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Vergleich von Diagnosen affektiver Störungen im kurativen und gutachterlichen Bereich
Jatros
Autor:
MD Dr. Wolfgang Soukop
Institut für forensische Neuropsychiatrie<br> Wien<br> E-Mail: sv@npz-belvedere.at
30
Min. Lesezeit
13.12.2018
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<p class="article-intro">Psychische Störungen und hier vor allem affektive Störungen zählen zu den häufigsten Ursachen für den Versicherungsfall „Invalidität“. Psychische Störungen führen zu 39,7 % der bestehenden Pensionen und zu 49 % Neuzugängen der Leistungen aus dem Versicherungsfall der Berufsunfähigkeits- und Invaliditätspension bzw. 61 % der Neuzugänge bei den Beziehern von Rehabilitationsgeld. Wie eine Untersuchung nun zeigt, besteht eine teilweise erhebliche Diskrepanz zwischen den Diagnosen von behandelnden Ärzten und den diagnostischen Zuordnungen von Gutachtern.</p>
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<p class="article-content"><h2>Epidemiologie</h2> <p>Insgesamt sind in einem Jahr durchschnittlich 8,3 % der Bevölkerung depressiv krank. Hinzu kommen noch Dysthymien (chronische Form der Depression, die mindestens zwei Jahre dauert, depressive Daseinsform) und depressive Störungen im Rahmen von belastungsabhängigen (neurotischen) Störungen, insbesondere Angststörungen. Die Lebenszeitprävalenz von affektiven Störungen beträgt 12,3 % (Tab. 1). Es zeigt sich ein Trend zu geringerer psychiatrischer Morbidität bei Personen mit höherer Schulbildung, höherem Einkommen, bei verheirateten Personen und Personen mit Wohnsitz auf dem Land.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab1.jpg" alt="" width="300" height="420" /></p> <h2>Diskrepanz zwischen gutachterlichem und kurativem Bereich</h2> <p>Fachärztliche Befunde und die darin gestellten psychiatrischen Diagnosen sind Teil des Parteienvorbringens vor Gericht oder werden im Rahmen der Begutachtung durch eine Pensionsversicherungsanstalt vorgelegt. Sie stellen andererseits aber auch eine wichtige Anknüpfungstatsache für den im Gerichtsauftrag tätigen psychiatrischen Sachverständigen dar. Dabei zeigen sich jedoch nicht selten Diskrepanzen hinsichtlich der diagnostischen Zuordnung von affektiven Störungen, sowohl was den Schweregrad betrifft als auch den Verlauf. Solche Diskrepanzen können zur Verunsicherung der Betroffenen sowohl auf Seite der Antragsteller als auch bei den Rechtsanwendern führen.</p> <h2>Analyse von Sozialgerichtsgutachten</h2> <p>Eine gegenständliche Untersuchung setzte sich mit der Übereinstimmung von Diagnosen affektiver Störungen im gutachterlichen und kurativen Bereich auseinander. Dazu wurden 170 Stichproben aus Sozialgerichtsgutachten mit der Hauptdiagnose einer affektiven Störung mit den Diagnosen nach ICD 10 oder DSM-5 in zeitnahen Befunden niedergelassener Fachärzte, Ambulanzen und psychiatrischer Abteilungen verglichen. Grundlage für die Diagnose nach den Kriterien des ICD 10 im gutachterlichen Bereich waren strukturierte klinische Interviews und klinisch-psychologische Untersuchungen inklusive Persönlichkeits- und Leistungsdiagnostik. Das Durchschnittsalter der KlägerInnen betrug 52,4 Jahre, 60 % waren weiblich und 40 % männlich. Dies korreliert gut mit der altersbezogenen Häufigkeit des Auftretens affektiver Störungen. Hinterfragt wurden die Übereinstimmung hinsichtlich der Hauptdiagnose in der Gruppe F30 sowie die Häufigkeit von Komorbiditäten, insbesondere aus der Gruppe der Angststörungen F40 und Persönlichkeitsstörungen F60 (Abb. 1).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_abb1.jpg" alt="" width="600" height="354" /></p> <h2>Geringe Übereinstimmung von Diagnosen</h2> <p>Übereinstimmung über das Vorliegen einer affektiven Störung zwischen kurativem und gutachterlichem Bereich fand sich mehrheitlich. Insgesamt wurden gutachterlich mehr F3-Diagnosen gestellt. In beiden Gruppen wurde jeweils eine psychiatrische Komorbidität erfasst. Die größte Übereinstimmung bestand bei der Diagnose der bipolaren Störungen F31 und bei Angststörungen F41, sowohl als Hauptdiagnose wie auch als komorbide Störung.<br /> Im gutachterlichen Bereich wurden die Diagnosen „Angst und depressive Störung gemischt F41.2“ und „gemischte Angststörung F41.3“ deutlich häufiger erfasst als im kurativen Bereich. Diskrepanzen zeigten sich insbesondere auch bei der Diagnose einer mittelgradigen und schweren depressiven Episode, einer chronischen depressiven Störung und bei belastungsabhängigen Störungen, insbesondere bei posttraumatischer Belastungsstörung. Bedeutsame Störungen wie „Dysthymie F34.1“, „kurze rezidivierende depressive Störung F38“, „sonstige anhaltende affektive Störung F34.8“ waren im kurativen Bereich deutlich unterrepräsentiert (Abb. 2 und Tab. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_abb2.jpg" alt="" width="600" height="404" /></p> <p> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab2.jpg" alt="" width="300" height="416" /></p> <p> </p> <h2>Kritik an den Befunden</h2> <p>Generell zeigte sich, dass psychopathologische Befunde sowohl von Ambulanzen als auch Fachärzten im niedergelassenen Bereich in vielen Fällen mit den gestellten Diagnosen einer mittelgradigen oder schweren depressiven Episode nicht vereinbar waren. Dies zeigte unter anderem die nicht so selten verwendete Formulierung „Stimmungslage leicht negativ getönt“.<br /> Es zeigte sich in Verbindung mit einer Überrepräsentation der Diagnose von mittelgradigen, rezidivierenden depressiven Störungen, dass damit weder eine Störungshypothese noch eine Bewertung der Persönlichkeit (Akzentuierung, Störung) und sozialen Situation verbunden waren. Bei den Diagnosen handelte es sich fast ausschließlich um Aufnahmediagnosen, insbesondere bei stationären Patienten. Ein therapeutisches Reagieren, wie z. B. Dosissteigerung, Wechsel des Antidepressivums, Kombination, Lithiumaugmentation, stationäre Behandlung, war aus den Befunden ebensowenig ersichtlich wie der Vermerk „gebessert entlassen“.<br /> Auffallend waren zudem nahezu oder vollkommen idente Befunde zu unterschiedlichen Ausstellungszeitpunkten.<br /><br /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Neuro_1806_Weblinks_s43_tab3.jpg" alt="" width="300" height="477" /></p></p>
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