
Wenn auch die Seele krank wird
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Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
31.08.2017
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<p class="article-intro">Psychoonkologie hilft Krebspatienten, die einschneidende Diagnose und die Therapiefolgen zu verarbeiten. </p>
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<p class="article-content"><p>Sein Leben ist nicht mehr da, von einer Sekunde auf die andere. «Warum ausgerechnet ich?», fragt sich Sergio, als ihm der Arzt erklärt, in seinen Knochen würden bösartige Blutzellen wachsen. «Ich war am Boden zerstört», erinnert sich der heute 57-Jährige. Seine Ehe lag damals in Trümmern, er musste sich um seine zwei kleinen Kinder kümmern – und dann auch noch Krebs. Er hatte das Gefühl, ihm entgleite die Kontrolle über sein Leben.<br /> Menschen wie Sergio kann Psychoonkologie helfen, eine Betreuung durch Psychiater oder Psychologen. «Wir können damit zwar nicht den Krebs aufhalten, aber die Lebensqualität erhöhen», sagt Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt an den Universitären Psychiatrischen Diensten der Universität Bern. Bis zu 4 von 10 Tumorpatienten entwickeln eine psychische Störung, die einer Behandlung bedarf.<sup>1–4</sup> «Eine Krebsdiagnose kommt unerwartet», sagt Prof. Dr. med. Josef Jenewein, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsspital Zürich. «Das wirft viele Betroffene in eine Krise, und es erfordert enorme psychische Fähigkeiten, um mit dieser Belastung klarzukommen.» Bei manchen Menschen führt das zu stärkeren Problemen oder einer ernsthaften psychischen Erkrankung.</p> <h2>Häufig Angststörungen und Depressionen</h2> <p>Dank enormen Fortschritten in der Onkologie durch verbesserte Früherkennung, Diagnostik und Therapie überleben heute mehr Patienten als früher nach einer Krebserkrankung. «Andererseits müssen sie oft kräftezehrende und belastende Therapien bewältigen, die zum Teil dauerhafte körperliche und psychische Folgen nach sich ziehen können», sagt Prof. Jenewein. Zu den häufigsten psychischen Belastungen nach einer Krebskrankheit gehören Anpassungsstörungen, Angststörungen, depressive Störungen, Schlafstörungen, Cancer-related Fatigue und das Delir.<br /> Manche Krebspatienten sind nicht nur vorübergehend depressiv, sondern entwickeln eine manifeste Depression – je nach Studie zwischen 4 und 16,5 % der Patienten.<sup>2–9</sup> Tumorpatienten mit Depressionen haben ein doppelt so hohes Risiko wie die Allgemeinbevölkerung für einen Suizid, wobei das Suizidrisiko in den ersten sechs Monaten nach Diagnosestellung und bei Patienten mit fortgeschrittener Tumorerkrankung und schlechter Prognose besonders hoch ist.<sup>10</sup> «Suizidgedanken oder -fantasien bei onkologischen Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung kann man zum einen als Möglichkeit verstehen, die Kontrolle zu behalten, also als eine Lösung zur Beendigung des Leidens, oder als Hilferuf ‹Ich bin der Realität nicht mehr gewachsen›», sagt Prof. Jenewein. Suizidalität sei eine ernst zu nehmende Komplikation und man solle sie schrittweise thematisieren: zunächst Suizidabsichten, -ideen, -gedanken und -pläne thematisieren, dann nach Risiko- und protektiven Faktoren suchen und sich mögliche Interventionen überlegen. «Der Sterbewunsch nimmt in den meisten Fällen ab, wenn die Patienten von ihrer Not erzählen können, man ihnen zuhört und Verständnis entgegenbringt», sagt Prof. Jenewein.</p> <h2>Multimodales Therapiekonzept</h2> <p>Bis zu neun von zehn Patienten leiden unter Krebsmüdigkeit. Sie fühlen sich dauernd erschöpft und antriebslos, haben Schmerzen und können sich nicht konzentrieren. «Es gibt kein Standard-Therapieprogramm, weil jeder psychisch anders reagiert», sagt Prof. Hasler.<br /> Zur Verfügung stehen zum einen Medikamente, etwa selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRIs), besonders Citalopram oder Sertralin, zur Antriebssteigerung und Stimmungsaufhellung bei Depressionen oder tetrazyklische Antidepressiva wie Mirtazapin zur Stimmungsstabilisierung, Schlafregulierung und/oder Optimierung des Appetits. Zur Anxiolyse oder Behandlung von Panikattacken in der Klinik kann eine Kurzzeitbehandlung mit Benzodiazepinen wie Lorazepam versucht werden. Beim Delir kommen typische oder atypische Neuroleptika zum Einsatz. «Man muss aber immer den individuellen Nutzen mit potenziellen Nebenwirkungen und Interaktionen mit der Tumortherapie abwägen», so Prof. Jenewein. Die kognitiv-behaviorale Therapie gilt als effektive Therapiemethode bei Ängsten oder Depressionen. Neue Behandlungen fokussieren darauf, wieder Sinn im Leben zu finden, die eigene Würde und Selbstbestimmung zu fördern. Einige Patienten profitieren von der Acceptance-and-Commitment-Therapie, von Mindfulness-Therapien, von Akupunktur, Atemtherapie, Shiatsu oder Qigong, Musik- oder Kunsttherapie.