© YakobchukOlena iStockphoto

Eine Welt zum Üben

Virtual Reality in der Therapie psychischer Störungen

Virtuelle Realität schafft neue Behandlungstechniken und kann bestehende Methoden erweitern. Insbesondere Angsterkrankungen können mit virtueller Expositionstherapie äußerst erfolgreich behandelt werden, aber auch bei anderen Störungsbildern bestätigen Studien zunehmend die Effizienz dieser Technik. Innovative Lösungen zur Nutzung verschiedener technologiebasierter Ansätze könnten gerade die Kinder- und Jugendpsychiatrie bereichern − allerdings fehlen bislang die nötigen Studien.

Keypoints

  • Die Virtual-Reality-Expositionstherapie ist ein äußerst effizientes Behandlungstool für die Therapie psychischer Störungen. Insbesondere in der Behandlung von Angststörungen gibt es gute Belege zur Effektivität der Methode.

  • Durch virtuelle Realität gibt es neue Möglichkeiten zur Entwicklung und Augmentierung von Behandlungen für psychische Störungen, z.B. Virtual- Reality-Biofeedback, Avatar-Therapie bei psychotischen Störungen und maßgeschneiderte Behandlungsmethoden für Kinder und Jugendliche nach dem Gamification-Ansatz.

  • Virtual-Reality-Therapie hat auch Kontraindikationen und mögliche Nebenwirkungen: Es können kurzzeitiger Schwindel und Übelkeit (Cybersickness) sowie vorübergehend Kopfschmerzen auftreten. Bei Menschen mit Epilepsien und psychotischen Störungen ist eine gewisse Vorsicht und genaue Abklärung beim Einsatz geboten.

  • Bei Kindern und Jugendlichen gibt es bisher wenig Evidenz zur Verwendung von virtuellen Realitäten in der Therapie. Lediglich einzelne Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit sind publiziert, daher ist in diesem Altersbereich ein Einsatz in der Therapie derzeit nur bedingt zu empfehlen.

Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ermöglichte der rasante technologische Fortschritt die Realisierung leistungsfähiger virtueller Realitäts(VR)-Systeme für die klinische Praxis. VR-Anwendungen sind immersive, digitale 3D-Umgebungen, welche meist über eine spezielle Computerbrille, seltener über Bildschirmwände, vermittelt werden. Innerhalb dieser computergenerierten Welten sind die Möglichkeiten (beinahe) unbegrenzt, da digital eine Vielzahl an Situationen und Umgebungen repliziert werden kann und Personen sehr schnell eine virtuelle Umgebung als natürliche Umwelt annehmen können.

Präsenz als Schlüsselelement

Maßgebend dafür, dass virtuelle Welten als natürliche Umgebung wahrgenommen werden, ist die sogenannte Präsenz. Sie beschreibt den Eindruck, wirklich an einem anderen Ort zu sein, und wird dadurch vermittelt, dass die digitale Umgebung wichtige Sinneseindrücke stimuliert (z.B. visuell, auditiv). Individuen werden auf kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene durch die Wahrnehmung der virtuellen Inhalte bei der Interaktion in einer VR beeinflusst (Abb.1). Interaktive digitale Umwelten ermöglichen überdies auch, dass Personen mit anderen über diese Technologie miteinander in Verbindung treten können (z.B. als digitale Charaktere, genannt Avatare). Entscheidend hierbei ist, dass auch andere Personen als präsent wahrgenommen werden. Eine Reihe von Studien aus der Grundlagenforschung konnte zeigen, dass entscheidende Parameter der sozialen Interaktion in realen und virtuellen Situationen vergleichbar sind.1,2 Dies legt auch den Grundstein dafür, dass VR als therapeutische Tools wirksam einsetzbar werden. Abbildung 2 zeigt verschiedene VR-Szenarien und das Setting zur Durchführung.

Abb. 1: Einfluss von VR auf die menschliche Wahrnehmung

Abb. 2: Links: verschiedene VR-Szenarien für die Behandlung von spezifischen Phobien. Rechts: therapeutisches Setting einer VR-Exposition

Therapeutische Möglichkeiten

Virtual-Reality-Exposition

Eine starke Wirksamkeit hinsichtlich der therapeutischen Nutzung von VR konnte für erwachsene Patienten bislang bei Angststörungen nachgewiesen werden. Dabei handelt es sich vorwiegend um Studien zur VR-Expositionstherapie. Die klassische Expositionstherapie ist eine wirksame Behandlungsmethode zur Reduktion von Angst durch Konfrontation mit dem angstbesetzten Stimulus und der darauffolgenden Habituation der emotionalen Reaktion. Klassische Methoden verwenden oftmals Imaginationstechniken (in sensu) oder reale Stimuli (in vivo) für die Konfrontation. Jedoch haben viele Menschen Schwierigkeiten mit der Imagination, während die angstbesetzten Reize in vivo teilweise schwer herstellbar, wenig kontrollierbar und potenziell nur unökonomisch herstellbar sind (z.B. Flugphobie). Daher scheint die Konfrontation mit VR besonders erfolgversprechend bei spezifischen Phobien: Der angstbesetzte Stimulus wird in der VR-Exposition in digitaler Form dargeboten und interagiert auch mit den Patient*innen (z.B. eine Spinne, die über die eigene Hand krabbelt). Später ist es auch möglich, einzelne Einheiten in vivo anzubieten, um die Behandlung abzuschließen. Eine letzte Einheit wird dabei oft als Rückfallprophylaxe verwendet.

