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Somatische Komorbiditäten

Besonderheiten der Kopfschmerztherapie

Primäre Kopfschmerzsyndrome sind in der Bevölkerung weit verbreitet und nicht selten führen sie zu einer drastischen Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. Weniger Beachtung fanden bisher die migränespezifischen Begleiterkrankungen bzw. Komorbiditäten, die künftig in Therapiekonzepte für Kopfschmerzpatienten immer miteinfließen sollten.

Verhältnismäßig wenig Beachtung in der Forschung und im klinischen Alltag fand bisher die Bedeutung von Komorbiditäten bei Migräne und anderen primären Kopfschmerzerkrankungen. Allerdings mehren sich seit einigen Jahren Studienergebnisse, die einerseits auf die Relevanz von Begleiterkrankungen für die Entwicklung und Progression einer Migräne und andererseits auf die höhere Auftretenswahrscheinlichkeit von bestimmten somatischen und psychiatrischen Erkrankungen bei einer vorliegenden Kopfschmerzerkrankung hinweisen.

Eine groß angelegte amerikanische Studie mit über 15000 Migränepatienten, deren Teilergebnisse 2020 im Journal of Headache and Pain veröffentlicht wurden, konnte zeigen, dass bei Betroffenen ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Reihe an weiteren Erkrankungen besteht. Am häufigsten wurden Depressionen, Angststörungen und Schlafstörungen beobachtet, gefolgt von Magenulzera, gastrointestinalen Blutungen, Epilepsie und Angina pectoris.1 Dabei war ein ansteigendes Risiko für das Auftreten von komorbiden Störungen eindeutig mit der Zunahme der Kopfschmerzfrequenz (Kopfschmerztage pro Monat) zu beobachten. Die aktuelle S1-Leitlinie zu Migräne, die 2019 von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) herausgegeben wurde, beschäftigt sich überwiegend mit psychiatrischen Komorbiditäten (Depression, generalisierte Angststörung, bipolare Störung, posttraumatische Belastungsstörung) sowie mit Epilepsie und vaskulären Begleiterkrankungen.2

Welche Mechanismen diesen migräneassoziierten Komorbiditäten zugrunde liegen, ist aktuell noch offen. Die Theorien dazu umfassen unter anderem die Annahmen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Migräne und den angeführten Erkrankungen gibt, dass ähnliche (Umwelt-)Einflussfaktoren zu den verschiedenen Erkrankungen führten oder dass die unterschiedlichen Erkrankungen den gleichen genetischen Ursachen entspringen.3 Den unterschiedlichen Konzepten gemein ist jedoch die Schlussfolgerung, dass ein besseres Verständnis von migränespezifischen Begleiterkrankungen und anderen primären Kopfschmerzerkrankungen essenziell für verbesserte Behandlungsstrategien und das Krankheitsmanagement ist. Im Folgenden sollen die bisherigen Erkenntnisse mit Fokus auf klinisch-praktische Handlungsanweisungen bei somatischen Komorbiditäten beleuchtet werden.

Besonderheiten der Therapie und Prophylaxe bei gestörter Nierenfunktion

Praxistipp
Unter https://dosing.de findet sich eine vom Universitätsklinikum Heidelberg bereitgestellte solide Übersicht über die Dosisreduktion von Medikamenten bei Niereninsuffizienz inklusive pharmakokinetischer Hintergrundinformationen.

In einer populationsbezogenen Kohortenstudie in Taiwan (Migränegruppe n=7156, Kontrollgruppe n=7156) erhoben Weng SC et al. bei Migränepatienten eine erhöhte Inzidenz für chronische Nierenerkrankungen.4 Das Risiko für eine chronische Nierenfunktionsstörung war bei einem Alter unter 40 Jahren sowie beim Vorliegen von weiteren Begleiterkrankungen, wie zum Beispiel einer arteriellen Hypertonie, eines Diabetes mellitus oder eines vorangegangenen Hirninfarkts, und bei fehlender antimigränöser Therapie höher.4

Zu den Ursachen einer möglichen akuten oder chronischen Nierenzellschädigung im Rahmen einer Kopfschmerzerkrankung wird vorrangig die längerfristige Anwendung von hohen Dosen nichtsteroidaler Entzündungshemmer (NSAR) gezählt.5 Die wichtigste Maßnahme in der Akuttherapie von Kopfschmerzpatienten mit eingeschränkter Nierenfunktion stellt daher die Vermeidung von NSAR dar (Abb. 1).

Abb. 1: Besonderheiten der Migräneakuttherapie bei gestörter Nierenfunktion5–7

Zur Migräneprophylaxe steht mittlerweile ein großes Spektrum an effizienten und meist gut verträglichen Medikamenten zur Auswahl. Bei gestörter Nierenfunktion gibt es allerdings auch hier einige Besonderheiten. Das seit Langem bewährte Antidepressivum Amitriptylin sollte auf die Hälfte der üblichen Tagesdosis reduziert werden, da es insbesondere bei stark eingeschränkter Nierenfunktion verstärkt zu anticholinergen Nebenwirkungen wie Harnverhalt, Hypotonie oder Somnolenz kommen kann. Auch bei Bisoprolol und Topiramat ist eine Dosisreduktion in Erwägung zu ziehen.

