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Gesprächsführung und Dokumentation

Ärztlicher Leitfaden für Gewaltopfer

Oft sind es niedergelassene Ärzt:innen, die Zeichen von Gewalt bei ihren Patient:innen erkennen – körperliche oder seelische Verletzungen bzw. auch Folgeerkrankungen. Ein neuer Leitfaden zum Thema häusliche Gewalt soll dabei unterstützen, Red Flags in der ärztlichen Praxis zu identifizieren, anzusprechen, zu dokumentieren und den Betroffenen Hilfe zu vermitteln.

Jede vierte Frau in Österreich ist von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt betroffen.1 „Die wenigsten Betroffenen von häuslicher Gewalt kontaktieren direkt die Polizei oder spezialisierte Hilfseinrichtungen. Viele wenden sich aber hilfesuchend an Einrichtungen des Gesundheitswesens, ohne von sich aus die Gewalterfahrungen anzusprechen“, betont Mag. Michaela Pichler, BA, Expertin für psychosoziale Gesundheit der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG).

Niedergelassene Ärzt:innen sind daher wichtige Gatekeeper für die Versorgung von gewaltbetroffenen Personen – zumeist Frauen. Durch die oft langjährige Beziehung zu ihren Patient:innen haben sie die Chance, diese Opfer durch ein einfühlsames Gespräch zu erreichen und ihnen zu helfen, die Gewaltspirale mithilfe professioneller Unterstützung zu durchbrechen. Gleichzeitig gibt es im niedergelassenen Bereich besondere Herausforderungen bei der Versorgung von gewaltbetroffenen Personen.

Anleitung als Entscheidungshilfe

Um Ärzt:innen bei der Versorgung von gewaltbetroffenen Personen zu unterstützen, wurde von der GÖG im Rahmen des vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz beauftragten Projekts „Gewaltschutz im Gesundheitswesen“ ein Leitfaden für den niedergelassenen Bereich entwickelt.Daran beteiligt waren auch Vertreter:innen der Ärztekammer, des Dachverbands der Opferschutzgruppen im Gesundheits- und Sozialbereich, der Österreichischen Gesellschaft für Kinderschutz-Medizin sowie der Österreichischen Gesundheitskasse.

Der zweiseitige Leitfaden „Häusliche Gewalt: Erkennen, ansprechen, dokumentieren und weitervermitteln“ führt durch die notwendigen Versorgungsschritte in der Praxis und zeigt auf, an welchen Punkten an ein Krankenhaus oder eine andere Institution weitervermittelt werden soll.

„Der Leitfaden kann keine Schulungen ersetzen, er kann aber als Gedächtnis- und Entscheidungshilfe dienen“, erklärt Pichler. Er liegt zum Download in neun Bundesländerversionen vor und enthält Kontaktinformationen zu regionalen Unterstützungsangeboten (https://toolbox-opferschutz.at/ngb). Um Sicherheit im Umgang mit dem Thema zu gewinnen, werden zusätzlich spezifische Schulungen, z.B. zu Gesprächsführung oder einer gerichtsverwertbaren Dokumentation, empfohlen.

Gewalteinwirkung erkennen

Für Gesundheitsfachkräfte ist es gleich zu Beginn der Behandlung wichtig, Hinweise auf Gewalteinwirkung zu erkennen und Wege zu finden, diesen Verdacht zu überprüfen. Hilfreich ist es, sich an Symptomen zu orientieren, die der einfachen Beobachtung zugänglich sind.

<< Alle Verletzungen und Beschwerden sind detailliert und für außenstehende Dritte nachvollziehbar zu dokumentieren.>>

Aus Angst, Scham oder Schuldgefühl sprechen betroffene Patient:innen nur selten das Erlittene als Ursache ihrer Verletzungen und Beschwerden an, so Pichler. Vielmehr werden fadenscheinige Erklärungen vorgebracht wie:

  • „Ich bin beim Fensterputzen von der Leiter gefallen.“

  • „Ich bin die Stiege hinuntergefallen.“

  • „Ich bin gestürzt.“

Red Flags liefern erste Hinweise, ob jemand Opfer häuslicher Gewalt geworden ist (Tab.1). Das Erkennen möglicherAnzeichen für erlittene Gewalt ist der erste Schritt zu einer erfolgreichen Diagnose. Die aufgelisteten Verletzungen und Beschwerden sind keine eindeutigen Hinweise auf das Vorliegen einer Misshandlung. Sie sind jedoch als Warnsignale zu deuten, die es zu überprüfen gilt, so Pichler. Liegen mehrere Verletzungen, verschiedene alte Verletzungen sowie eine wiederholte Konsultation des Krankenhauses vor, dann ist dies als Alarmzeichen einzustufen. Treten mehrere Warnsignale gleichzeitig auf, ist erhöhte Aufmerksamkeit gefordert bzw. besteht Handlungsbedarf.

