
Sportbedingte Verletzungen des Gehirns und ihre neuropsychiatrischen Folgen
Autor:
em. Univ.-Prof. DDr. Hans-Peter Kapfhammer
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Medizinische Universität Graz
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Als Christoph Kramer am 13. Juli 2014 Nicola Rizzoli, den Schiedsrichter des Endspiels Deutschland gegen Argentinien um die Fußballweltmeisterschaft im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro, in der 31. Minute zum zweiten Mal hintereinander ratlos fragte, ob es sich bei der laufenden Partie um das Endspiel handele, registrierte auch Rizzoli, dass mit dem jungen Spieler der deutschen Nationalmannschaft etwas nicht stimmte.
Kramer hatte in der 17. Minute anlässlich eines Zusammenpralls mit dem Argentinier Ezequiel Garay eine Gehirnerschütterung erlitten, war kurz bewusstlos gewesen, schien sich schnell zu erholen und spielte eine Viertelstunde durchaus noch recht ordentlich weiter. Kramer wurde ausgewechselt. Als fast 2 Stunden später endlich feststand, dass Deutschland zum 4. Mal Fußballweltmeister geworden war, konnte auch Kramer in den umgebremsten Jubel miteinstimmen, zeigte sich aber immer noch etwas verwundert, als er damit konfrontiert wurde, dass er zumindest 31 Minuten lang an diesem Triumph auch aktiv Anteil hatte.
Der wahrscheinlich weltbeste und technisch wohl eleganteste Boxer aller Zeiten, Muhammad Ali, durchbrach das als eisern geltende Gesetz des Boxsports im Schwergewicht „They never come back“ gleich zweimal. Nach den spektakulären Kämpfen des „Rumble in the Jungle“ (10.10.1974, Kinshasa, gegen George Foreman) und des „Thrilla in Manila“ (1.10.1975, Manila, gegen Joe Frazier) war er zum 2. Mal Boxweltmeister im Schwergewicht geworden. Er verlor übergewichtig und untertrainiert am 15.2.1978 diesen Titel an Leon Spinks, um ihn am 15.9.1978 zum 3. Mal zurückzugewinnen. Nach diesem Sieg wurde aber für jedermann offensichtlich, dass der 36-jährige Ali die Symptome seiner bereits sich entwickelnden Parkinson’schen Erkrankung nicht mehr verbergen konnte. Der Rest war ein Trauerspiel. Experten ermittelten, dass Muhammad Ali im Laufe seiner aktiven Boxkarriere insgesamt an die 29000 Treffer gegen seinen Kopf hingenommen hatte.
Etwa zur selben Zeit befand sich Gerd Müller noch auf dem Höhepunkt seiner sportlichen Karriere. Am 7.7.1974 hatte er in der 43. Minute mit seinem Treffer zum 2:1 gegen die Niederlande beim Finale in München den Grundstein zum nach 1954 erneuten Gewinn der Fußballweltmeisterschaft für Deutschland gelegt. Der „Bomber der Nation“ blickt als Mittelstürmer auf einzigartige Erfolge zurück (365 Tore in 427 Bundesliga-Partien, mit dem FC Bayern München vier deutsche Meisterschaften, viermal den DFB-Pokal, dreimal den Europapokal der Landesmeister, einmal den Europapokal der Pokalsieger, einmal den Weltpokal, mit der deutschen Nationalmannschaft 1972 die Europa- und 1974 die Weltmeisterschaft gewonnen). Fußballexperten haben zwar die Tore von Gerd Müller gezählt, Fußballvernarrte haben bisher aber noch nicht ermittelt, wie viele Kopfbälle er in seiner aktiven Laufbahn insgesamt gestoßen hat. Die Zahl dürfte wohl jene Marke von Kopftreffern eines Muhammad Ali erreichen, wenn nicht gar bei Weitem übertreffen. Seit 2015 ist bekannt, dass Gerd Müller an einer Demenz leidet.
