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Nobelpreisträger warnt vor Folgen unseres Lebensstils
Leading Opinions
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01.11.2018
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<p class="article-intro">2017 haben drei Forscher aus den USA den Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckung bekommen, wie unsere innere Uhr auf zellulärer Ebene reguliert wird. Störungen der inneren Uhr erhöhen nicht nur das Risiko für Schlafstörungen, sondern – wie neue Studien zeigen – auch für Depressionen und andere psychische Krankheiten. Nobelpreisträger Prof. Michael Rosbash ist ziemlich deutlich: Schuld an vielen Krankheiten könne der moderne Lebensstil sein, denn der stört unsere innere Uhr empfindlich.</p>
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<p class="article-content"><p>Prof. Michael Rosbash ist Molekularund Chronobiologe an der Brandeis- Universität in Massachusetts. Er hat 2017 gemeinsam mit den Professoren Jeffrey Hall, ebenfalls von der Brandeis-Universität, und Michael W. Young von der Rockefeller- Universität in New York den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin gewonnen. «Im Dunkeln arbeitet die innere Uhr wie programmiert und sie arbeitet auch gut in einem regelmässigen Wechsel zwischen Hell und Dunkel», sagte er beim 68. Lindau Nobel Laureate Meeting im Juni. «Aber wenn wir wenig schlafen und uns ständig künstlichem Licht aussetzen – vor allem dem blauen Computerlicht –, gerät die innere Uhr durcheinander, der Zyklus der taktgebenden Gene funktioniert nicht mehr richtig, und es kann zu diversen Veränderungen im Stoffwechsel kommen.»<br /> Sie wehrt sich hartnäckig und behält ihren Rhythmus bei – komme, was wolle. Die innere Uhr lässt uns nach einem Langstreckenflug hellwach sein oder partout nicht schlafen, wegen ihr wälzen sich Schichtarbeiter nach einer anstrengenden Nachtschicht tagsüber unruhig im Bett. Sie bestimmt, dass wir morgens wacher sind als abends, wann wir die schnellste Reaktionszeit haben, die höchste Körpertemperatur und den schnellsten Anstieg des Blutdrucks (Abb. 1).<br /> «Wir wissen jetzt, dass es nicht nur eine innere Uhr gibt, sondern Tausende», sagt Dr. Hans-Günter Weeß, Leiter des Schlafzentrums am Pfalzklinikum im süddeutschen Klingenmünster. Die oberste innere Uhr sitzt im Gehirn. Wie ein Maestro im Orchester dirigiert sie viele einzelne Unteruhren in unseren Zellen und lässt diese tagtäglich ein harmonisches Konzert spielen. «Bringt man das durcheinander, leidet die Lebensqualität enorm und man kann psychisch krank werden.»<br /> Organismen auf der Erde haben schon vor Jahrtausenden gelernt, sich an ihre Umgebung anzupassen – das sicherte ihr Überleben. Doch die Erde dreht sich, und täglich ändern sich Licht und Temperatur. Die meisten Organismen entwickelten deshalb eine innere biologische Uhr, mit der sie die Tag- Nacht-Zyklen quasi vorhersehen und ihren Stoffwechsel und ihr Verhalten darauf einstellen konnten. Dieser zirkadiane Rhythmus wurde während der Evolution bewahrt. Egal ob Einzeller, Pilze, Pflanzen, Insekten, Nagetiere oder der Mensch: Alle folgen einem für sie passenden Rhythmus. 1729 stellte der französische Astronom Jean Jacques d’Ortous de Mairan eine Mimose ins Dunkle und beobachtete, dass die Pflanze trotz Dunkelheit ihre Blätter zur korrekten Tageszeit öffnete und schloss – die Mimose musste von selbst «wissen», wann Tag und wann Nacht war. 200 Jahre später zeichnete der deutsche Pflanzenphysiologe Prof. Erwin Bünning die Positionen der Blätter einer Bohnenpflanze mit einem Kymografen auf, einmal während des normalen Tag- Nacht-Rhythmus und einmal bei konstanten Lichtverhältnissen. In beiden Fällen behielt die Bohnenpflanze ihren Rhythmus bei – auch das sprach für einen endogenen Zeitgeber. Doch noch jahrzehntelang stritten sich die Forscher, ob es eine innere Uhr wirklich gäbe oder ob der zirkadiane Rhythmus nicht doch von äusseren Stimuli abhinge. Erst Mitte der 1960er-Jahre begann sich das Konzept der inneren Uhr stärker zu etablieren, als eine Gruppe von Chronobiologen intensiv darüber forschte.