Late-breaking News zur Multiplen Sklerose vom ECTRIMS-Kongress 2025
Unser Gesprächspartner:
Prim. Prof. Dr. Johann Sellner, MBA FAAN FEAN
Vorstand der Abteilung für Neurologie mit Multiple Sklerose Zentrum
Affiliierte Abteilung der Karl-Landsteiner-Universität für Gesundheitswissenschaften, Krems
Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf
Standort Mistelbach
E-Mail: johann.sellner@mistelbach.lknoe.at
Das Interview führte Dr. Nicole Leitner
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Der 41. ECTRIMS-Kongress fand dieses Jahr in Barcelona statt. Etwa 9600 Teilnehmer tauschten sich über die neuesten Studiendaten zu Multipler Sklerose und assoziierten Erkrankungen aus. Wir sprachen mit Prof. Johann Sellner, Vorstand der Abteilung für Neurologie Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf und affiliiert mit der Karl-Landsteiner-Universität für Gesundheitswissenschaften Krems, über seine Eindrücke und Highlights vom Kongress.
Herr Prof. Sellner, welche Daten, die am ECTRIMS-Kongress präsentiert wurden, waren für Sie am spannendsten?
J. Sellner: Ein besonderes Highlight der „Late-breaking News“-Session wurde von Nick G. Cunniffe von der Universität Cambridge, UK präsentiert.1 In der vorgestellten randomisierten, placebokontrollierten Phase-II-Studie wurden bei Multipler Sklerose (MS) zwei Medikamente gleichzeitig eingesetzt, nämlich Metformin, ein in der Diabetesbehandlung angewandtes Biguanid, und Clemastin, ein ZNS-gängiges Antihistaminikum der ersten Generation.
Die Myelinscheiden-bildenden Oligodendrozyten entstehen nach einer Reihe von Reifungsschritten aus Oligodendrozyten-Progenitor-Zellen (OPC). Die Fähigkeit zur Differenzierung von OPC ist allerdings im entzündeten ZNS-Milieu demyelinisierender Marklagerläsionen deutlich eingeschränkt. Präklinische Untersuchungen haben gezeigt, dass Metformin diese Differenzierung stimulieren und in weiterer Folge eine Remyelinisierung induzieren kann. Clemastin bindet an H1-Rezeptoren, die auch auf OPC exprimiert werden. Eine vorangehende Phase-II-Studie mit Clemastin bestätigte eine Verbesserung der Latenz der visuell evozierten Potenziale bei Personen mit MS im Sinne eines regenerativen Effekts. In weiteren Laboruntersuchungen konnte Clemastin auch den remyelinisierenden Effekt von Metformin verstärken, sodass in einer monozentrischen Kombinationsstudie Metformin 1g und Clemastin 5,36mg zweimal täglich über 6 Monate in einer 1:1-Randomisierung gegen Placebo getestet wurden. Es wurden 70 Personen mit schubförmiger MS und pathologischer VEP-Latenz randomisiert. Der primäre Studienendpunkt, eine signifikante Verkürzung der P100-Latenz suggestiv für einen remyelinisierenden Effekt, wurde mit der Kombinationstherapie erreicht. Zu beachten ist, dass ein klinischer Effekt in Bezug auf Sehstärke oder neurologische Beeinträchtigung nicht vorlag, wobei die Studienautoren hierfür den kurzen Beobachtungszeitraum verantwortlich machen. Tatsächlich stehen wir nun auf Basis dieser Ergebnisse vor der Schwelle zu einer neuen Therapieoption, nämlich einer regenerativen Therapie. Man wird diese spannenden Ergebnisse nun in einer größeren Phase-III-Studie weiterverfolgen, in der man diesen Effekt natürlich bestätigen, aber mit einer längeren Beobachtung oder längeren Therapiedauer vielleicht auch klinische Effekte erreichen möchte, so Dr. Cunniffe. Zum jetzigen Zeitpunkt muss vor einer nicht kontrollierten Einnahme von Metformin bzw. Clemastin abgeraten werden.