Haben diese beispielhaft skizzierten Akutereignisse diskreter Verletzungen des Gehirns etwas gemeinsam und stehen sie möglicherweise mit ihren Langzeitentwicklungen Jahrzehnte später in einer bedeutsamen Beziehung? Ist Sport, sind vor allem bestimmte Sportarten vielleicht doch nicht so gesund oder harmlos, wie gemeinhin angenommen wird? Sollte dem Ausspruch des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchill, der Zigarren paffend und dem schottischen Whisky zugeneigt auf die Frage, wie er sein hohes Alter erreicht habe, nur trocken antwortete: „No sports!“, vielleicht doch mehr Beachtung geschenkt werden? Und warum sollten sich nicht nur Sportmediziner, sondern auch Psychiater um bestimmte Sportverletzungen kümmern, zumindest aber von ihnen wissen?
Epidemiologischen Untersuchungen zufolge üben schätzungsweise 38 Millionen Kinder und 170 Millionen Erwachsene jährlich eine organisierte Sportart aus. Eine regelmäßige sportliche Betätigung kann mit einer Reihe von körperlichen und psychischen Gesundheitsvorteilen assoziiert werden und präventiv zu einer Verringerung der endemischen, vor allem kardiovaskulären und metabolischen Krankheitsfolgen eines modernen westlichen Lebensstils beitragen. Die Kehrseite dieser prinzipiell zu begrüßenden körperlichen Aktivierungsmaßnahmen ist allerdings, dass sportliche Betätigung, insbesondere wettbewerbsmäßig betriebene Kontaktsportarten, ein bemerkenswertes Risiko für Kopfverletzungen tragen. Amerikanische Untersuchungen ermittelten, dass es jährlich zu 3,8 Millionen sportbedingten Hirnverletzungen („traumatic brain injuries“, TBI) kommt. Sportarten mit einer grundlegend höheren Kollisionswahrscheinlichkeit, wie etwa American Football, Eishockey, aber auch Basketball, die an den US-amerikanischen Highschools zu den beliebtesten Mannschaftssportarten zählen, weisen die höchsten Raten an Kopfverletzungen auf. Interessant erscheint, dass Mädchen gegenüber Jungen hierbei ein höheres Verletzungsrisiko mit resultierenden Gehirnerschütterungen zeigen. Aber auch scheinbar harmlosere Sportarten wie Radfahren, Fußballspielen oder Skifahren weisen hohe Hirnverletzungsraten auf. Es ist epidemiologisch festzuhalten, dass sportbedingte Traumatisierungen des Gehirns zu den Topursachen in der Mortalitätsstatistik in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter zählen. Dieses spezielle zerebrale Verletzungsrisiko bereits im Amateursport wird im professionellen Sport noch signifikant übertroffen.
Eine 7-Jahre-Kohortenstudie registrierte beispielsweise im FIS World Cup für die Wettbewerbe im Alpinen Skisport, Snowboarding und Freestyle in den Saisonen 2006–2013 insgesamt 2080 Sportverletzungen, davon 12% Kopf- und Gesichtsverletzungen (n=245). Es handelte sich hierbei mehrheitlich (82%) um Gehirnerschütterungen (Konkussion), davon in einem Viertel aber auch um schwerer wiegende Gehirnkontusionen (23,7%). Das Risiko war im Freestyle am höchsten. Und erneut erstaunlich wiesen Skifahrerinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen insgesamt eine höhere Verletzungsstatistik auf. Einem rezenten systematischen Review zufolge bewegten sich die jährlichen Inzidenzen von sportbedingten Hirnverletzungen in Studien, die auf Aufnahmeraten in Krankenhäusern beruhten, zwischen 3,5 und 31,5 auf 100000 Patient(inn)en. Eine Bevölkerungs-basierte Untersuchung identifizierte eine noch höhere Inzidenzrate von 170 auf 100000 Personen pro Jahr. Sportbedingte Hirnverletzungen nahmen einen Prozentsatz von 1,2–30,3% unter allen Hirnverletzungen ein. Jugendliche und junge Erwachsene wiesen die höchsten Inzidenzraten auf.
