
Quo vadis – ist die akademische Urologie in der Krise?
Bericht:
Reno Barth
Prof. Dr. Bertrand Tombal von der Université Catholique de Louvain (UCL) in Belgien ortet als praktizierender Urologe eine Orientierungslosigkeit, was den Stellenwert der Urologie im Rahmen multidisziplinärer Patientenversorgung angeht und sieht Defizite in der wissenschaftlichen Absicherung der angewandten Methoden. Letztlich müssten Urologen selbst entscheiden, ob sie die Koordinatoren der urologischen Versorgung übernehmen oder spezialisierte Techniker sein wollen.
Keypoints
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Die Rollenfindung der Urologen als Versorgungskoordinatoren oder spezialisierte Techniker beeinflusst auch die Patientenversorgung.
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Die „Active Surveillance“ sollte in der Patientenversorgung im Hinblick auf Lebensqualitätssteigerung einen höheren Stellenwert bekommen.
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Es sollte wieder verstärkt auf evidenzbasierte Behandlungen in der Urologie geachtet werden.
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Personalmangel zeigt sich zunehmend nicht nur in der Patientenversorgung, sondern auch in der Forschung.
Die akademische Medizin muss die Balance zwischen Forschung und Ausbildung finden“, so Tombal. Er hält fest, dass gute Forschung an einer Institution noch lange nicht bedeutet, dass an derselben Institution auch gute Ausbildung betrieben wird. Nicht zuletzt müsse jedoch an akademischen Zentren auch qualitativ hochwertige klinische Medizin praktiziert werden. Dabei ist die Bandbreite des Fachs Urologie weit. Sie reicht von der Behandlung urologischer Onkologie über Andrologie, funktionelle Urologie und pädiatrische Urologie bis hin zum Management von Steinerkrankungen. Damit ergeben sich Überlappungen bzw. Berührungspunkte mit anderen Disziplinen. Tombal nennt in diesem Zusammenhang Onkologie, Radiologie, Strahlentherapie und allgemeine Chirurgie. Hinzu kommen nichtärztliche Berufsgruppen wie Pflegepersonal, Psychologen und Physiotherapeuten.
Rollenfindung innerhalb der urologischen Versorgung
Für die Zukunft stellt sich die Frage, welche Rolle der Urologe im Zusammenspiel der Fachrichtungen und Spezialisierungen spielen soll. „Was wollen wir Urologen sein? Wollen wir festlegen, was im Management unserer Patienten wann gemacht werden soll? Oder wollen wir Techniker in einem multiprofessionellen Team sein? Eine Option ist dabei nicht besser als die andere, aber es muss eine Entscheidung getroffen werden.“, verdeutlicht Tombal. Bislang sei dies nicht geschehen.
Im Zuge dieses Prozesses stellen sich eine Reihe neuer Herausforderungen. Dies beginnt mit der veränderten Rolle des Patienten, der zunehmend als gleichwertiger Partner gesehen und in Therapieentscheidungen einbezogen werden will. Was dies konkret bedeuten kann, zeigen unter anderem die Ergebnisse der europaweiten Patientenbefragung EUROPOMS 2.0. Sie legt nahe, dass „Active Surveillance“ (AS) betrieben werden soll, wann immer dies möglich und sicher ist, da alle anderen Behandlungsoptionen die Lebensqualität stärker reduzieren. Wenn tatsächlich eine aktive Therapie erforderlich wird, sollen deren Auswirkungen auf die Lebensqualität sowie ein mögliches Management dieser Nebenwirkungen mit den Patienten besprochen werden.1 Hinzu kommt das ökonomische Spannungsfeld, das Tombal als „Urology Inc.“ bezeichnet. Krankenhäuser werden zunehmend nach kurzfristigen kommerziellen Zielen geführt und bewertet. Zusätzlich sind sie von allgemeinen sozioökonomischen Trends, wie zum Beispiel dem aktuellen Mangel an Arbeitskräften, betroffen. Damit ergibt sich für eine akademische Urologie eine besondere Problemstellung. Werden urologische Abteilungen vornehmlich als Quelle von Einnahmen betrachtet, so steigt der Produktivitätsdruck auf das dort arbeitende Personal. Dies geht im akademischen Bereich auf Kosten der Zeit und der Ressourcen, die für Forschung und Ausbildung benötigt werden. „Es geht nicht immer darum, gut zu sein, sondern vor allem effizient“, fasste Tombal zusammen.
