureichend erforscht angesehen.2, 5
Stigmatisierung als sozialer Prozess
Im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch in der wissenschaftlichen Literatur wird der Begriff Stigma unterschiedlich verwendet. Nach Goffman6 versteht man unter Stigma ein Merkmal einer Person oder Gruppe, welches eine sozial definierte Norm verletzt und die Person oder Gruppe als „in unerwünschter Weise anders“ erscheinen lässt. Als Stigmatisierung wird der Prozess bezeichnet, in dessen Folge die Person oder Gruppe mit einem Stigma abgewertet und anders behandelt wird. Link und Phelan haben in einem sehr holistischen Zugang fünf Komponenten für die Entstehung von Stigma definiert7, 8 (Abb. 1).
Abb. 1: 5 Komponenten bei der Entstehung eines Stigmas7, 8
Unterscheidung und Etikettierung (Labeling)
Wir Menschen unterscheiden uns untereinander in vielerlei Hinsicht – vom Aussehen über unsere Lebensweise bis zur Sozialversicherungsnummer. Der Großteil dieser Unterschiede ist für uns (zumindest die meiste Zeit) irrelevant, manche wie Hautfarbe, Herkunft, sexuelle Präferenzen, Erkrankungen können aber abhängig von Zeit und Ort, also der herrschenden Kultur, als relevant und deshalb als besonders hervorstechend erachtet werden. Es geht also um die gesellschaftliche Definition der Relevanz menschlicher Unterscheidungsmerkmale. Derartige Unterscheidungen werden oft nicht hinterfragt, sondern als gegeben hingenommen, wodurch eine undifferenzierte und übersimplifizierte Zuordnung zu Gruppen oder Kategorien (Inländer/Ausländer, normalgewichtig/übergewichtig/adipös, Diabetiker/Nichtdiabetiker) erfolgt. Hervorstechende Merkmale werden an Personen oder Gruppen angeheftet wie ein Etikett (engl. „label“). Bei Diabetes ist die Erkrankung nicht immer offensichtlich. Oft sind es erst Verhaltensweisen (Insulin spritzen, besonderes Ernährungsverhalten, Blutzucker messen), die ins Auge stechen. In anderen Fällen – wie häufig bei Typ-2-Diabetes – können Merkmale wie Übergewicht oder Adipositas a priori ins Auge stechen.
Verknüpfung des Labels mit Stereotypen
Neben dem Label (Diabetes/Adipositas) braucht es die Verknüpfung desselben mit negativen Attributen (Stereotypen), z.B. faul, unmäßig, charakterschwach. Dieser Vorgang erfolgt oft automatisch unterhalb der Bewusstseinsebene und kann z.B. aus dem allgemeinen Narrativ resultieren, dass Lebensstil-mitbedingte Erkrankungen ausschließlich Folge persönlicher Verantwortung und nicht das Resultat komplexer biologischer und umweltbezogener Faktoren und Zusammenhänge sind. Ist eine derartige negative Verknüpfung etabliert, führt die Identifikation des Merkmals zu negativen Haltungen und Reaktionen. Zum Beispiel wird die Information über eine Diagnose „psychische Erkrankung“ bei Personen, bei denen psychische Erkrankungen mit dem Stereotyp „gefährlich, unberechenbar“ verknüpft sind, das Bedürfnis wecken, auf Distanz zur erkrankten Person zu gehen.
Abgrenzung „wir“ vs. „jene“
Etikettierung und Verknüpfung des Labels mit Stereotypen können dazu führen, dass die derart etikettierte Person oder Personengruppe als fundamental anders wahrgenommen wird, sodass es zu einer Separation zwischen der das Label tragenden Person oder Gruppe und der als Norm angesehenen Mehrheit kommt: Es entsteht die Abgrenzung zwischen „uns“ auf der einen Seite und „jenen“ auf der anderen Seite. „Jene“ sind dann eine „andere Art“ Menschen und werden in der Wahrnehmung zu dem, was auf ihrem Label steht (die „Adipösen“, die „Diabetiker“).