Eine aktuelle Metaanalyse zeigt bei über 12 randomisierten kontrollierten Studien, dass VR-Exposition und klassische Expositionen in vivo vergleichbare Wirksamkeit erzielen und auch über längere Beobachtungszeiträume nach der Behandlung weiter stabil waren.3 Einzelstudien konnten das auch bei der VR-Behandlung von Panikstörungen zeigen (z.B. Meyerbroeker et al.4). Eine weitere Metaanalyse über 9 Studien zeigte zudem, dass VR-Expositionen auch bei posttraumatischer Belastungsstörung wirksam sind und einen vergleichbaren Effekt wie in-sensu Expositionen aufweisen.5

Virtual-Reality-Biofeedback

Ein neuerer Ansatz zur Behandlung von Angststörungen mit VR ist die Integration von Biofeedback und VR. Eine erste Metaanalyse über wenige randomisierte kontrollierte Studien zeigt vorsichtig optimistische Ergebnisse, dennoch zeigt sich kein superiorer Effekt von VR-Biofeedback gegenüber klassischen Biofeedback-Methoden.6 Die neue Technik scheint jedoch besonderes Potenzial in Verbindung mit einem Gamification-Ansatz zu besitzen. Diese Herangehensweise wäre eine Erweiterung der therapeutischen Tools mit motivationsfördernden Elementen aus Computerspielen und wäre somit besonders für Kinder und Jugendliche interessant. Eine aktuelle Studie verfolgt eine auf dieser Idee aufbauende Behandlungskonzeption bei Jugendlichen mit Angsterkrankungen, erste Ergebnisse zur Wirksamkeit sind in naher Zukunft zu erwarten.7

Virtuelles Essen und Bewegung

VR bietet auch eine Vielzahl an Möglichkeiten bei der Behandlung von Essstörungen. Dabei gehen die Behandlungskonzepte durchwegs über die Exposition mit Essen hinaus. So verwendeten Paslakis et al. eine neuartige VR-Exposition, um den Bewegungsdrang bei Anorexia nervosa zu adressieren (z.B. durch virtuelles Joggen).8 Die Studie zeigt, dass der Drang nach körperlicher Aktivierung nach dem Ende einer Trainingseinheit abnimmt, was genutzt werden kann, um die körperliche Aktivität bei Anorexia nervosa zu reduzieren und so ein sonst schwer zu adressierendes Symptom bei dieser Störung zu behandeln.

Avatar-Therapie

Einen anderen Ansatz zur Nutzung virtueller Welten stellt die Avatar-Therapie bei akustischen Halluzinationen dar.9 Hierbei soll Betroffenen mittels Konfrontation geholfen werden, sich gegen die hallizunierte Stimme zur Wehr zu setzen. Gemeinsam mit den Therapeut*innen können Patient*innen die Stimme einer virtuellen Figur am Bildschirm in Klang und Tonhöhe der halluzinierten Stimme anpassen. Die Patient*innen wechseln zwischen ihrer eigenen Stimme und der Stimme des virtuellen Charakters, um eine kontrollierte Exposition in einer sicheren therapeutischen Umgebung zu ermöglichen. Die Studie ergab eine Verbesserung hinsichtlich wahnhafter Gedanken und akustischer Halluzinationen nach dem Training.

Des Weiteren wurde an anderer Stelle gezeigt, dass mit einem 10 Einheiten umfassenden virtuellen sozialen Kompetenztraining grundlegende soziale Fähigkeiten von Patient*innen mit Schizophrenie verbessert werden können.10 Dabei wurden einfache Aufgaben (z.B. Kontaktaufnahme mit einem virtuellen Avatar) und komplexere Aufgaben (z.B. Konversation aufrechterhalten, Interpretation von Mimik/Emotion des Avatars) trainiert. Das VR-Training zeigte eine signifikante Steigerung von sozialen Kompetenzen wie der Konversationsfähigkeit und eine Besserung im Durchsetzungsvermögen. Außerdem wurde bei dieser Intervention von einem guten Transfer in den Alltag berichtet.