In der „Late-breaking News“-Session wurde auch eine Studie zu Rituximab präsentiert. Was wurde dazu berichtet?
J. Sellner: Ich fand die Ergebnisse der schwedischen RIDOSE-MS-Studie2 mit Untersuchung des optimalen Dosierungsintervalls von Rituximab von besonderem klinischem Interesse. Dieser monoklonale Anti-CD20-Antikörper wird schon seit vielen Jahren zur Behandlung von hämatologischen Neoplasien eingesetzt und findet auch bei einer Reihe von immun-mediierten Erkrankungen Anwendung. Bei der MS wird Rituximab 500mg alle 6 Monate intravenös verabreicht, zumeist in der späten MS, wenn keine Indikation mehr für zugelassene CD20-Antikörper wie Ocrelizumab, Ofatumumab oder Ublituximab ableitbar ist. Rituximab wird aber in einigen Ländern aufgrund einer vorteilhaften Kosten-Nutzen-Abwägung bereits im frühen Erkrankungsstadium der MS angewendet. Die Klärung des Dosierungsintervalls ist auch dahingehend von Interesse, als nach mehrjähriger Therapie mit CD20-Antikörpern eine Hypogammaglobulinämie auftreten kann und hiermit das Risiko für schwere Infektionen steigt.
In der multizentrischen, Prüfer-verblindeten, randomisierten Phase-III-Studie wurde der etablierte Verabreichungszeitraum alle 6 Monate mit einem erweiterten Intervall von 12 Monaten, jeweils mit intravenös verabreichtem Rituximab in der Dosierung von 500mg, verglichen. Bevor die 207 eingeschlossenen Patient:innen auf eine der beiden Intervalloptionen randomisiert werden konnten, erfolgte die Behandlung zunächst mit dem üblichen 6-Monats-Schema für 12 Monate. Der primäre Studienendpunkt der Nichtunterlegenheitsstudie berücksichtigte das NEDA-3-Kriterium (keine Schübe, keine neuen oder vergrößerten T2-Läsionen und keine Progression) über 3 Jahre. Der primäre Studienpunkt wurde erreicht, die Auswertung ergab keine Unterlegenheit des 12-monatigen Infusionsintervalls. In einem der sekundären Studienendpunkte wurde die Veränderung der Immunglobulinspiegel im Blut unter Rituximab untersucht. Hierbei war die Abnahme der IgG-Werte bei jenen, die mit 12-Monats-Intervallen behandelt wurden, um 25% geringer als bei jenen mit 6-monatlichen Infusionen. Der Erstautor Anders Svenningsson vom Karolinska Institutet Stockholm, Schweden, konkludierte, dass die entzündliche Krankheitsaktivität auch mit dem 12-Monats-Zeitraum ausreichend supprimiert werden kann. Für ein optimales Risiko-Nutzen-Verhältnis von Rituximab favorisiert er eine individualisierte Therapie, also nicht alle 6 oder 12 Monate, sondern auf Basis eines Biomarkers der entzündlichen Krankheitsaktivität, zum Beispiel Memory-B-Zellen im Blut, und unter regelmäßigem IgG-Monitoring.
In der „Late-breaking News“-Session wurden drei Abstracts zum CD20-Antikörper Ocrelizumab in unterschiedlichen Settings präsentiert. Was waren hier die Ergebnisse?
J. Sellner: Beginnen möchte ich mit der Phase-IIIb-Studie ORATORIO-HAND3: In dieser Studie wurde bei Patient:innen mit primär progredienter Multipler Sklerose (PPMS) untersucht, ob die Verschlechterung der Funktion der oberen Extremitäten durch Ocrelizumab aufzuhalten ist.