Statusverlust und Diskriminierung
Die vierte Komponente des Stigmatisierungsprozesses liegt in der Positionierung der mit dem Label versehenen Person auf einer niedrigeren Stufe in der Statushierarchie. Der Statusverlust liefert die Legitimation zur Benachteiligung der stigmatisierten Person oder Gruppe. Die Ungleichbehandlung äußert sich dann als Reduktion von Chancen im Leben (Ausbildung, Einkommen, Wohlbefinden, Gesundheit etc.). Dabei kann die Diskriminierung sowohl direkt durch eine Person oder Gruppe als auch indirekt auf struktureller Ebene (institutionelle Vorgaben, Gesetze) erfolgen. Diskriminierung auf struktureller Ebene ist oft weniger offensichtlich und die Person, die die Diskriminierung umsetzt (oder umzusetzen hat), muss selbst gar keine Vorbehalte gegenüber der stigmatisierten Person hegen.
Macht
Stigmatisierung ist an Macht gekoppelt. Ohne die Möglichkeit zur sozialen, kulturellen, politischen oder ökonomischen Machtausübung wird das Anbringen eines Labels bei der damit etikettierten Person oder Gruppe kaum zu negativen Konsequenzen und damit zur spürbaren Stigmatisierung führen. In anderen Worten: Nur wer diese Macht dazu hat, kann stigmatisieren.
Diabetesbezogenes Stigma: Prävalenz, Inhalte und Herkunft
Während Menschen, die nicht von Diabetes betroffen sind, häufig der Meinung sind, die Erkrankung sei nur mit wenig Stigmatisierung belegt, zeichnen rezente Befragungen der tatsächlich Betroffenen ein ganz anderes Bild.2 In einer von der Schweizer Diabetes Gesellschaft veranlassten qualitativen und quantitativen Studie unter Personen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes wurde untersucht, in welchem Ausmaß die Studienteilnehmer in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Schule, Berufswahl, Ausbildung und Erwerbstätigkeit, Armee, Mobilität (Autofahren, Flughafensicherheit), Steuersystem und Versicherungen, Sozialkontakten, Wahl sportlicher Aktivitäten oder im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem wegen des Diabetes schon einmal eine Ungleichbehandlung erfahren hatten.9 Von den 3347 Befragten gab nur ein knappes Drittel (31,5%) an, dass sie noch nie ungerechtfertigterweise wegen ihres Diabetes ungleich behandelt worden waren. Etwas mehr als zwei Drittel (68,5%) gaben dagegen an, in den genannten Bereichen schon solche Erfahrungen gemacht zu haben. In der qualitativen Auswertung wurde ermittelt, welche Zuschreibungen von Personen mit Diabetes wahrgenommen werden. Unter den von den Betroffenen am häufigsten genannten Wahrnehmungen fanden sich: der Eindruck, in der Öffentlichkeit aufgrund des Insulinspritzens komisch angeschaut zu werden (55%), das Bild, Menschen mit Diabetes wären in der Regel alt und übergewichtig (48%), die Wahrnehmung, dass Diabetes für etwas Schreckliches gehalten wird (43%), sowie das Gefühl, Menschen mit Diabetes würden als leistungsbeeinträchtigt (40%) und als selbst schuld an ihrer Erkrankung (40%) angesehen.
In einer großen quantitativen Umfrage10 in den USA wurden Menschen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes unter anderem auch zu Stigmatisierungserfahrungen befragt. Von den 12000 Teilnehmern beantworteten 5422 Teilnehmer auch jene Fragen, die zum Thema Stigma gestellt worden waren. Es berichteten 76% der Teilnehmer mit Typ-1-Diabetes und 52% der Teilnehmer mit Typ-2-Diabetes Stigmatisierungserlebnisse gehabt zu haben (p<0,0001). Unabhängig vom Diabetestyp waren Personen weiblichen Geschlechts und mit höherer Ausbildung mit einer erhöhten Stigmawahrnehmung assoziiert. Innerhalb der Gruppe mit Typ-1-Diabetes waren Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabtes signifikant häufiger betroffen als Erwachsene mit Typ-1-Diabetes. (83% vs. 74%, p=0,006). Bei Menschen mit Typ-2-Diabetes stieg die Stigmawahrnehmung mit der Intensität der antihyperglykämischen Therapie: ohne Insulintherapie 49% vs. 55% mit Insulintherapie (p<0,0005). Teilnehmer mit Typ-2-Diabetes und intensiver Insulintherapie (Injektionen