Gezieltes Ansprechen

Über Gewalt zu sprechen ist für Patient:innen nicht leicht und für das medizinische Personal durchaus eine herausfordernde und anspruchsvolle Aufgabe. Gewaltbetroffene schweigen oft auch aus Angst, Scham, Schuldgefühl und Furcht vor Stigmatisierung. Pichler: „Erschwerend kommt hinzu, dass Gewalt noch immer ein gesellschaftliches Tabuthema ist.“ Durch Isolation werden die Abhängigkeit vom Täter/von der Täterin und schließlich die Dynamik der Gewaltspirale noch weiter verstärkt.

Rat der Expertin: Führen Sie ein Gespräch, wenn möglich, in einer geschützten Umgebung unter vier Augen (z. B. im Röntgenraum) – insbesondere ohne Angehörige – und sichern Sie dem Patienten/der Patientin Vertraulichkeit zu.

Entscheidend ist die Gesprächsführung, bei der mit konkreten und einfachen Worten gefragt werden sollte, ob der Patient/die Patientin Gewalt erfahren hat. Dabei ist eine respektvolle und einfühlsame Haltung ohne Vorurteile und Schuldzuweisung entscheidend (Tab. 2). Hilfreiche Beispielsätze zur Unterstützung der Gesprächsführung werden in Tabelle 3 genannt.

Wird die Gewalterfahrung vom Patienten/von der Patientin bejaht, ist es wichtig, dass Gesundheitskräfte diesen Aussagen glauben und dazu ermuntern, weiter darüber zu sprechen. „Für das Gegenüber ist es hilfreich zu hören, dass Gewalt immer ein Unrecht ist“, betont Pichler. Allerdings ist hier jegliche abfällige Bemerkung über den/die Gewalttäter:in ebenfalls zu vermeiden, da die Gefahr besteht, dass die Opfer blockieren, die Tat verharmlosen oder sogar rechtfertigen.

Wenn ein Patient/eine Patientin trotz begründeten Verdachts die Gewalterfahrung negiert, ist es dennoch hilfreich, zu hören, dass eine begründete Sorge vorliegt und dass auch zu einem späteren Zeitpunkt Gesprächsbereitschaft besteht. Diese Signale sind nicht zu unterschätzen, ebenso wie weitere Informationen über spezielle Unterstützungsangebote. Im Rahmen der Gewaltanamnese sind die Patient:innen auch über die berufliche Schweigepflicht, ggf. die Anzeigepflicht und das damit verbundene Prozedere (Dokumentation, Spurensicherung, Anzeige) sowie über Möglichkeiten und Patient:innenrechte aufzuklären.

Pichler: „Wenn sichergestellt wird, dass die richtigen Fragen gestellt und Betroffene an die richtigen Stellen weitervermittelt werden, kann dies dazu beitragen, sie aus ihrer Isolation zu befreien und die Gewaltspirale zu durchbrechen.“

Untersuchen und dokumentieren

Für eine fachgerechte klinische Untersuchung und gezielte Spurensicherung sollte – in Ergänzung zur klinischen Anamnese – eine für das Gewaltereignis spezifische Anamnese erhoben werden. Neben der Befragung zur Vorgeschichte bedarf es einer genauen Beschreibung des Tathergangs. Der gegenständliche Vorfall sollte mit den eigenen Worten des Patienten/der Patientin festgehalten werden, damit die Angaben Authentizität haben.