Keine Rede von optimaler Patientenversorgung
Gleichzeitig bestehen in den Industriestaaten erhebliche Versorgungslücken. „Studien aus den USA und den Niederlanden zeigen, dass 30 bis 40% der Patienten keine evidenzbasierte Therapie erhalten und dass bis zu 25% der gesetzten Maßnahmen verzichtbar oder sogar schädlich sind. Diese Differenz zwischen dem, was wir über Krankheiten und ihre Behandlung wissen, und dem, was wir in der Praxis tun, könnte sich in Zukunft vergrößern“, prognostiziert Tombal. Eine oft evidenzfreie Verliebtheit in den modernen chirurgischen Maschinenpark sowie zunehmende Industrieabhängigkeit tragen zu diesem Missstand bei.
„Dies zeigt sich nicht zuletzt in der Behandlung des Prostatakarzinoms, wo nach wie vor die radikale Prostatektomie den Therapiestandard darstellt“, so Tombal, obwohl bei vielen Patienten AS machbar ist und auch dem Wunsch der Betroffenen entspricht. Das Grundproblem ist, dass man eine bestimmte Vorgehensweise gewohnt ist und wenig Bereitschaft zeigt, davon abzuweichen. Eine belgische Studie führt unter den Faktoren, die im Alltag den Ausschlag gegen die AS geben, neben Sorgen des Patienten auch eine Hyperspezialisierung der Behandler sowie die Kostenstrukturen der Krankenhäuser an.2 „Zumindest in Belgien gibt es eine negative Korrelation zwischen den Investitionen in ein Krankenhaus und den Chancen auf Active Surveillance“, so Tombal. In diesem Zusammenhang sei auch die Anschaffung moderner OP-Technologie (Roboter) zu nennen.
Mangel an Evidenz zu relevanten klinischen Fragen
Zusätzlich stellt sich das Problem, dass zahlreiche in der Klinik auftretende Fragen gar nicht evidenzbasiert beantwortet werden können. Weniger als 4% der Artikel in chirurgischen Journalen beziehen sich auf randomisierte, kontrollierte Studien (RCT). „Wenn es sich um RCTs handelt, dann geht es meist um den Einsatz medizinischer Therapien für chirurgische Patienten, nicht jedoch um den chirurgischen Eingriff an sich“, so Tombal. Der Experte weist auf eine Befragung von Operateuren hin, die zeigt, dass in diesem Fach Praktiken eher nach der Meinung anerkannter Autoritäten verändert werden als anhand evidenzbasierter Leitlinien.3 Insofern entwickelt sich die Urologie zu einer evidenzfreien Welt, in der mehr auf Technologietransfer als auf disruptive Innovation gesetzt werde. So werden Prostatektomie und Androgendeprivation (ADT) seit vielen Jahrzehnten praktiziert und lediglich verbessert. „Wir verfeinern die Prozeduren, aber wir stellen sie nicht infrage“, kritisiert Tombal. Noch schwerer wiegt die Tendenz, sich auf den „gesunden Menschenverstand“ statt auf klinische Studien zu verlassen.