Längst widmen nationale und internationale Gesellschaften der akademischen Sportmedizin sportbedingten Hirnverletzungen, speziell dem Thema diskreter Gehirnerschütterungen, eine zentrale Aufmerksamkeit und erkennen hierin ein grundlegendes Gefährdungsmoment für die Gesundheit der Bevölkerung in modernen Gesellschaften. Das Thema hatte spätestens durch den Beitrag Hollywoods mit dem Film „Concussion“ (dt. „Erschütternde Wahrheit“, mit Will Smith, 2015) zu den Gesundheitsrisken der US-amerikanischen Nationalsportart Nummer eins, des American Football, auch eine breite populäre Beachtung erlangt. Der Film bereitete die Forschungsergebnisse des Neuropathologen Bennet Omalu anlässlich einer Serie unerwarteter Todesfälle von Football-Spielern nach Sportverletzungen publikumswirksam auf und regte auch eine große gesundheitspolitische Diskussion an.
Was stellen akute sportbedingte Verletzungen des Gehirns medizinisch-diagnostisch dar?
Schwere hirntraumatische Verletzungen gehen stets mit dem Verlust des Bewusstseins und auffälligen neurologischen Symptomen einher. Sie stellen jeweils neurologische bzw. neurochirurgische Notfälle dar.
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Ein epidurales Hämatom wird meist durch eine Ruptur der mittleren meningealen Arterie infolge einer plötzlichen und heftigen Krafteinwirkung auf den Schädel verursacht. In drei Viertel der Fälle liegt eine Schädelfraktur im Temporalbereich vor. Das austretende Blutvolumen erhöht den Hirndruck bis zu einer Herniation des Gehirns. Klinisch ist das häufige (ca. 50%), aber nicht regelmäßige Zeichen eines kurzen „luziden Intervalls“ von diagnostischer Relevanz. Erst hierauf setzen Koma und Tod ein, wenn nicht eine eilige neurochirurgische Intervention zur Entlastung des Gehirndrucks erfolgt.
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Ein akutes subdurales Hämatom ist die häufigste Form einer intrakraniellen Blutung bei sportlich bedingten Hirnverletzungen. Es stellt eine führende Ursache für Tod oder bleibende schwere Behinderung dar. Die Blutung ist Folge einer Ruptur der Brückenvenen im Subduralraum. Das Blutvolumen sammelt sich zwischen Dura und Mater subarachnoidea und erhöht den Hirndruck. Im Weiteren kommt es zu Ischämie, irreversibler Hirnschädigung und Herniation. Die Prognose ist insgesamt ungünstig. Die Mortalität bei Patien(inn)en, die einen neurochirurgischen Eingriff benötigen, liegt bei ca. 60%. Das Outcome ist bei Vorliegen einer neurologischen Herdsymptomatik zum Zeitpunkt der medizinischen Erstdiagnostik insgesamt schlechter.
Eine diffuse axonale Hirnverletzung (DAI) beruht auf einer Krafteinwirkung, die eine starke Akzeleration-Dezeleration auf das Gehirngewebe überträgt. Destruktive Scherkräfte entfalten sich vorzugsweise am Übergang von grauer und weißer Hirnsubstanz. Die primäre Schädigung betrifft den zytoskelettalen Transport, der für die axonale Funktion grundlegend ist. Eine hierdurch ausgelöste Schwellung bewirkt sekundär eine Dissektion des Axons. Der proximale Teil des Axons zieht sich zum Neuronensoma („retraction ball“) zurück, für Neuropathologen ein wichtiges pathognomonisches Zeichen. Der Schädigungsprozess wird durch Neuroinflammation, metabolische Dysregulation und axonales Absterben vermittelt. In ca. 50% sportbedingter Hirnverletzungen mit Bewusstlosigkeit finden sich zumindest einige Anzeichen einer diffusen axonalen Schädigung. Deren Ausmaß korreliert mit der Chance auf eine funktionale Langzeiterholung.