In der ursprünglichen Zulassungsstudie für die PPMS (ORATORIO) wurden für die Behandlung mit Ocrelizumab alle 6 Monate vs. Placebo eher leichter betroffene Patient:innen (EDSS 3–6,5) eingeschlossen, bei denen die Diagnose der Erkrankung kürzer zurücklag (Alter 18–55 Jahre, Krankheitsdauer <15 Jahre wenn EDSS >5 und <10 Jahren wenn EDSS <5). In der ORATORIO-HAND-Studie wurden schwerer betroffene (EDSS 3–8) und ältere Patient:innen (18–65 Jahre) inkludiert. Primärer Endpunkt der aktuellen placebokontrollierten, randomisierten, doppelblinden Phase-IIIb-Studie (ORATORIO-HAND) war die Rate der Patient:innen mit Einsetzen der Krankheitsprogression an der oberen Extremität. Hierfür wurde ein kombinierter Endpunkt aus der Handfunktion gemessen mit dem 9-Loch-Steckbrettest (9HPT) und der „Expanded Disability Status Scale“ (EDSS) etabliert. Das mediane Alter war bei Studieneinschluss 48 Jahre (Spanne 18–66), der mediane EDSS-Score in der mit Ocrelizumab behandelten Gruppe war 6,0 (3–8).
Der Erstautor Dr. Gavin Giovannoni von der Queen Mary University, London, UK, berichtete, dass eine Risikoreduktion von 30% unter Ocrelizumab im Vergleich zu Placebo für die Handfunktionsverschlechterung bestätigt wurde. Trennt man nach Handfunktion und EDSS auf, so betrug die Reduktion des Risikos für die Progression der Handfunktion sogar 41%. Darüber hinaus wurde unter Ocrelizumab eine nahezu vollständige Unterdrückung der akuten MRT-Aktivität (Gadolinium-aufnehmende T1-Läsionen und neue/sich vergrößernde T2-Läsionen) nachgewiesen. Das Sicherheitsprofil von Ocrelizumab ergab auch in dieser Patientengruppe keine neuen Signale. Diese Daten bestätigen, dass es auch bei Patient:innen im fortgeschritten Krankheitsverlauf, die z.B. im Rollstuhl sitzen, von Vorteil ist, Ocrelizumab einzusetzen.
Eine weitere Studie mit Ocrelizumab ist der GAVOTTE-Trial. Was haben Sie hierzu mitgenommen?
J. Sellner: Ocrelizumab ist weiterhin die einzige von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) zugelassene Therapieoption für die PPMS. In einer Subauswertung der damaligen Zulassungsstudie (ORATORIO) zeigte sich: Je höher die Exposition gegenüber dem Antikörper ist, also je höher der Antikörperspiegel im Blut ist, desto mehr profitieren die Patient:innen bzw. desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Progression aufgehalten wird. Daraufhin hat man die GAVOTTE-Studie4, eine multizentrische, randomisierte, doppelblinde Parallelgruppenstudie, initiiert und untersucht, ob gewichtsadaptierte höhere Dosen von Ocrelizumab eine bessere Effektivität auf die Krankheitsprogression haben. Es wurde 2:1 für eine gewichtsadaptierte Dosierung (1200mg bei Patient:innen unter 75kg und 1800mg bei Patient:innen über 75kg) vs. Standarddosierung von 600mg alle 6 Monate randomisiert. Die Ergebnisse der Studie waren negativ, so der Studienleiter Dr. Stephen Hauser von der University of California San Francisco, USA. Die höhere Exposition mit Ocrelizumab war nicht mit einer größeren Reduktion der Behinderungsprogression verbunden, obwohl die Depletion der zirkulierenden CD19+ B-Zellen (90,8% in der Hochdosis-Gruppe erreichten das Depletionskriterium von <5 Zellen/µl im Vergleich zu 82,8% in der 600mg-Gruppe) stärker war. Die Raten schwerwiegender unerwünschter Ereignisse, schwerwiegender Infektionen (einschließlich Covid-19) und die Raten der Malignität waren in beiden Armen vergleichbar. Die Rate der infusionsbedingten Reaktionen war ähnlich (24,0% bei Hochdosis vs. 23,2% bei 600mg).
