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Vergleich von Diagnosen affektiver Störungen im kurativen und gutachterlichen Bereich

<p class="article-intro">Psychische Störungen und hier vor allem affektive Störungen zählen zu den häufigsten Ursachen für den Versicherungsfall „Invalidität“. Psychische Störungen führen zu 39,7 % der bestehenden Pensionen und zu 49 % Neuzugängen der Leistungen aus dem Versicherungsfall der Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspension bzw. 61 % der Neuzugänge bei den Beziehern von Rehabilitationsgeld. Wie eine Untersuchung nun zeigt, besteht eine teilweise erhebliche Diskrepanz zwischen den Diagnosen von behandelnden Ärzten und den diagnostischen Zuordnungen von Gutachtern.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>Epidemiologie</h2> <p>Insgesamt sind in einem Jahr durchschnittlich 8,3 % der Bev&ouml;lkerung depressiv krank. Hinzu kommen noch Dysthymien (chronische Form der Depression, die mindestens zwei Jahre dauert, depressive Daseinsform) und depressive St&ouml;rungen im Rahmen von belastungsabh&auml;ngigen (neurotischen) St&ouml;rungen, insbesondere Angstst&ouml;rungen. Die Lebenszeitpr&auml;valenz von affektiven St&ouml;rungen betr&auml;gt 12,3 % (Tab. 1). Es zeigt sich ein Trend zu geringerer psychiatrischer Morbidit&auml;t bei Personen mit h&ouml;herer Schulbildung, h&ouml;herem Einkommen, bei verheirateten Personen und Personen mit Wohnsitz auf dem Land.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab1.jpg" alt="" width="300" height="420" /></p> <h2>Diskrepanz zwischen gutachterlichem und kurativem Bereich</h2> <p>Fach&auml;rztliche Befunde und die darin gestellten psychiatrischen Diagnosen sind Teil des Parteienvorbringens vor Gericht oder werden im Rahmen der Begutachtung durch eine Pensionsversicherungsanstalt vorgelegt. Sie stellen andererseits aber auch eine wichtige Ankn&uuml;pfungstatsache f&uuml;r den im Gerichtsauftrag t&auml;tigen psychiatrischen Sachverst&auml;ndigen dar. Dabei zeigen sich jedoch nicht selten Diskrepanzen hinsichtlich der diagnostischen Zuordnung von affektiven St&ouml;rungen, sowohl was den Schweregrad betrifft als auch den Verlauf. Solche Diskrepanzen k&ouml;nnen zur Verunsicherung der Betroffenen sowohl auf Seite der Antragsteller als auch bei den Rechtsanwendern f&uuml;hren.</p> <h2>Analyse von Sozialgerichtsgutachten</h2> <p>Eine gegenst&auml;ndliche Untersuchung setzte sich mit der &Uuml;bereinstimmung von Diagnosen affektiver St&ouml;rungen im gutachterlichen und kurativen Bereich auseinander. Dazu wurden 170 Stichproben aus Sozialgerichtsgutachten mit der Hauptdiagnose einer affektiven St&ouml;rung mit den Diagnosen nach ICD 10 oder DSM-5 in zeitnahen Befunden niedergelassener Fach&auml;rzte, Ambulanzen und psychiatrischer Abteilungen verglichen. Grundlage f&uuml;r die Diagnose nach den Kriterien des ICD 10 im gutachterlichen Bereich waren strukturierte klinische Interviews und klinisch-psychologische Untersuchungen inklusive Pers&ouml;nlichkeits- und Leistungsdiagnostik. Das Durchschnittsalter der Kl&auml;gerInnen betrug 52,4 Jahre, 60 % waren weiblich und 40 % m&auml;nnlich. Dies korreliert gut mit der altersbezogenen H&auml;ufigkeit des Auftretens affektiver St&ouml;rungen. Hinterfragt wurden die &Uuml;bereinstimmung hinsichtlich der Hauptdiagnose in der Gruppe F30 sowie die H&auml;ufigkeit von Komorbidit&auml;ten, insbesondere aus der Gruppe der Angstst&ouml;rungen F40 und Pers&ouml;nlichkeitsst&ouml;rungen F60 (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_abb1.jpg" alt="" width="600" height="354" /></p> <h2>Geringe &Uuml;bereinstimmung von Diagnosen</h2> <p>&Uuml;bereinstimmung &uuml;ber das Vorliegen einer affektiven St&ouml;rung zwischen kurativem und gutachterlichem Bereich fand sich mehrheitlich. Insgesamt wurden gutachterlich mehr F3-Diagnosen gestellt. In beiden Gruppen wurde jeweils eine psychiatrische Komorbidit&auml;t erfasst. Die gr&ouml;&szlig;te &Uuml;bereinstimmung bestand bei der Diagnose der bipolaren St&ouml;rungen F31 und bei Angstst&ouml;rungen F41, sowohl als Hauptdiagnose wie auch als komorbide St&ouml;rung.<br /> Im gutachterlichen Bereich wurden die Diagnosen &bdquo;Angst und depressive St&ouml;rung gemischt F41.2&ldquo; und &bdquo;gemischte Angstst&ouml;rung F41.3&ldquo; deutlich h&auml;ufiger erfasst als im kurativen Bereich. Diskrepanzen zeigten sich insbesondere auch bei der Diagnose einer mittelgradigen und schweren depressiven Episode, einer chronischen depressiven St&ouml;rung und bei belastungsabh&auml;ngigen St&ouml;rungen, insbesondere bei posttraumatischer Belastungsst&ouml;rung. Bedeutsame St&ouml;rungen wie &bdquo;Dysthymie F34.1&ldquo;, &bdquo;kurze rezidivierende depressive St&ouml;rung F38&ldquo;, &bdquo;sonstige anhaltende affektive St&ouml;rung F34.8&ldquo; waren im kurativen Bereich deutlich unterrepr&auml;sentiert (Abb. 2 und Tab. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_abb2.jpg" alt="" width="600" height="404" /></p> <p>&nbsp;<img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab2.jpg" alt="" width="300" height="416" /></p> <p>&nbsp;</p> <h2>Kritik an den Befunden</h2> <p>Generell zeigte sich, dass psychopathologische Befunde sowohl von Ambulanzen als auch Fach&auml;rzten im niedergelassenen Bereich in vielen F&auml;llen mit den gestellten Diagnosen einer mittelgradigen oder schweren depressiven Episode nicht vereinbar waren. Dies zeigte unter anderem die nicht so selten verwendete Formulierung &bdquo;Stimmungslage leicht negativ get&ouml;nt&ldquo;.<br /> Es zeigte sich in Verbindung mit einer &Uuml;berrepr&auml;sentation der Diagnose von mittelgradigen, rezidivierenden depressiven St&ouml;rungen, dass damit weder eine St&ouml;rungshypothese noch eine Bewertung der Pers&ouml;nlichkeit (Akzentuierung, St&ouml;rung) und sozialen Situation verbunden waren. Bei den Diagnosen handelte es sich fast ausschlie&szlig;lich um Aufnahmediagnosen, insbesondere bei station&auml;ren Patienten. Ein therapeutisches Reagieren, wie z. B. Dosissteigerung, Wechsel des Antidepressivums, Kombination, Lithiumaugmentation, station&auml;re Behandlung, war aus den Befunden ebensowenig ersichtlich wie der Vermerk &bdquo;gebessert entlassen&ldquo;.<br /> Auffallend waren zudem nahezu oder vollkommen idente Befunde zu unterschiedlichen Ausstellungszeitpunkten.<br /><br /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab3.jpg" alt="" width="300" height="477" /></p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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