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Mit dem Computer den Wahn bekämpfen
Leading Opinions
30
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29.08.2019
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<p class="article-intro">In der virtuellen Realität lassen sich paranoide Gedanken lindern. Gerade bei computeraffinen Patienten ist diese Art der Therapie eine sinnvolle Ergänzung.</p>
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<p class="article-content"><p>Sie sind überzeugt, der Geheimdienst sei hinter ihnen her. Sie haben grosse Angst, in ein Café zu gehen oder Tram zu fahren – schliesslich will einem ja jeder etwas Böses. Paranoide Gedanken sind typisch für Patienten mit Schizophrenie. «Die Patienten leiden enorm», sagt Prof. Gregor Hasler, Leiter der Abteilung Psychiatrie an der Universität Freiburg. «Das ständige Gefühl, die Mitmenschen seien feindselig gesinnt, ist schwer zu ertragen. Hinzu kommt, dass keiner die Ängste teilt – das löst oft Wut oder Scham aus.» Ein Besuch im Café oder eine Fahrt mit dem Bus sind für viele unmöglich. Die Betroffenen gehen kaum noch unter Leute, haben keinen Partner und verlieren ihren Job.<br />Als Standard der Behandlung wird eine kognitive Verhaltenstherapie empfohlen. Damit sollen sich die Betroffenen in die angstauslösenden Situationen begeben und etwa im Café etwas bestellen oder beim Bäcker einkaufen. Doch eine solche Konfrontationstherapie wirkt oft nur mässig. Zum einen lässt sich die Reaktion des Umfeldes nicht vorhersagen – vielleicht reagieren Bedienung oder Verkäuferin unfreundlich, und der Patient fühlt sich in seiner Wahnvorstellung bestätigt. Zum anderen ist der Therapeut auf die Erzählungen des Patienten angewiesen, und im Nachhinein könnte dieser die Situation positiver oder negativer beurteilen. «Viele haben schlichtweg auch zu grosse Angst, sich hinauszubegeben», sagt Prof. Hasler.</p> <h2>Konfrontation am Computer</h2> <p>Besser wäre, die Patienten könnten die Konfrontation in einer virtuellen Umgebung üben, in der der Therapeut die Situation kontrollieren kann. Dass dieses Konzept, das bei Angststörungen bereits erfolgreich eingesetzt wird, auch bei Paranoia funktioniert, zeigten Forscher der Universität in Amsterdam.<sup>1</sup> 166 Patienten bekamen eine Standardbehandlung aus Medikamenten und regelmässigen Besuchen beim Therapeuten, aber keine spezifische Psychotherapie. Die Hälfte der Probanden wurde zusätzlich am Computer behandelt. Sie setzten sich eine spezielle Brille auf und waren damit in virtuellen Umgebungen, die ihnen Angst machten, etwa im Café, auf der Strasse, im Bus oder im Supermarkt. Der Therapeut konnte mit der Software bis zu 40 Computerpersonen auftreten und sie neutral oder feindselig reagieren lassen. Er liess sie bestimmte Sätze sagen oder dem Patienten direkt in die Augen schauen, was bei Wahnvorstellungen grosse Angst auslösen kann. Während der Patient in der virtuellen Welt war, berichtete er von seinen misstrauischen Gedanken. Der Therapeut ermutigte ihn, den Augenkontakt mit den Computerpersonen zu halten, mit ihnen zu kommunizieren, statt sich zu entfernen, und half ihm zu verstehen, dass seine argwöhnischen Gedanken nicht begründet waren. Nach der dreimonatigen Behandlung hatten die in der virtuellen Therapie behandelten Patienten weniger Wahn und Angst. «Unser Gehirn scheint keinen grossen Unterschied zwischen virtueller Realität und der realen Welt zu machen, wenn es um Situationen geht, die für uns von existenzieller Bedeutung sind», sagt Nexhmedin Morina, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Münster, der seit Jahren über Expositionstherapie in der virtuellen Realität forscht. «Wenn ich in der realen Welt Menschen misstraue, tue ich dies auch bei virtuellen Menschen.» Morina sieht einige Vorteile der virtuellen Welt: «Wir können die Behandlung besser auf die Patienten zuschneiden und die Computerpersonen zum Beispiel das gleiche sagen lassen wie die inneren Stimmen beim Patienten.» Den Patienten falle es leichter, sich auf eine virtuelle Exposition einzulassen. «Man kann die Konfrontation ja jederzeit unterbrechen », sagt Morina.<br />Auch der Psychologe Prof. Steffen Moritz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf macht mit Therapien in der virtuellen Welt gute Erfahrungen. Gemeinsam mit seinem Team hat er ein Computerprogramm mit virtuellen Welten entwickelt. In einer geht der Patient eine Strasse entlang; Moritz berichtet von einer Sitzung. «Der Patient sieht in der virtuellen Welt Passanten und ist überzeugt, dass diese etwas im Schilde führen und feindselig blicken. Später zeige ich ihm Bilder der Personen und mache ihm klar: Nein, die Personen hatten einen neutralen Gesichtsausdruck. » Gerade hat Moritz seine Studie abgeschlossen,<sup>2</sup> Ergebnisse sollen in Kürze veröffentlicht werden. «Ich darf natürlich noch nicht alles detailliert berichten, aber wir sehen, dass mit der Behandlung in virtueller Realität der Verfolgungswahn deutlich weniger wird. Vermutlich liegt das daran, dass wir den Patienten rückmelden, dass ihre Urteile häufig fehlerhaft sind. Wir säen Zweifel an zu sicheren Einschätzungen. »</p> <h2>Hilft allein das Eintauchen in die virtuelle Realität?