Gemeinsames Kennzeichen all dieser schwerwiegenden Hirnverletzungen bei Überleben sind bleibende neurologische Defizite, die sich trotz langwieriger Neurorehabilitation nur geringfügig, wenn überhaupt bessern. Und stets sind eingreifende neuropsychiatrische Langzeitkonsequenzen zu beachten. Diese können von distinkten neuropsychologischen Defiziten, Beeinträchtigungen in den basalen kognitiven Funktionen der Sprache, des Denkens und Planens, der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses und Neulernens, auffälligen emotionalen Regulationsstörungen mit prominenter Irritabilität, Aggressivität, Affektverflachung und reizgebundener Affektinkontinenz sowie prominenter ängstlicher und depressiver Affektlabilität bis hin zu organischer Persönlichkeitsstörung und Demenz reichen.
Deutlich schwieriger zu bewerten in ihren Auswirkungen ist die große Mehrheit (95%) der leichten sportbedingten Hirnverletzungen („mild traumatic brain injuries“, „concussion“), die klinisch als „Gehirnerschütterung“ imponieren. Es kann, aber muss nicht obligatorisch eine kurzfristige Bewusstlosigkeit (ca. 10%) vorliegen. Die Bewusstseinslage sollte innerhalb von 30 Minuten sukzessiv aufhellen. Während dieser Zeitspanne können affektive, kognitive und behaviorale Symptome (Desorientiertheit, Verwirrtheit, kognitive Verlangsamung, ängstlich-depressive Verstimmung, psychomotorische Unruhe) oder auch fokale neurologische Symptome bestehen. Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit oder Erbrechen sind häufig. Hinsichtlich der Umstände vor und nach dem Akutereignis kann eine Amnesie vorliegen, die aber in der Regel nicht länger als 24 Stunden währt. Eine Gehirnerschütterung zeigt keine strukturellen Auffälligkeiten in den bildgebenden Verfahren (CCT, MRI). Pathogenetisch pressen mechanische Kräfte das Gehirn abrupt gegen die Schädelkalotte. Ausgelöste Scher- und Dehnungseffekte auf die neuronalen Axone bewirken eine Kaskade von diskreten pathologischen Prozessen mit erhöhter Freisetzung von Neurotransmittern, Hypermetabolismus und Bildung freier Radikale. Neuropathologisch wird eine Gehirnerschütterung als eine leichte Form der diffusen axonalen Hirnverletzung eingestuft. In der Regel wird therapeutisch eine 24-stündige Beobachtungszeit in ruhiger Reizabschirmung empfohlen, um eine eventuell noch nachfolgende neurologische Verschlechterung rasch zu erfassen. Eine Subgruppe von sportverletzten Personen klagt aber nach einer scheinbar banalen Gehirnerschütterung über längere Tage bis Wochen und Monate über persistierende Allgemeinsymptome wie Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Es können depressive Verstimmungen, Ängste, Beeinträchtigungen in Konzentration und Merkfähigkeit mit durchaus gravierenden Einbußen in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität fortbestehen. Dieses postkontusionelle Syndrom kann nicht nur mit einem Verweis auf eine „somatoforme Problematik“ abgetan werden, die in Faktoren der Persönlichkeit oder stressvollen Lebensumständen begründet sei. Detaillierte testpsychologische Untersuchungen decken nicht selten beachtenswerte neuropsychologische Defizite auf und legen einen möglichen Zusammenhang mit einer speziellen Vulnerabilität in der posttraumatischen Erholung nach einer solchen diskreten Hirnverletzung nahe. Mehrere Faktoren können für eine solche Entwicklung angeführt werden, wie zu kurze Erholungszeit nach dem Trauma, repetitive diskrete Hirnverletzungen noch in der neuronalen Erholungsphase des vorausgehenden Traumas oder aber auch psychiatrische, vor allem affektive Vorepisoden. Rezente molekulargenetische Untersuchungen betonen ferner auch einen bedeutsamen Einfluss von genetischen Polymorphismen auf die Erholung nach Hirntraumata (z.B. ApoE4; ApoE G-219T Promotor-Gen; Tau Exon 6; BDNF-Val/Met-Polymorphismus).