<br /> Zu der Zeit begannen der US-amerikanische Molekularbiologe Prof. Seymour Benzer und sein Student Ronald Konopka Studien mit mutierten Fruchtfliegen, bei denen der zirkadiane Rhythmus gestört war. Im Gegensatz zu anderen Forschern dieser Zeit war Benzer überzeugt, dass sich ein bestimmtes Verhalten durch einzelne Gene beeinflussen lasse – das wollte er mit den Fruchtfliegen beweisen. Benzers Team isolierte drei Fruchtfliegenstämme mit jeweils unterschiedlicher Mutation. Der erste Stamm hatte einen arrhythmischen 24-Stunden-Zyklus, ein anderer eine kürzere Periode von 19 Stunden und ein dritter Stamm eine längere von 28. Benzer fand heraus, dass sich alle drei Mutationen im gleichen Gen befanden – dieses wurde später «Period»-Gen genannt. Benzer und Konopka vermuteten, dass die Fruchtfliegen mit dem arrhythmischen Zyklus eine sogenannte «Nonsense»-Mutation im «Period»-Gen tragen, die es inaktiviert, und dass die Fruchtfliegen mit dem längeren und kürzeren Zyklus Mutationen tragen, die das Genprodukt gegensätzlich beeinflussen. Beide Vermutungen waren richtig, wie sich später herausstellte.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Neuro_1804_Weblinks_lo_neuro_1804_s12_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="851" /></p> <h2>Ein Gen für den zirkadianen Rhythmus</h2> <p>Mitte der 1980er-Jahre gelang es Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young, das «Period»-Gen zu isolieren und zu sequenzieren. Wie die zirkadiane Uhr auf molekularer Ebene funktionierte, war damit aber auch noch nicht geklärt. Forscher stellten diverse Theorien auf, wie das Genprodukt, also das Protein PER, arbeiten könnte. Etwa wie eine Pumpe, die einen Gradienten in der Zellmembran aufbaut und quasi wieder «ausgeschaltet» wird, wenn eine bestimmte Helligkeit erreicht ist. Andere Forscher meinten, PER könnte ein Proteoglykan sein, das Zellen näher zueinanderbringt, damit diese leichter Verbindungen eingehen könnten. Hall und Rosbash fanden schliesslich heraus, dass das PER-Protein in der Nacht akkumuliert und tagsüber abgebaut wird. So schwanken die PER-Spiegel über einen Zeitraum von 24 Stunden, synchron mit dem zirkadianen Rhythmus. Hat eine Zelle genügend PER produziert, verhindert das Protein selbst, dass noch mehr PER gebildet wird. So reguliert PER seine eigenen Konzentrationen in einem kontinuierlichen, zyklischen Rhythmus.<br /> Es fehlten aber immer noch ein paar Puzzleteile. Das PER-Protein blockiert die Aktivität des «Period»-Gens, so viel war klar. Aber dazu musste das PER-Protein, das im Zytoplasma produziert wird, in den Zellkern gelangen, wo sich das Gen befindet. Der dritte Preisträger Michael Young entdeckte ein zweites Gen für den zirkadianen Rhythmus, das «Timeless»-Gen. Es führt zur Produktion des TIM-Proteins, das wie ein Taxi wirkt: Bindet PER an TIM, können beide Proteine in den Zellkern gelangen, wo sie die Aktivität des «Period»- Gens blockieren. Dass unsere innere Uhr genau 24 Stunden umfasst, gewährleisten andere Gene wie «doubletime», «clock», «cycle» und «cryptochrome», deren Genprodukte, also die Proteine CLK, CYC und CRY, in einem komplizierten Zusammenspiel den PER-Kreislauf fein regulieren und Einflüsse aus der Umwelt integrieren. So aktiviert zum Beispiel Licht das CRY-Protein und bewirkt, dass es an das TIM-Taxi bindet, was letztendlich zum schnelleren Abbau von PER führt.</p> <h2>Schuld an Übergewicht könnte Schichtarbeit sein</h2> <p>«Die innere Uhr ist ein zentraler Baustein des menschlichen Organismus», sagt Prof. Dr. med. Christian Baumann, leitender Schlafmediziner an der Klinik für Neurologie am Universitätsspital Zürich. «An sie sind elementare Prozesse gekoppelt wie der Temperaturhaushalt, Stoffwechselprozesse und das Herz-Kreislauf- System sowie die Ausschüttung von Kortisol und Wachstumshormonen.» Diese werden durch den Hell-dunkel-Rhythmus tagaus, tagein getaktet.<br /> Es gibt verschiedene Chronotypen, was sich auch im täglichen Leben widerspiegelt: «Sogenannte Lerchen kommen schlechter mit Schichtarbeit zurecht als ‹Eulen›», erklärt Schlafmediziner Weeß. «Für viele Spättypen ist der Schul- und Arbeitsbeginn zu früh. Die Folgen sind Tagesschläfrigkeit und vermehrte Fehlleistungen im Strassenverkehr oder am Arbeitsplatz. Auch die Schulleistungen sind am frühen Morgen schlechter, weil Jugendliche ausgeprägte Eulen sind.» Bei der Behandlung von Schlafstörungen ist die Kenntnis des Chronotyps von zentraler Bedeutung. Weeß: «Hat jemand zum Beispiel Ein- oder Durchschlafprobleme, empfehle ich je nach Chronotyp eine andere Verhaltenstherapie.»