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Strukturierungsvorschlag zur Stufendiagnostik und -therapie des chronischen Beckenschmerzsyndroms
Urologik
Autor:
Dr. Sandra Mühlstädt, FEBU
Universitätsklinik für Urologie und Nierentransplantation<br> Martin-Luther-Universität, Halle/Saale<br> Ernst-Grube-Straße 40, 06120 Halle/Saale<br> E-Mail: sandra.muehlstaedt@uk-halle.de
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Das chronische Beckenschmerzsyndrom ist eine äußerst komplexe Erkrankung, die mit einem großen Spektrum an therapeutischen Möglichkeiten behandelbar ist. Hierbei muss der behandelnde Arzt versuchen, eine an das Beschwerdebild des Patienten optimal angepasste multimodale Therapie zu entwickeln. Die gute Nachricht dabei ist, dass wir durch ganz einfache Managementvorschläge einen bedeutenden Einfluss auf die Lebensqualität unserer Patienten haben können.</p>
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<p class="article-content"><h2>Definition</h2> <p>Das chronische Beckenschmerzsyndrom ist definiert als Schmerz in den Organen und Strukturen des kleinen Beckens über mindestens sechs Monate. Das Erkrankungsbild stellt dabei eine multifaktoriell bedingte und äußerst komplexe Entität mit ausgeprägter Neigung zur Chronifizierung dar. Voraussetzung für die Diagnose ist der Ausschluss offensichtlicher Pathologien im Bereich des kleinen Beckens, welche ebenso Ursache des chronischen Beckenschmerzes sein können, wie z.B. Entzündungen und Tumoren im Bereich des Harntrakts und Enddarms oder auch eine Endometriose. In Zeiten der Evidence-based Medicine ist die Evidenz des chronischen Beckenschmerzsyndroms leider noch sehr rar. So gibt es zum Beispiel zur Prävalenz der Erkrankung nur wenige bis keine Daten.<sup>1</sup> Erschwerend kommt in der Praxis hinzu, dass das Erkrankungsbild des chronischen Beckenschmerzsyndroms in den einzelnen Fachgebieten bis dato leider noch relativ unbekannt ist und die Patienten oft über Jahre hinweg zunächst eine „Drehtüren“-Medizin betreiben. Kurzum mangelt es an realen Prävalenzdaten.</p> <h2>Diagnostik</h2> <p>Wenn auch das Krankheitsbild als ganzheitlich betrachtet werden muss, hilft in der Diagnostik doch die Einteilung nach dem Phänotyp, wobei hier entsprechend den einzelnen Fachgebieten zunächst einmal zwischen urologischen, gynäkologischen, proktologischen, neurologischen und isoliert neuromuskulären Schmerzsyndromen<sup>2</sup> oder entsprechend der UPOINT-Klassifikation (Urology, Psychology, Organ specific, Infection, Neurological, Tender muscle, Sexological) unterschieden werden kann (Tab. 1). Die sexuellen Aspekte wurden der UPOINT-Klassifikation dabei nachträglich hinzugefügt.<sup>3</sup> Der Patient sollte jedoch frühzeitig darauf sensibilisiert werden, dass sehr oft keine Aussicht auf Heilung des chronischen Beckenschmerzes besteht, sondern nur ein Fortschreiten der Erkrankung verhindert bzw. eine Symptomlinderung bewirkt werden kann.<sup>1</sup> <br />Für die Diagnostik des Patienten ist dessen individueller Leidensweg von enormer Bedeutung. Gerade Patienten, die bereits mehrere Fachkollegen aufgesucht haben, sind zuweilen negativ vorbelastet und müssen zunächst in einem empathischen Gespräch ihre Allgemein- sowie Schmerzanamnese betreffend evaluiert werden. Nach Anamnese und Objektivierung der Beschwerden mittels Fragebogen (z.B. IPSS, IEEF-5, NIH-CPSI, FSFI), Schmerztagebuch und Miktionsprotokoll folgt eine Basisuntersuchung mit Palpation des Unterbauchs, Inspektion und Palpation des äußeren Genitals, einer digital rektalen Untersuchung inkl. Beurteilung des Analsphinktertonus, einer Urinanalytik mit Urinkultur und Urinzytologie, einer Sonografie des Harntrakts und des äußeren Genitals, einer Uroflowmetrie und Restharnbestimmung sowie für Männer ab dem 50. Lebensjahr auch mit einer Empfehlung der PSA-Bestimmung. Abgesehen von dieser spezifischen urologischen Untersuchung sollte übergeordnet auch eine grobe Beurteilung des muskuloskelettalen Apparats sowie der Neurologie Bestandteil der Basisdiagnostik sein. Sind die Beschwerden des Patienten mit den genannten Untersuchungen nicht hinreichend zu klären, sollte eine weiterführende, dann jedoch entsprechend den Beschwerden des Patienten zielgerichtete, invasivere Diagnostik erfolgen, wobei diese prinzipiell vom transrektalen Ultraschall bzw. von einer vaginalen Untersuchung über eine MRT, eine Zystoskopie und eine Urodynamik bis hin zur fachneurologischen und psychologischen Evaluierung reicht.<sup>1</sup> Wichtig dabei ist, dass die Diagnostik entsprechend den Beschwerden des Patienten zielgerichtet erfolgen sollte – also auch bewusst ein Zuviel an Diagnostik vermieden werden sollte.