Tombal weist auf eine Umfrage beim Treffen der Advanced Prostate Cancer Society im Jahr 2022 hin, die ergab, dass eine große Mehrheit der Befragten beim metastasierten, hormonsensitiven Prostatakarzinom zumindest bei hohem Tumorvolumen eine Chemotherapie mit Docetaxel sowohl mit ADT als auch mit einem Androgenrezeptor-Blocker kombinieren würden. Tombal unterstreicht, dass diese Dreifachkombination bislang in keiner einzigen randomisierten, kontrollierten Studie untersucht wurde. Ebenso gibt es zum Vergleich zwischen offener und robotergestützter Prostatektomie zwar eine Metaanalyse von 61 Studien, darunter befindet sich allerdings kein RCT.4 Im Gegensatz dazu sind in der Strahlentherapie große randomisierte Studien mittlerweile Standard. Weiters macht sich ein „Translationsblock“ bemerkbar, der verhindert, dass Innovationen aus der Grundlagenforschung, wie z.B. neue Biomarker, den Weg in den klinischen Alltag finden. Dies scheitert u.a. an langen Entwicklungszeiten, hohen Kosten, regulatorischen Hürden, mangelnder Finanzierung, aber auch am Fehlen entsprechend qualifizierter und interessierter Forscher und am mangelnden Interesse potenzieller Probanden. Ein weiteres Problem stellt die Verzerrung der publizierten Evidenz durch kommerzielle Interessen und eine nicht unabhängige Interpretation der Studienergebnisse dar. Als Beispiel führt Tombal die Studienlage zum Vergleich maximaler Androgenblockade und intermittierender ADT an. Während die maximale Androgenblockade durch 22 industriefinanzierte Studien gestützt werde, seien zur intermittierenden ADT lediglich 6 Studien durchgeführt worden, von denen nur 2 von der Industrie bezahlt wurden. Tombal fordert die Optimierung der eingesetzten Therapien mittels multidisziplinärer klinischer Forschung.
Personalmangel auch in der Forschung
Ein Problem liegt darin, dass der Forschung die Forscher auszugehen drohen. Ungeachtet der hohen Studentenzahlen an den medizinischen Universitäten nimmt das Interesse an Forschung ab, was neben der hohen Arbeitsbelastung nicht zuletzt an den geringen finanziellen Anreizen liegt, die eine wissenschaftliche Karriere bietet. In diesem Sinne weist Tombal auf eine in den USA durchgeführte Befragung hin, die ergab, dass ein Mangel an individueller Förderung (Mentorship) sowie mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie wesentliche Hindernisse wissenschaftlicher Karrieren sind.5 Um das weitere Vorgehen in der aktuellen Situation zu definieren, muss die Urologie mit Patienten, professionellen Vereinigungen und Kostenträgern die eingangs erwähnte Frage klären: „Wollen Sie geschulte und sichere Techniker oder Koordinatoren einer multiprofessionellen urologischen Versorgung?“ Entscheidet man sich für die zweite Option, wird eine gute chirurgische Ausbildung in Zukunft zu wenig sein, fasste Tombal zusammen. Vielmehr muss ein vertieftes Verständnis urologischer Erkrankungen ebenso erworben werden wie die Fähigkeit, dieses Wissen sowohl den Patienten als auch anderen Fachrichtungen und Berufsgruppen zu kommunizieren.
Quelle:
„What is the future of Academic Urology?“, Vortrag von Prof. Dr. Bertrand Tombal im Rahmen des 8. Michael J. Marberger Annual Meeting „Frontiers in Urology“ am 16.Dezember in Wien
Literatur:
1 Europe Uomo: EUPROMS 2.0: new evidence of effects of treatment on patients’ lives. https://www.europa-uomo.org/news/euproms-2-0-new-evidence-of-effects-of-treatment-on-patients-lives ; zuletzt aufgerufen am 23.01.2023 2 Jonckheer P et al.: Good clinical practice (GCP). Brussels: Belgian Health Care Knowledge Centre (KCE). 2013 3 Young JM et al.: Role of opinion leaders in promotin evidence-based surgery. Arch Surg 2003; 138(7): 785-91 4 Seo HJ et al.: Comparison of robot-assisted radical prostatectomy and open radical prostatectomy outcomes: A systematic review and meta-analysis. Yonsei Med J 2016; 57(5): 1165-77 5 Cochran A et al.: Barriers to advancement in academic surgery: views of senior residents and early career faculty. Am J Surg 2013; 206(5): 661-6
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