Speziell für Kinder und Jugendliche

Trotz der erfreulichen Möglichkeiten und der Vielzahl an randomisierten kontrollierten Studien konzentrieren sich etwa bei Angststörungen die Ergebnisse vorwiegend auf erwachsene Patient*innen. Für eine Beurteilung der Wirksamkeit von VR-Exposition zur Behandlung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen fehlen bislang die Studien. Obwohl zufriedenstellende Effekte berichtet wurden, gibt es lediglich zwei dokumentierte randomisierte kontrollierte Studien bei VR-Exposition mit Kindern und Jugendlichen, welche an Angststörungen leiden.11

Mehr Ergebnisse liegen indes für die Wirksamkeit von VR bei der Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) vor. Dabei handelt es sich vorwiegend um Trainings, bei denen mittels VR die soziale Kognition verbessert werden soll. Sie führen bei Kindern mit ASS zu Besserungen in der Emotionserkennung und sozialen Attribution sowie der Theory of Mind.12,13

Darüber hinaus gibt es auch verschiedene Ansätze, VR-Technologie für die Behandlung bei Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) einzusetzen. Hierbei wird häufig auf ein virtuelles Klassenzimmer oder Pausenhöfe zurückgegriffen. In beiden Settings sollen verschiedene Aufgaben stattfinden und Aufmerksamkeitsfunktionen (v.a. selektive Aufmerksamkeit) und Impulskontrolle trainiert werden. Ein Behandlungskonzept, das sich aktuell in Entwicklung befindet, zielt auf die Kernsymptome der ADHS ab und soll Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, in einem virtuellen Schulhof spielerisch zu trainieren.14 Zwei Elemente des Trainings sind in Abbildung 3 zu sehen. Sie zeigen eine spezielle Adaptation des Spiels „Hau den Lukas“, bei dem die Impulskontrolle eingeübt werden kann, sowie ein Spiel zum Training der selektiven Aufmerksamkeit/Ablenkbarkeit, bei dem unter Zeitdruck Karten sortiert werden müssen.

Abb. 3: Training für Kinder mit ADHS. Oben: „Hau den Lukas“-Spiel zum Training der Impulskontrolle. Unten: Kartensortieren unter Zeitdruck zum Training der selektiven Aufmerksamkeit/Ablenkbarkeit (Krösl K et al., 2018)14

Hürden und Kontraindikation

Diese – aus Platzgründen unvollständige – bisherige Übersicht zeigt exemplarisch, welche verschiedenen Ansätze von VR für die Behandlung psychischer Störungen möglich sind. Jedoch sind viele dieser Systeme nicht am Markt verfügbar bzw. vielfach nur Forschungsstudien vorbehalten oder vergleichsweise teuer zu erstehen. Darüber hinaus müssen für diese Anwendungen auch Kontraindikationen diskutiert werden. Dabei können kurzzeitiger Schwindel und Übelkeit (Cybersickness) sowie vorübergehend Kopfschmerzen auftreten. Bei Menschen mit Epilepsien und psychotischen Störungen ist gewisse Vorsicht und genaue Abklärung beim Einsatz geboten.

Ausblick

Die weiteren Entwicklungen auf dem Gebiet der VR zeigen das große Potenzial für die klinische Behandlung. Hierbei sind vor allem Automatisierungsprozesse der VR-Systeme von besonderer Bedeutung, da diese effizientere und passgenauere Therapien ermöglichen.

Ein zusätzliches Feld neuer Gestaltungsmöglichkeiten für Therapiewerkzeuge bietet außerdem die Augmented Reality („erweiterte Realität“). Während die reale Welt bei VR-Anwendungen vollständig ausgeblendet wird, können darin virtuelle Elemente in die Wirklichkeit über eine spezielle Brille oder auch das eigene Smartphone eingebunden werden.

Darüber hinaus treiben Machine Learning und die Integration unterschiedlicher Parameter in Echtzeit (Verhalten, Erleben, Physiologie) die Realisierung personalisierter Therapieansätze im Bereich der psychischen Gesundheit konsequent voran.15 Dennoch: Die Software-Entwicklung bleibt eine der größten Herausforderungen für die klinisch anwendbare VR. Die Entwicklung effizienter interaktiver und automatisierter Therapietools, welche über die bisherige VR-Exposition hinausgehen und einen Gamification-Ansatz verfolgen, scheint für die Zukunft allerdings besonders vielversprechend.

1 Kothgassner OD et al.: Comput Hum Behav 2016; 62: 124-35 2 Kothgassner OD et al.: J Behav Ther Exp Psychiatry 2019; 63: 57-65 3 Carl E et al.: J Anxiety Disord 2019; 61: 27-36 4 Meyerbroeker K et al.: Psychother Psychosom 2013; 82(3): 170-6 5 Kothgassner OD et al.: Eur J Psychotraumatol 2019; 10(1): 1654782 6 Kothgassner OD et al.: Wien Klin Wochenschr 2022; 134: 49-59 7 Lenz A et al.: International Conference on Entertainment Computing, Springer 2020: 151-62 8 Paslakis G et al.: J Eat Disord 2017; 50(11): 1243-6 9 Craig TK et al.: Lancet Psychiatry 2018; 5(1): 31-40 10 Park KM et al.: Psychiatry Res 2011; 189(2): 166-72 11 Kothgassner OD, Felnhofer A: Neuropsychiatrie 2021; 35(2): 68-75 12 Didehbani N et al.: Comput Hum Behav 2016; 62: 703-11 13 Kandalaft MR et al.: J Autism Dev Disord 2013; 43(1): 34-44 14 Krösl K et al.: ACM SIGGRAPH 2018, Posters 1-2 15 Perna G et al.: Psychol Med 2018; 48(5): 705-13

Back to top