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Urologik_Uro_1804_Weblinks_s32_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="938" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Das Management des chronischen Beckenschmerzsyndroms richtet sich nach einem biopsychosozialen Modell. Empfohlen ist folglich eine multimodale Therapie. So fanden Nickel und Kollegen<sup>4</sup> für die Therapie der interstitiellen Zystitis und des chronischen Blasenschmerzsyndroms, dass sich die Beschwerden mithilfe eines multimodalen Therapieansatzes bei etwa der Hälfte der Patienten signifikant verbesserten. Einzelne, isolierte Interventionen sind wenig Erfolg versprechend. Wichtig dabei ist, dem Patienten eine realistische Erwartung an die Therapie zu vermitteln. So beinhaltet das therapeutische Spektrum unter anderem Physiotherapie, komplementärmedizinische Maßnahmen wie Akupunktur<sup>5</sup> und Osteopathie, unterschiedlichste Medikamente wie Analgetika, Antidepressiva, Antihistaminika, Antimuskarinika, Alphablocker etc. sowie prinzipiell auch medizinisches Marihuana (wobei dieses jedoch nicht für das chronische Beckenschmerzsyndrom zugelassen ist und bei Wunsch nach Anwendung im Individualfall bei der Krankenkasse beantragt werden muss) bis hin zu lokalen Infiltrationen, Harnblaseninstillationen, EMDA, Neuromodulation oder gar einer Blasenaugmentation oder Zystektomie und Harnableitung als operativer Ultima Ratio. Die nicht pharmakologischen Interventionen sollten dabei nicht unterschätzt, sondern – im Gegenteil – genutzt werden. Zwar konnten in einem entsprechenden Cochrane Review zur chronischen Prostatitis nur Studien von eher niedriger und moderater Qualität eingeschlossen werden, jedoch zeigte sich, dass nicht pharmakologische Interventionen wie Akupunktur und Lebensstiländerung sehr wohl zu einer signifikanten Verbesserung der Prostatitisbeschwerden führen können.<sup>6</sup> Diese Optionen sollten vor der Anwendung invasiverer Therapien unbedingt genutzt werden. <br />Nicht zuletzt ist auch eine psychologische oder psychosomatische Mitbetreuung des Patienten essenziell. Denn ungeachtet der berühmt-berüchtigten Frage, ob die Henne oder das Ei zuerst da war, berichten viele Patienten bereits bei der Erstkonsultation von psychischen Belastungen. Psychosoziale Risikofaktoren sind dabei Depressionen, ein mangelnder sozialer Support, ein mangelndes Coping des Schmerzes sowie ein sogenanntes „pain catastrophizing“, also den Schmerz als nicht enden wollende Katastrophe zu sehen und hierdurch wiederum zu steigern.<sup>7</sup> Indem wir diese Risikofaktoren erkennen, können wir die Dynamik der Reaktionen des Patienten klarer verstehen und in der Behandlung darauf eingehen. Durch eine empathische Kommunikation können wir die Therapie positiv beeinflussen und unsere Patienten damit zufriedener werden lassen. Letztlich sind es dabei fünf Faktoren, welche die Zufriedenheit unserer Patienten erhöhen: aktives Zuhören, eine klare Kommunikation, eine mitfühlende und fürsorgliche Einstellung sowie die Vermittlung des Gefühls, dass sich der Arzt Zeit nimmt, einen Therapieplan hat und Empfehlungen gibt. Der Schmerz ist also nicht unbedingt das Zentrum der Therapie.<sup>8</sup> Aber Vorsicht: Der chronische Beckenschmerz ist kein allein physisches Phänomen, sondern muss als komplexer organopsychischer, emotionaler sowie auch zwischenmenschlicher Krankheitszustand begriffen werden, der äußerst negative psychosoziale Folgen nach sich zieht.</p></p>
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<p><strong>1</strong> EAU-Guidelines on chronic pelvic pain 2018 <strong>2</strong> Petrovic Z et al.: Leitlinie Beckenschmerzsyndrom. J Urol Urogynäkol 2012; 19(4): 15-21 <strong>3</strong> Davis SNP et al.: Is a sexual dysfunction domain important for quality of life in men with urological chronic pelvic pain syndrome? Signs “UPOINT” to yes. J Urol 2013; 189: 146-51 <strong>4</strong> Nickel JC et al.: Phenotype- directed management of interstitial cystitis/bladder pain syndrome. Urology 2014; 84: 175-9 <strong>5</strong> Liang R et al.: Efficacy of acupuncture on pelvic pain in patients with endometriosis: study protocol for a randomized, singleblind, multi-center, placebo-controlled trial. Trials 2018; 19(1): 314-9 <strong>6</strong> Franco JVA et al.: Non-pharmacological interventions for treating chronic prostatitis/chronic pelvic pain syndrome: a Cochrane systematic review. BJU Int 2018. doi: 10.1111/bju.14492 <strong>7</strong> Tripp DA et al.: Managing psychosocial correlates of urologic chronic pelvic pain syndromes: advice from a urology pain psychologist. Can Urol Assoc J 2018; 12(6 Suppl 3): 175-7 <strong>8</strong> Wygant JN et al.: What makes a chronic pelvic pain patient satisfied? J Psychosom Obstet Gynaecol 2018; 31: 1-4</p>
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