Sollten mögliche langfristige neuropsychiatrische Konsequenzen im Auge behalten werden?
1928 publizierte H. S. Martland in „JAMA“ eine Fallserie über ein auffälliges Syndrom einer motorischen Verlangsamung und eines allmählich zunehmenden affektiven und kognitiven Abbaus bei ehemaligen Boxern, die während ihrer aktiven sportlichen Laufbahn zahlreichen repetitiven Kopftreffern ausgesetzt waren. Er titulierte dieses Syndrom als „punch drunk“. In weiterer Folge erhielt diese neuropsychiatrische Langzeitfolge die Bezeichnung einer „Dementia pugilistica“. McKee et al. (2009) prägten hierfür die Diagnose einer „chronischen traumatischen Enzephalopathie“ (CTE) und identifizierten eine zugrunde liegende progressive Tau-Pathie als neuropathologisches Korrelat. Größte, auch breite öffentliche Aufmerksamkeit erlangten Omalu und Koautoren für ihre analogen neuropathologischen Befunde bei einem unerwartet verstorbenen Akteur des American Football (siehe oben). 2016 definierte die TBI/CTE-Gruppe erstmals verbindliche, neuropathologisch begründete Kriterien für die Diagnose einer chronischen posttraumatischen Enzephalopathie in einem Konsensus-Statement.Die nachfolgende Landmark-Studie von Mez et al. (2017) bestätigte in einer klinisch-neuropathologischen Analyse von insgesamt 202 Gehirnen ehemaliger Football-Spieler, die nach deren Tod von den Angehörigen wissenschaftlichen Forschungszwecken zur Verfügung gestellt worden waren, dieses diagnostische Konzept eindrucksvoll. Das Durchschnittsalter betrug bei Tod im Median 66,6 Jahre. Die Post-mortem-Diagnose einer CTE konnte in 87% über die Konsensus-Kriterien verifiziert werden. Diese diagnostischen Kriterien betonen primär den Nachweis phosphorylierter Tau-Proteinaggregate in Neuronen, Astrozyten und Zellprozessen um die kleinen Blutgefäße herum, typischerweise in tiefen Bereichen der kortikalen Sulci. Während auch andere neurodegenerative Krankheiten wie z.B. Alzheimerdemenz oder frontotemporale Demenz eine Tau-Pathologie aufweisen, ist die besondere Verteilung in den perivaskulären Regionen und Tiefen der kortikalen Sulci einzig bei der CTE. Der neuropathologische Schweregrad war mit der Dauer und Intensität des Spielengagements (Jahre des aktiven Sports) auf Highschool-, College-, semiprofessionellem und professionellem Niveau korreliert. Ehemalige Spieler an der Highschool (21%) zeigten eine milde Ausprägung der CTE, aber die Mehrheit der Spieler auf College-Niveau (56%), der semi-professionellen (56%) und der professionellen Spieler (86%) wies einen hohen Schweregrad der CTE auf.
Eine detaillierte klinische Anamnese protokollierte bei 27 Spielern mit milder CTE in 96% behaviorale und/oder affektive Symptome sowie in 33% eine Demenz nach der Zeit als Aktive in den Folgejahren. Unter den 84 Spielern mit hochgradiger CTE zeigten im Vergleich hierzu 89% behaviorale und/oder affektive Symptome sowie 85% eine Demenz in der Krankheitsanamnese auf.Von hoher klinischer Relevanz an diesem Befund waren die nach repetitiven sportbedingten diskreten Hirnverletzungen imponierenden ängstlich-depressiv-irritablen Syndrome, die in hohen Prozentsätzen bereits viele Jahre symptomatisch eine chronische Enzephalopathie charakterisierten. Bedeutsam erschien ferner, dass die neuropathologische Untersuchung der Gehirne neben den typischen Merkmalen einer CTE auch noch zahlreiche andere pathologische Proteinaggregate aufdeckte, die mit Neurodegeneration assoziiert sind, wie Amyloid-β, α-Synuclein und Transactive Response DNA-Binding Protein 43. In nur 57% war die CTE isoliert nachweisbar. In einer Perspektive der Langzeitentwicklung von sportbedingten Hirnverletzungen musste die CTE als Risikofaktor für andere neurodegenerative Erkrankungen des Alters wie Alzheimerdemenz oder Parkinson’sche Krankheit eingestuft werden.