Ohne Dosisreduktion können bei leicht- bis mittelgradiger Niereninsuffizienz zur Migräneprophylaxe die Betablocker Metoprolol und Propanolol sowie der Kalziumkanalblocker Flunarizin eingesetzt werden. Auch bei den neuartigen Antikörpern, die sich spezifisch gegen das migräneauslösende Neuropeptid CGRP („calcitonine gene-related peptide“) (Galcanezumab, Fremanezumab) und den CGRP-Rezeptor (Erenumab) richten, muss keine Dosisanpassung erfolgen. Eine weitere Option zur Prophylaxe stellt die Injektion von Onabotulinumtoxin A bei chronischer Migräne mit begleitender Nierenfunktionsstörung dar.

Besonderheiten der Therapie und Prophylaxe bei gestörter Leberfunktion

Vor allem bei älteren Patienten mit primären Kopfschmerzerkrankungen liegen gehäuft Komorbiditäten mit gestörter Leberfunktion vor. In der akuten Schmerzattacke können NSAR und Triptane sicher eingesetzt werden, Paracetamol hingegen muss aufgrund des Potenzials einer akuten Hepatotoxizität vermieden werden.

Für die neueren Substanzen Rimegepant und Ubrogepant wurde bisher kein erhöhtes Risiko nachgewiesen, allerdings sollten mögliche Arzneimittelwechselwirkungen wegen der starken CYP3A4-Induktion der Gepante bedacht werden. Andere Medikamente, die über Cytochrom P450 verstoffwechselt werden und CYP3A4 induzieren, wie Barbiturate, Phenytoin oder Rifampicin, sollten dementsprechend nicht zusammen mit Rimegepant oder Ubrogepant zum Einsatz kommen.8

Mittel der Wahl zur Migräneprophylaxe bei Leberfunktionsstörung sind Topiramat, Onabotulinumtoxin A (bei chronischer Migräne) sowie die CGRP(-R)-Antikörper Erenumab, Galcanezumab und Fremanezumab. Kontraindiziert ist Valproat, da es über verschiedene Pathomechanismen zu einer akuten oder chronischen hepatozellulären Schädigung mit gravierenden Folgen (bis hin zum Tod) führen kann.

Besonderheiten der Therapie bei gastrointestinalen Erkrankungen

Autonome Beschwerden, wie Nausea, Erbrechen und verzögerte Magenentleerung, zählen zu den Kernsymptomen der akuten Migräneattacke (inklusive prä- und postdromaler Phasen). Die Erkenntnis, dass gastrointestinale Störungen jedoch auch im Intervall und unabhängig von Kopfschmerzen bei betroffenen Personen überproportional häufig auftreten, fand erst im Laufe der letzten Jahre Eingang in wissenschaftliche Arbeiten.9 Höhere Inzidenzen von Komorbiditäten bei Migräne und anderen primären Kopfschmerzerkrankungen ließen sich für nahezu alle Abschnitte des Verdauungstraktes zeigen. Kopfschmerzpatienten weisen ein erhöhtes Risiko für Parodontitis, gastroösophageale Refluxerkrankung, Dyspepsie, Ulzera im oberen Gastrointestinaltrakt inklusive Infektion mit Helicobacter pylori (HP), chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, wie Morbus Crohn, nicht alkoholische Steatohepatitis, Reizdarmsyndrom und Zöliakie, auf.3

Obwohl die exakten pathophysiologischen Mechanismen noch nicht abschließend geklärt sind, scheint es zahlreiche Überschneidungen und Gemeinsamkeiten in der Entstehung von migränösen und gastrointestinalen Erkrankungen zu geben. Hierzu zählen vor allem eine Dysbalance des Mikrobioms, ein Überwiegen von proinflammatorischen Zytokinen und die Beteiligung des enterischen sowie autonomen Nervensystems. Aus diesem Wissen über die sog. Darm-Hirn-Achse („gut-brain axis“) lassen sich bereits jetzt erste Konsequenzen für die medikamentöse Therapie ableiten.3,10

Einerseits sollte bei fehlendem Ansprechen auf orale Medikamente früh über alternative Applikationswege (nasal, subkutan) nachgedacht werden. Andererseits können diätetische Ansätze womöglich die Schwere und Häufigkeit von Kopfschmerzattacken positiv beeinflussen (siehe auch: nicht therapeutische Maßnahmen).

Praxistipp
Die US-amerikanische Internetseite https://livertox.nih.gov liefert evidenzbasierte Informationen zu nahezu allen gängigen Arzneimitteln hinsichtlich ihres Risikos für eine Leberzellschädigung.