Die dritte Studie mit Ocrelizumab war die OPERETTA-2-Studie. Was wurde dabei untersucht?
J. Sellner: Bei pädiatrischen MS-Patient:innen gibt es häufig hochaktive Verläufe und leider nur wenige zugelassene Optionen für die Intervalltherapie. Hochaktive entzündliche Verläufe bei pädiatrischer MS werden zumeist mit Substanzen aus den Wirksamkeitskategorien 2 (Fingolimod) oder 3 (Natalizumab, Rituximab) behandelt. Während der orale Spingosin-1-Rezeptor Modulator Fingolimod ab dem 10. Lebensjahr auf Basis einer Phase-III-Studie zugelassen wurde, liegen für die monoklonalen Antikörper Natalizumab und Rituximab nur Ergebnisse von kleineren Fallserien vor, sodass für letztere Therapieoptionen ein Off-label-Einsatz erfolgt.
Die multizentrische OPERETTA-2-Studie5 wurde in der pädiatrischen MS-Population mit schubförmiger MS (10–17 Jahre) durchgeführt. In dieser randomisierten, doppelblinden, Double-Dummy-Parallelgruppenstudie wurde die Nichtunterlegenheit von intravenösem Ocrelizumab in der 600-mg-Dosierung alle 6 Monate vs. orales Fingolimod in der 0,5-mg-Dosierung evaluiert. Es wurden insgesamt 187 Patient:innen randomisiert, das mediane Alter der Patient:innen betrug 15 Jahre (Spanne 11–17 Jahre). Die mediane Läsionslast bei Studieneinschluss war 43 (Spanne 2–237) für T2-Läsionen und 0,5 (0–28) für Gadolinium-aufnehmende Läsionen.
Die Studienleiterin Dr. Brenda Banwell von der Johns Hopkins University Baltimore, USA, berichtete, dass Ocrelizumab gegenüber Fingolimod im primären Endpunkt hinsichtlich der protokolldefinierten annualisierten Schubrate nicht unterlegen war. Man habe zwar auch nachgewiesen, dass die Schübe durch Ocrelizumab im Vergleich zu Fingolimod deutlich stärker reduziert waren, um etwa 50%, so Banwell. Aber die Studie war nicht dafür gepowert, um die Aussage zu treffen, ob es eine Überlegenheit von Ocrelizumab im Vergleich zu Fingolimod gibt. Weitere Endpunkte beinhalteten die MR-Endpunkte kontrastmittelaufnehmende Läsionen oder neue und sich vergrößernde T2-Läsionen. Auch diese waren signifikant stärker durch Ocrelizumab als durch Fingolimod beeinflusst. Die OPERETTA-2-Studie belegt somit die Wirksamkeit und Sicherheit von Ocrelizumab in der pädiatrischen Population.
Vielen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 Cunniffe NG: Evaluating the remyelinating efficacy and safety of the combination of metformin and clemastine in people with relapsing remitting multiple sclerosis (CCMR-Two): a randomised, placebo-controlled, double-blind, phase 2 clinical trial. ECTRIMS 2025, Abstract #O133 2 Svenningsson A: Rituximab long-term DOSE trial in Multiple Sclerosis – RIDOSE-MS. A phase 3 trial investigating extended dosing regimen of rituximab in relapsing-remitting MS. ECTRIMS 2025, Abstract # #O131 3 Giovannoni G: Ocrelizumab vs placebo in primary progressive MS: efficacy and safety results of the Phase IIIb ORATORIO-HAND study. ECTRIMS 2025, Abstract # O128 4 Hauser S: Efficacy and safety of a body-weight–adjusted high dose of ocrelizumab vs standard dose in PPMS: primary results of the Phase IIIb GAVOTTE study. ECTRIMS 2025, Abstract # O129 5 Banwell B: Efficacy and safety of ocrelizumab compared with fingolimod in paediatric relapsing-remitting MS: results of the Phase III OPERETTA 2 study. ECTRIMS 2025, Abstract # O130
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