mehrmals täglichoder Pumpe) berichteten sogar zu 61% über Stigmatisierungserlebnisse. Weitere Faktoren, die mit einer erhöhten Stigmawahrnehmung einhergingen, waren HbA1c >7%, BMI ≥25kg/m2 sowie selbstberichtete ungenügende Blutzuckereinstellung und selbstberichtete Depression. Die am häufigsten wahrgenommenen Stigmainhalte waren, unabhängig vom Diabetestyp, der Eindruck, als charakterschwach oder nicht fähig, persönliche Verantwortung zu übernehmen, gesehen zu werden (81%), sowie das Gefühl, als Belastung für das Gesundheitssystem zu gelten (61%). Bezüglich der Herkunft des Diabetesstigmas finden sich in Analogie zum Gewichtsstigma11 multiple Quellen, wie Gesundheitsberufe, Medien, Arbeitgeber, Familie oder Freunde.2, 12, 13 Ein erheblicher Anteil von Menschen mit Typ-1-Diabetes scheint Stigmatisierung durch die Verwechslung und Assoziation ihrer Erkrankung mit Typ-2-Diabetes zu erleben. Tatsächlich wünschten sich in der Studie von Liu et al.10 19% der Erwachsenen bzw. Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes eine Umbenennung der Erkrankung, um eine Abgrenzung vom Typ-2-Diabetes zu erreichen.10 Dabei dürften, wie bei der Adipositas,11 mangelndes Wissen oder fehlerhafte Vorstellungen über die Zusammenhänge bezüglich der Entstehung der verschiedenen Formen des Diabetes eine wichtige Ursache für die Entstehung sowohl von Diabetesstigma als auch von Gewichtsstigma sein, wie es auch von Betroffenen in der Untersuchung von Liu et al.10 zum Ausdruck gebracht wurde. 38% der Teilnehmer mit Typ-1-Diabetes und 16% der Personen mit Typ-2-Diabetes gaben mangelndes Wissen über Diabetes als Grund für die von ihnen erlebte Stigmatisierung an. In der StudieAttitudes, Stigma and Knowledge (ASK)wurde beobachtet, dass jene Personen, die Maßlosigkeit, emotionales Essen oder Suchtverhalten für eine übermäßige Kalorienaufnahme verantwortlich machten, signifikant höhere Stigmascores aufwiesen als jene, die Lebensmittelangebot, physiologische Abweichungen oder andere Gründe als ursächlich betrachteten. 79% bzw. 80% der Allgemeinbevölkerung waren der Meinung, dass die Adipositas durch einen gesunden Lebensstil völlig vermieden bzw. geheilt werden könne (bei Angehörigen der Gesundheitsberufe waren dies 57% bzw. 62%). Bezüglich des Typ-2-Diabetes waren 66% der Allgemeinbevölkerung und 56% der Angehörigen der Gesundheitsberufe der Überzeugung, dass die Erkrankung durch einen gesunden Lebensstil völlig zur Heilung gebracht werden könnte.14
Doppeltes Stigma bei Typ-2-Diabetes
In einer aktuellen US-amerikanischen Untersuchung konnte gezeigt werden, dass bei Personen mit Typ-2-Diabetes neben dem diabetesbezogenen Stigma aufgrund der hohen Assoziation mit Adipositas auch das gewichtsbezogene Stigma äußerst relevant ist. Mehr als die Hälfte der Befragten (53%) gaben an, in der Vergangenheit Erfahrungen mit Gewichtsstigma gemacht zu haben. Besonders beachtenswert erscheint dabei die Tatsache, dass 40–60% angaben, Gewichtsstigma im Zusammenhang mit der Gesundheitsversorgung erlebt zu haben. Besonders betroffen von beiden Stigmaformen waren junge Erwachsene mit hohem BMI und weiße Frauen.15 Möglicherweise ist es das gewichtsbezogene Stigma, warum sich viele Menschen mit Typ-1-Diabetes durch die mögliche Verwechslung der Erkrankung mit Typ-2-Diabetes stigmatisiert fühlen und sich davon abgrenzen wollen.10
Konsequenzen von Stigma
Stigmatisierungserlebnisse beeinträchtigen sowohl emotionale als auch soziale Aspekte des Lebens der Betroffenen und haben einen negativen Einfluss auf das Diabetesmanagement.10, 16, 17 In der Studie von Liu et al.10 sahen sich vor allem Frauen mit Typ-1-Diabetes in ihrem emotionalen Leben durch diabetesbezogene Stigmatisierung beeinträchtigt: 42% der weiblichen Befragten mit Typ-1-Diabetes gaben an, dass die Wahrnehmung ihres Diabetes durch andere zu Gefühlen von Schuld, Scham, Kritik, Peinlichkeit oder Isolation geführt hatte. Weniger stark ausgeprägt scheint die emotionale Auswirkung bei Männern mit Typ-1-Diabetes (30%) und Menschen mit Typ-2-Diabetes (25%) zu sein. Die geringsten Auswirkungen auf das emotionale Leben zeigte sich bei Männern mit Typ-2-Diabetes (18%), wobei sich bei Personen mit Typ-2-Diabetes jedoch wiederum eine Assoziation mit der Intensität der antihyperglykämischen Behandlung zeigte (kein Insulin 20%, Insulin 30%, multiple Injektionen oder Pumpentherapie 35%). Das Sozialleben empfanden mehr als jeder vierte Studienteilnehmer als beeinträchtigt (Typ-1-Diabetes 22–26%, Typ-2-Diabetes 23–30%). Sowohl Personen mit Typ-1-Diabetes (17%) als auch Personen mit Typ-2-Diabetes (22%) gaben an, dass das Diabetesstigma negativen Einfluss auf das Diabetesmanagement hat, insbesondere Frauen mit Typ-2-Diabetes. Die kürzlich publizierte Untersuchung von Puhl et al.16 weist darauf hin, dass Selbstvorwürfe bezüglich Körpergewicht oder Diabetes eine erhöhte emotionale Belastung bewirken. Sowohl internalisiertes Gewichtsstigma als auch diabetesbezogene Selbsstigmatisierung waren signifikant mit höherem Diabetes-Disstress assoziiert. Betroffene, die eine diabetesbezogene Selbststigmatisierung zum Ausdruck brachten, zeigten Einschränkungen bezüglich Diabetesselbstmanagement und Selbstwirksamkeit. Personen mit diabetesbezogener Selbststigmatisierung und jene, die gewichtsbezogene Stigmatisierung von ärztlicher Seite erlebt hatten, zeigten zudem eine geringere Qualität der Interaktion mit Gesundheitsberufen.16 Personen mit insulinbehandeltem Typ-2-Diabetes mit Diabetesstigma hatten in der australischen MILES-2-Studie auch eine negativere Haltung gegenüber einer Insulinbehandlung (psychologische Insulinresistenz).17 In einer vom Steno Diabetes Center in Dänemark unter Personen mit Typ-1-Diabetes durchgeführten Befragung hatten jene, die über ein höheres Ausmaß an wahrgenommenem Stigma berichteten, einen höheren Diabetes-Disstress und eine schlechtere glykämische Einstellung im Sinne höherer HbA1c-Werte.18
Persönlicher Umgang mit Stigma
Menschen mit Diabetes empfinden häufig, als weniger leistungsfähig, willensschwach oder als eine Belastung für die Gesellschaft angesehen zu werden und noch dazu selbst schuld an ihrer Erkrankung zu sein.9, 10, 19 Solche Zuschreibungen werden als ungerecht empfunden und verkennen die Betroffenen in ihrem Personsein. Häufige Coping-Reaktionen, mit welchen Menschen auf als ungerecht empfundene Behandlung reagieren, sind das Auf-Distanz-Gehen, Aktivismus (Funktionieren, Überspielen), Aggression (Ärger, Trotz, Rachegefühle) oder das Leugnen als Totstellreflex.20 Raemy und Gredig19 konnten aus den Resultaten der oben angeführten Schweizer Untersuchung mehrere Umgangsformen der Betroffenen mit dem Stigma rekonstruieren: Vermeidung negativer Reaktionen, Übernahme des Stigmas (Internalisierung), Widerstand oder Nutzbarmachung des Stigmas für eigene Ziele (Tab. 1).19
Tab. 1: Umgangsformen mit Stigma19
Strategien gegen Stigma
Systematisch erforschte Strategien zur Vermeidung des diabetesbezogenen Stigmas fehlen. Nach den Komponenten der Stigmaentstehung – Labeling, Verknüpfung mit Stereotypen, Abgrenzung, Statusverlust/Diskriminierung und Macht – liegen folgende Bereiche als Interventionsziele nahe: die Erkrankung selbst, Quellen des Stigmas, die stigmatisierte Person oder Gruppe, der sozialpolitische Bereich sowie die Wahl der Sprache (Tab. 2).2, 21 Gerade im medizinischen Bereich kommt der Sprachwahl eine wichtige Bedeutung zu, da sie das Krankheitsverständnis und -erleben der Patienten formt.21 Fachgesellschaften und Patientenvereinigungen haben Empfehlungen für die Sprachwahl im Rahmen der Patienteninteraktion veröffentlicht (Tab 2).21–23 Zentrales Element ist, die Person in ihrer Gesamtheit in den Vordergrund zu stellen („person-first language“, „Menschen mit Diabetes“ statt „Diabetiker“). Eine respektvolle, Stärken-fokussierte und die Selbstermächtigung fördernde Sprache kann die Kommunikation mit den Betroffenen verbessern und deren Motivation, Gesundheit und Wohlbefinden fördern (Tab. 2).