<br /> Jedes Organ hat eigene Uhren, die tageszeitlich verschieden ticken. So ist etwa die Bauchspeicheldrüse mit der Insulinproduktion zu ganz anderen Zeiten aktiv als das Fettgewebe, wenn es Fette speichert. Die «Unteruhren» tauschen sich untereinander und mit der «Oberuhr» im Gehirn aus und bringen sich in einen Gleichklang. «Unregelmässige Schlafenszeiten bringen dieses harmonische Spiel empfindlich durcheinander », sagt Weeß. «Sie könnten zum Beispiel erklären, warum Schichtarbeiter oft übergewichtig sind oder warum manche Kinder nicht richtig wachsen, denn bei unregelmässigen Schlafenszeiten wird weniger Wachstumshormon ausgeschüttet.»</p> <h2>Psychisch krank durch gestörten Rhythmus</h2> <p>Störungen der inneren Uhren scheinen auch das Risiko für psychische Krankheiten zu erhöhen. Eine der grössten Studien mit 91 105 Teilnehmern veröffentlichten kürzlich Forscher von der Universität Glasgow zu diesem Thema.<sup>1</sup> Diejenigen, die während Ruhezeiten aktiv waren und/oder am Tage ruhten, erkrankten häufiger an Depressionen oder bipolaren Störungen, also an schweren chronischen Krankheiten mit manischen und depressiven Phasen. Wie aktiv die Probanden am Tag und in der Nacht waren, wurde mittels eines Beschleunigungssensors am Handgelenk registriert – damit war die Studie aussagekräftiger als frühere, in denen die Teilnehmer selbst angaben, wie aktiv sie waren.<br /> «Es kann natürlich sein, dass Menschen mit Depressionen oder bipolarer Störung schlecht schlafen», sagt Prof. Dr. med. Robert Perneczky, Psychiater an der Ludwig- Maximilians-Universität in München und am Imperial College in London. «Aber wir haben inzwischen immer mehr Hinweise, dass Störungen der inneren Uhr wirklich ursächlich psychische Krankheiten verursachen könnten.» So haben Forscher zum Beispiel nachgewiesen, dass genetische Varianten des «Clock»-Gens beim Menschen zu manisch-depressivem Verhalten führen können<sup>2</sup> und Medikamente gegen Depressionen oder Schizophrenie gestörte Rhythmen wieder synchronisieren können.<sup>3</sup><br /> In der Glasgower Studie zeigten diejenigen mit gestörtem Tag-Nacht-Rhythmus längere Reaktionszeiten – ein indirektes Mass für die Funktion des Gehirns. «Wir sehen bei vielen Patienten mit gestörter Hirnfunktion – etwa bei Morbus Alzheimer – Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus», sagt Perneczky. Typisch ist das Sundowning: Am Abend werden die Betroffenen unruhig, laufen umher, sind nervös und können nicht schlafen. «Bei Alzheimerpatienten wird unter anderem auch das Nervengebiet im Hirn geschädigt, in dem sich die innere Uhr befindet – das könnte die Störung der zirkadianen Rhythmik erklären», sagt Perneczky. Die Erkenntnisse über die innere Uhr haben längst Einzug in sein Behandlungsspektrum gefunden: Tipps zum besseren Schlafen gehören bei ihm zur Standardtherapie. Schichtarbeitern rät er, entweder nachts oder tags zu arbeiten und nicht ständig im Wechsel. Zusätzlichen Stress solle man vermeiden, weil dieser das Risiko für psychische Krankheiten weiter erhöhe. «Hatte man selbst oder jemand in der Familie schon einmal Depressionen oder andere psychische Krankheiten, ist das umso wichtiger», sagt der Psychiater.<br /> Lichttherapie oder Schlafentzug kann bei depressiven Menschen die inneren Uhren wieder in Einklang bringen. Gegen das Sundowning hilft, wenn die Betroffenen tagsüber körperlich aktiv sind, man sie geistig stimuliert und gegen Abend für eine ruhige Umgebung sorgt. «An die Politik sind unsere Erkenntnisse über die innere Uhr ein klares Signal», sagt Perneczky. «Durch weniger Schichtarbeit und Wohngebiete, in denen es dunkel ist und man ruhig schlafen kann, liessen sich viele psychische Leiden vermeiden.»</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Lyall LM et al.: Association of disrupted circadian rhythmicity with mood disorders, subjective wellbeing, and cognitive function: a cross-sectional study of 91 105 participants from the UK Biobank. Lancet Psychiatry 2018; 5(6): 507-14 <strong>2</strong> Shi J et al.: Clock genes may influence bipolar disorder susceptibility and dysfunctional circadian rhythm. Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 2008; 147B: 1047-55 <strong>3</strong> Karatsoreos IN: Links between circadian rhythms and psychiatric disease. Front Behav Neurosci 2014; 8: 162</p>
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