Bei diagnostizierten gastrointestinalen Komorbiditäten mit erhöhtem Risiko für Ulzera und Blutungen im Magen-Darm-Trakt werden NSAR und Metamizol als akute Analgetika nicht empfohlen. Besser geeignet sind dagegen Paracetamol und Triptane.11

Hinsichtlich der Migräneprophylaxe kann auch bei gastrointestinalen Vorerkrankungen aus einem großen Spektrum gewählt werden: Metoprolol, Propranolol, Flunarizin, Valproat und Topiramat gelten als sicher. Auch Amitriptylin wird häufig verwendet, kann allerdings bei bestimmten Patienten aufgrund der unerwünschten Nebenwirkungen, wie Gewichtszunahme, Obstipation und Mundtrockenheit, zu Problemen führen.

Was können wir unseren Patienten als nichtmedikamentöse Maßnahmen empfehlen?

Ein nicht zu vernachlässigender Baustein in der Therapie und Prophylaxe von primären Kopfschmerzerkrankungen sollte, insbesondere im Falle von Komorbiditäten, in der Anwendung von nichtmedikamentösen Maßnahmen bestehen. In der akuten Attacke haben sich kühlende Anwendungen (beispielsweise das Auflegen von Eisbeuteln oder anderen Kühlelementen auf die Stirn), die Abschirmung von Lichtreizen durch Tragen einer Sonnenbrille oder auch die Massage von bestimmten Druckpunkten im Gesichts- und Halsbereich bewährt. Des Weiteren verschafft es einigen Patienten Linderung im akuten Schmerz, die Schläfen mit ätherischen Ölen (wie Pfefferminzöl) einzureiben. Für die Prophylaxe von Schmerzattacken bei Migräne gibt es evidenzbasierte Empfehlungen hinsichtlich nichtmedikamentöser Maßnahmen (Tab.1).2

Tab. 1: Nicht medikamentöse Empfehlungen für die Vorbeugung von Schmerzattacken und für die positiven Effekte auf Komorbiditäten im Rahmen einer Migräne

Zusammenfassung

Bei Patienten mit primären Kopfschmerzerkrankungen und insbesondere mit Migräne besteht ein erhöhtes Risiko für Komorbiditäten. Die Auswahl der Medikamente sollte sich an den jeweiligen Vor- und Begleiterkrankungen orientieren. Nieren- und Leberfunktionsstörungen sowie gastrointestinale Erkrankungen sollten bei Akuttherapie und medikamentöser Prophylaxe berücksichtigt werden. Nichtmedikamentöse Optionen für Therapie und Prophylaxe können eine hilfreiche Alternative darstellen und sollten vor allem bei vorliegenden Komorbiditäten berücksichtigt werden.

Die Behandlung von Migräne muss immer einen multidisziplinären Ansatz beinhalten, der sowohl die Identifikation von Risikofaktoren für andere Erkrankungen als auch die Mitbehandlung von Komorbiditäten in den Blick nimmt.

Weitere Informationen:
Migräne und ihre Varianten im Kindesalter

1 Buse DC et al.: Comorbid and co-occurring conditions in migraine and associated risk of increasing headache pain intensity and headache frequency: results of the migraine in America symptoms and treatment (MAST) study. J Headache Pain 2020; 21(1): 23 2 Diener HC et al.: Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie 2018. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. https://www.dmkg.de/files/dmkg.de/Empfehlungen/030057_LL_Migra%CC%88ne_2018.pdf , zuletzt aufgerufen am 10.11.2021 3 Altamura C et al.: Pathophysiological bases of comorbidity in migraine. Front Hum Neurosci 2021; 15: 640574 4 Weng SC et al.: Migraine and subsequent chronic kidney disease risk: a nationwide population-based cohort study. BMJ Open 2017; 7(12): e018483 5 Bindu S et al.: Non-steroidal anti-inflammatory drugs (NSAIDs) and organ damage: a current perspective. Biochem Pharmacol 2020; 180: 114147 6 Hassan K et al.: Acute kidney injury associated with metamizole sodium ingestion. Ren Fail 2011; 33(5): 544-7 7 Nelson DA et al.: Association of nonsteroidal anti-inflammatory drug prescriptions with kidney disease among active young and middle-aged adults. JAMA Netw Open 2019; 2(2): e187896 8 Soni PP et al.: Recent advances in the management of migraine in older patients. Drugs Aging 2020; 37(7): 463-8 9 Aurora SK et al.: A link between gastrointestinal disorders and migraine: insights into the gut-brain connection. Headache 2021; 61(4): 576-89 10 Arzani M et al.: Gut-brain axis and migraine headache: a comprehensive review. J Headache Pain 2020; 21(1): 15 11 Tajti J et al.: Drug safety in acute migraine treatment. Expert Opin Drug Saf 2015; 14(6): 891-909

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