<sup>11–16</sup> Hypnose kann helfen, Übelkeit durch die Chemotherapie zu reduzieren.<sup>17</sup><br /> Als Psychoonkologe kann man dem Patienten zudem helfen, privat und beruflich wieder Fuss zu fassen. «Oft reichen schon wenige Sitzungen, damit es einem deutlich besser geht», sagt Prof. Dr. med. Peter Henningsen, Chef-Psychosomatiker an der Technischen Universität München. Seine 31-jährige Patientin mit Leukämie war ständig erschöpft und konnte weder arbeiten noch sich um den Haushalt kümmern – dabei war die Leukämie mit Chemotherapie erfolgreich zurückgedrängt worden. Die Müdigkeit war also durch die Chemo nicht erklärbar.<br /> Im Gespräch fand Henningsen heraus, dass die Frau enorme Angst vor der Zukunft hatte. «Das hat sie so gelähmt, dass sie den ganzen Tag zu Hause geblieben ist», erzählt Prof. Henningsen. In der Therapie lernte sie, mit ihren Ängsten umzugehen und sich täglich schrittweise mehr zu bewegen. «Krebspatienten haben oft das Gefühl, sie müssten sich schonen. Aber je mehr man sich schont, desto schlapper wird man.»<br /> In einem anderen Fall ging es um einen jungen Mann mit Hodentumor. Der 28-Jährige hatte im Spital gereizt und aggressiv reagiert und sich schliesslich geweigert, sich operieren zu lassen. Nach einem Gespräch erfuhr Peter Henningsen: «Er hatte schlichtweg Angst, er könnte impotent werden, und er schämte sich für seine Angst.» Der Urologe nahm sich ausführlicher Zeit für das Aufklärungsgespräch, und die Operation wurde verschoben. «Oft entstehen Ängste, weil die Patienten nicht genügend wissen», sagt Henningsen. «Als Ärzte müssen wir uns viel Zeit für Erklärungen nehmen – das geht nicht zwischen Tür und Angel.»</p> <h2>Soziales Netz hilft</h2> <p>Bei der 50-jährigen Patientin mit dem sehr bösartigen, aber erfolgreich operierten Hirntumor merkte Henningsen, dass da mehr war als die verständliche Niedergeschlagenheit. Die Frau redete kaum, wirkte wie gelähmt und in sich gekehrt und sah in jeder Aussage etwas Negatives. Die Diagnose: eine schwere Depression, zum einen verursacht durch die Operation, zum anderen auch durch die beginnenden Wechseljahre. Henningsen verschrieb Antidepressiva und erarbeitete mit der Frau Techniken, wie sie ihre eigenen Ressourcen besser nutzen konnte. «Ihr wurde bewusst, dass ihre Familie sie sehr unterstützte und sie zusammen noch viele schöne Dinge erleben konnten.» Eine Paartherapie und der Einbezug von Angehörigen kann die Lebensqualität von Patient und Partner verbessern, den Stress reduzieren und die Zufriedenheit erhöhen.<sup>18</sup><br /> Manche Menschen seien in Form von Familie oder Freunden von einer Art privaten Psychoonkologen umsorgt, sagt Prof. Hasler. Andere sind von Natur aus widerstandsfähiger und sozusagen ihr eigener Psychoonkologe. Wie man sich gegen psychische Krisen wappnet, hat er in seinem kürzlich veröffentlichten Buch «Resilienz: Der Wir-Faktor. Gemeinsam Stress und Ängste überwinden» beschrieben. «Man sollte sich bewusst werden, welche Dinge man in seinem Leben beeinflussen kann und welche nicht, und dann Kraft und Freude in den Dingen finden, auf die man Einfluss hat», lautet sein Tipp.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Singer S et al.: Ann Oncol 2010; 21: 925-30 <strong>2</strong> Mitchell A et al.: Lancet Oncol 2011; 12: 160-74 <strong>3</strong> Linden W et al.: J Affect Disord 2012; 141: 343-51 <strong>4</strong> Kuhnt S et al.: Psychother Psychosom 2016; 85: 289-96 <strong>5</strong> Mehnert A et al.: J Clin Oncol 2014; 32(31): 3540-6 <strong>6</strong> Walker J et al.: Lancet Psychiatry 2014; 1(5): 343-50 <strong>7</strong> Hernandez Blazquez M et al.: J Psychosom Res 2016; 87: 14 <strong>8</strong> Brintzenhofe-Szoc KM et al.: Psychosomatics 2009; 50(4): 383-91 <strong>9</strong> Rasic DT et al.: Psychooncology 2008; 17(7): 660-7 <strong>10</strong> Oberaigner W et al.: Gen Hosp Psychiatry 2014; 36(5): 483-7 <strong>11</strong> Hayes SC et al.: Behav Res Ther 2006; 44(1): 1-25 <strong>12</strong> Kangas M et al.: Support Care Cancer 2015; 23(10): 2855-9 <strong>13</strong> Feros DL et al.: Psychooncology 2013; 22(2): 459-64 <strong>14</strong> Zhang MF et al.: Medicine (Baltimore) 2015; 94(45): e0897-0 <strong>15</strong> Tao WW et al.: J Pain Symptom Manage 2016; 51(4): 728-47 <strong>16</strong> Arruda MA et al.: J Palliat Med 2016; 19(9): 943-8 <strong>17</strong> Jacknows DS et al.: J Dev Behav Pediatr 1994; 15(4): 258-64 <strong>18</strong> Li Q, Loke AY: Psychooncology 2014; 23: 731-9</p>
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