Tab. 2: Strategien gegen die Entstehung von Stigmatisierung2, 21
Fazit
Aktuelle Ergebnisse quantitativer und qualitativer Forschung zum Thema Stigma bei Diabetes mellitus machen deutlich, dass sich Menschen mit Diabetes in einem Umfeld bewegen, in dem ein negatives Klima gegenüber den Betroffenen zu herrschen scheint.9 Menschen mit Diabetes können in einer Vielzahl von Lebensbereichen Stigmatisierung und Ungleichbehandlung erfahren. Zuschreibungen und Unterstellungen (mangelnde Leistungsfähigkeit, Belastung für die Gesellschaft, Simulant, Charakterschwäche) können ihnen dabei quasi jederzeit und überall begegnen.10, 19 Dabei erleben gerade jene Personen, die am meisten Unterstützung benötigen würden (unzureichende glykämische Einstellung oder komplexe Therapieregime), Stigmatisierung besonders ausgeprägt.10 Es besteht daher ein großer Bedarf an sachgerechter Information der Öffentlichkeit über die Ursachen von Diabetes sowie darüber, was das Leben mit Diabetes für die Betroffenen tatsächlich im Alltag bedeutet.10 Systematische Forschung, wie diabetesbezogenem Stigma zu begegnen ist, steht weitgehend aus. Eine wesentliche Aufgabe kommt dabei aber sicherlich den Angehörigen der Gesundheitsberufe zu, da diese aufgrund ihrer Position und des Fachwissens einen starken Einfluss auf die Entwicklung des Narrativs haben. Daher ist gerade von diesen zu fordern, in entsprechend respektvoller Weise, faktenbasiert mit und über Menschen mit Diabetes zu kommunizieren.21–24 Möglicherweise wäre auch ein verstärkter offener Kontakt zwischen jenen, die mit einer stigmatisiertenErkrankung leben, und Nicht-Betroffenen hilfreich, um eine Entmystifizierung der Erkrankung, erhöhte Empathie und eine Reduktion von Vorurteilen und negativen Stereotypen zu erreichen.25
Kommentar: Die Sprachwahl ist ein wichtiger Faktor
Stigmatisierung, Benachteiligung, Herabwürdigung sind ein großes Thema im Rahmen chronischer Erkrankungen geworden. Anders als der heroische Herzinfarkt oder aber die Krebserkrankung, die jeder fürchtet, sind gerade Adipositas und Diabetes mellitus Erkrankungen, die in modernen Industriegesellschaften, in denen ein hohes Maß an „Funktionalität“ durch und von den Gesellschaftsmitgliedern geradezu gefordert wird, in hohem Ausmaß negativ besetzt werden. Dabei spielt auch – wie von Dr. Tatschl in seiner umfassenden Darstellung ausgeführt – Sprache eine wichtige Rolle. Auch die Sprache, derer wir uns als Angehörige von Gesundheitsberufen und in Fachgesellschaften bedienen. Wir haben begonnen, Menschen vor die Diagnose zu stellen. Nicht mehr „Diabetiker“, sondern „Menschen mit Diabetes“. Ein wichtiger nächster Schritt wäre sicherlich, den Begriff „Lebensstilerkrankung“ ein für alle Mal zu verlassen. Er präjudiziert nichts anderes, als dass einzig und alleine der Lebensstil verantwortlich für die Erkrankung wäre. Und damit der Betroffene zentral verantwortlich. Es wäre an der Zeit, diesen Begriff in die Geschichte der sprachlichen Entwicklung der Medizin zu verbannen. Vielleicht kann der Artikel, den Sie gerade gelesen haben, einen Beitrag dazu leisten.
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Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher
Fachbereich Diabetes
1. Medizinische Abteilung
Hanusch-Krankenhaus, Wien
Literatur:
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