Die neuropathologische Studie von Mez et al. (2017) wurde an einem Konvenienz-Sample post mortem durchgeführt und könnte daher eine Reihe von Faktoren beinhalten, die einen Bias auf die erhobenen Befunde ausübten. Von höchster klinischer Bedeutung sind daher Studien, die prospektiv bereits in frühen Stadien nach sportbedingten Hirnverletzungen Zeichen diskreter Hirnverletzungen nachweisen und betroffenen Sportler(inne)n empirisch fundierte Empfehlungen einer ausreichenden neuronalen Erholung, einer eventuellen Neurorehabilitation, einer gestuften Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität geben oder aber von der Fortführung der betreffenden riskanten Sportart ernsthaft abraten. Beispiele für solche mit den Mitteln des modernen Neuroimagings angelegte prospektive Studien sind etwa die „Heidelberger Boxerstudie“, analoge Untersuchungen an Spielern des American Football oder des geliebten Fußballs europäischen bzw. internationalen Reglements.
Viele dieser verdienstvollen Forschungen zu sportbedingten Verletzungen des Gehirns beruhten bisher auf relativ kleinen Untersuchungssamples, die zwar wertvolle neue Erkenntnisse erbrachten, deren Generalisierung aber noch viele Fragen offenließ. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich jüngst auch internationale wissenschaftliche Kooperationen (z.B. ENIGMA) konstituiert haben, um nach standardisierten Kriterien zu Diagnostik und Pathophysiologie mit sportmedizinischen und neurobiologischen Methoden auf breiter Basis empirische Daten zu generieren und innovative Therapieansätze zu entwickeln.
Sollte man Winston Churchills Rat des „no sports“ befolgen?
Es ist empirisch unbestreitbar, dass ohne aktiven Sport sehr wahrscheinlich auch keine sportbedingten Verletzungen des Gehirns auftreten. Dies wäre sicherlich als maximale präventive Maßnahme anzusehen. Sie würde aber auch inkludieren, dass alkoholische Getränke, insbesondere schottischer Whiskey, dem Winston Churchill in falsch verstandener antidepressiver, selbstheilender Applikation so eifrig zusprach, auch nicht unbedingt ohne hirntraumatische Verletzungsrisiken sind, also in gleicher Strenge ebenfalls zu vermeiden wären. Vermutlich sind beide Ratschläge, auf aktiven Sport und auf jeglichen Alkoholkonsum ganz zu verzichten, ziemlich unrealistisch. Beide bereichern unser Leben, unseren Genuss, unsere Freude, aber eben im richtig gelernten Umgang und mit Wissen um die aristotelische Mitte. Auch wenn Sportpädagogen eventuell die Stirn runzeln möchten, ist etwas dran an der Erkenntis des ehemaligen Mittelfeldspielers des FC Bayern München und der deutschen Fußballnationalmannschaft, Paul Breitner, der, gefragt, was das Wichtigste am erfolgreichen Fußballspielen sei, antwortete: „das gekonnte, das intelligente Foul-Spielen“, im Hinblick auf sportbedingte Verletzungen des Gehirns bei genauerem Bedenken durchaus ein weiser Rat. Die Zeiten des rabiaten Verständnisses von Fußball, wie dies wohl am „beeindruckendsten“ Nobby Stiles „vertrat“, sollten endgültig vorbei sein. Man erinnert sich: London, Wembley, Finale der Fußballweltmeisterschaft, 30. Juni 1966, England gegen Deutschland. Wir haben leider nicht gewonnen, und das ist nach wie vor ein unbewältigtes kollektives Trauma.
Literatur:
beim Verfasser
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