Hervorzuheben ist, dass nicht nur die medizinisch zu versorgenden Verletzungen, sondern auch die aus therapeutischer Sicht nicht relevanten Traumen (z.B. Kratzer am Hals, kleine Hämatome an der Innenseite der Oberarme und Oberschenkel, Auflagespuren, Verbrennungen durch Zigaretten, Bissverletzungen) wichtige Beweise für erlittene Gewalt sind. Deshalb sind alle Verletzungen und Beschwerden detailliert und für außenstehende Dritte nachvollziehbar zu dokumentieren und durch die Fotodokumentation zu bekräftigen. „Damit die Dokumentation in einem Gerichtsverfahren verwertbar ist, ist es wichtig, auf eine objektive Beschreibung der Verletzungen zu achten. Eine Interpretation bezüglich dermöglichen Entstehung der Befunde darf nicht erfolgen. Ebenso darf in die Dokumentation keine Beurteilung darüber einfließen, ob das Verletzungsbild mit dem geschilderten Vorfall übereinstimmt oder nicht“, ergänzt Pichler.

Fotografische Dokumentation

Neben der Verwendung des standardisierten MEDPOL-Dokumentationsbogens2 erweist sich eine zusätzliche fotografische Dokumentation als besonders hilfreich. Dabei sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden:

  • Maßstab verwenden! Maßstab immer in Ebene der Verletzung stellen, ohne dabei den Befund zu überdecken

  • Aufnahmen senkrecht zur Hautoberfläche machen

  • Immer Übersichts-, Näherungs- und Detailaufnahmen (=„Dreier-Regel“) machen

  • Bei Aufnahmen der Körperrückseite Kopf zur Seite drehen lassen, um Identität zu dokumentieren

  • Aufnahmen wenn möglich vor neutralem Hintergrund machen

  • Auch Negativbefunde fotografisch festhalten

  • Beschädigung/Verunreinigung der Kleidung fotografieren

  • Möglichst mit Digitalkamera mit einblendbarem Datum arbeiten

  • Fotoqualität kontrollieren

  • Fotos datenschutzkonform sichern

Bei sexueller Gewalt sind die DNA-Spuren nur dann verwertbar, wenn die Untersuchung und die Sicherung der Spuren in relativ engem zeitlichem Kontext zum Delikt stattgefunden haben, z. B. sind Spermien in der Vagina ca. 72 Stunden nachweisbar, bei Oral-/Analverkehr bis zu 24 Stunden.

Ein besonderes Augenmerk ist auf sexuell übertragbare Krankheiten (HIV, Hepatitis B und C, Syphilis, Gonorrhö etc.) und das mögliche Vorliegen einer Schwangerschaft zu legen. Wenn gewünscht, kann die „Pille danach“ verschrieben werden. Folgeuntersuchungen sind nach zwei Wochen sowie nach einem, drei und sechs Monaten empfehlenswert.

Vermitteln von Hilfsangeboten

Im persönlichen Gespräch sollte unbedingt auf die verschiedenen Angebote der Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen einschließlich psychotherapeutischer Versorgung hingewiesen werden. Die Kontaktdaten spezieller Unterstützungseinrichtungen wie z.B. von Gewaltschutzzentren, Frauenhäusern und Frauennotruf sind im Gesprächsleitfaden angeführt. Das Aushändigen geeigneter Informationsmaterialien mit den wichtigen Rufnummern kommunaler Beratungseinrichtungen ist ein erster Schritt. Hierbei sind kleinere Formate wie Faltblättchen etc. zu bevorzugen, damit Patient:innen diese unauffällig in die Geldbörse oder Hosentasche stecken können, um sie vor dem/der Gewalttäter:in zu verbergen. Unterstützend kann auch das Angebot sein, einen telefonischen Erstkontakt herzustellen. Dadurch werden die Betroffenen entlastet und die Hemmschwelle der Kontaktaufnahme wird gesenkt bzw. überwunden.

Gesundheit Österreich GmbH (GÖG):
https://toolbox-opferschutz.at t

1 Statistik Austria: Gewalt gegen Fauen. Stand 2021. https://www.statistik.at/statistiken/bevoelkerung-und-soziales/kriminalitaet-und-sicherheit/gewalt-gegen-frauen; zuletzt aufgerufen am 12. 1. 2024 2 MEDPOL-Dokumentationsbogen: https://toolbox-opferschutz.at/MEDPOL; zuletzt aufgerufen am 12. 1. 2024

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