</h2> <p>Untersucht hat sein Team 80 Patienten mit Schizophrenie. Alle wurden zwei Mal jeweils eine Stunde in der virtuellen Realität behandelt und fanden sich in zufällig ausgewählten Szenen wieder: auf der Strasse, in einer U-Bahn-Station, am Strand oder auf einem Campingplatz (Abb. 1). Nach der Behandlung wurden die Teilnehmer gefragt, was für einen Gesichtsausdruck die Passanten hatten und was für Objekte am Strand oder am Campingplatz lagen. Die Wissenschafter hatten dabei bewusst Objekte entfernt, die man dort erwarten würde, also etwa ein Handtuch oder ein Zelt. Bei der Hälfte der Studienteilnehmer korrigierte oder bestätigte der Therapeut die Wahrnehmung des Patienten, bei den übrigen nicht. «Das Problem bei Wahnvorstellungen ist nämlich, dass die Patienten überzeugt sind, ihre Wahrnehmung sei richtig», sagt Prof. Moritz. «Diese Überkonfidenz möchten wir reduzieren. » Noch ist nicht klar, wie wichtig die Richtigstellung der Therapeuten ist: In beiden Gruppen liessen die Wahngedanken nach jeder Sitzung immer mehr nach, am Ende sogar auch bei denen ohne Rückmeldung. Hilft also schon das Eintauchen in die virtuelle Realität?<br />Prof. Peter Falkai, Chefpsychiater an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, lobt die bisherigen Studien. «Wir werden die Behandlung in der virtuellen Realität bei einigen Patienten versuchen. Vor allem für junge, computeraffine Patienten wäre das eine gute Option.»<br />Dennoch: Bisher ist noch nicht klar, welche der virtuellen Welten besser ist und ob sie effektiver sind als klassische Psychotherapie – dazu gibt es noch nicht genügend Untersuchungen. Auch die Therapie an sich ist noch zu verbessern: In der Amsterdamer Studie verbrachten die Patienten danach nicht mehr Zeit mit anderen Menschen und empfanden immer noch ihr soziales Umfeld als bedrohlich. «Objekte und Räume lassen sich bereits hervorragend simulieren, aber bei Mimik und Gestik hapert es noch», sagt Steffen Moritz. Er wäre aber schon froh, wenn Menschen mit Wahn überhaupt die Standardbehandlung bekämen, nämlich eine kognitive Verhaltenstherapie mit Konfrontation.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Neuro_1903_Weblinks_lo_neuro_1903_s__abb1_witte.jpg" alt="" width="650" height="350" /></p> <h2>Evolutionärer Vorteil durch Paranoia</h2> <p>Während Therapeuten noch über die richtige Strategie diskutieren, suchen Wissenschafter nach der Ursache der Paranoia. Forscher vom University College in London sehen sie als evolutionären Vorteil, um in der modernen Gesellschaft klarzukommen, und zwar mit der Bedrohung durch Grüppchenbildung.<sup>3</sup> Menschen schliessen sich in Gruppen zusammen, wodurch andere stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Ständig Angst habend, ausgeschlossen zu werden, spüren die Menschen Druck, sich ebenfalls einer Gruppe anzuschliessen und andere entweder als Verbündeten oder als Bedrohung anzusehen. «Fühlt man ständig diese soziale Bedrohung, kann das durchaus das Risiko erhöhen, dass man irgendwann Verfolgungsgedanken entwickelt», sagt Psychiater Falkai. «Dazu passt, dass eine Schizophrenie sich meist im jungen Erwachsenenalter entwickelt, zur Zeit der Cliquen- und Grüppchenbildungen.» So ist es auch typisch, dass sich Verfolgungsgedanken oft auf konkrete Gruppen beziehen, zum Beispiel die Nachbarn oder den amerikanischen Geheimdienst. Die Londoner Forscher beschreiben das, was bei anderen psychischen Problemen als «psychiatrisches Kontinuum» bezeichnet wird: «Wir sehen sämtliche Symptome bei psychischen Störungen als normale menschliche Phänomene, also als ein Kontinuum menschlichen Verhaltens», sagt Morina. «Es wird erst dann pathologisch, wenn es am äusseren Rand des Kontinuums liegt und Leiden verursacht und wenn der Verfolgungswahn beispielsweise zu sozialer Isolation und so grosser Angst führt, dass man nicht mehr rausgeht.» Jeder Mensch habe irgendwann einmal paranoide Gedanken, bestätigt Psychiater Gregor Hasler. «Psychologisch hat das den Vorteil, dass alle Probleme von aussen kommen und man selbst das Opfer ist. Es erhöht auch das Selbstwertgefühl, denn man ist ja wichtig, weil alle einen verfolgen. » Der Preis dafür ist aber hoch: Offene, bereichernde soziale Beziehungen sind nicht mehr möglich, wenn man ständig davon ausgeht, die anderen würden sich gegen einen verschwören. «Ein guter Realitätssinn ist langfristig hilfreicher als paranoides Denken», sagt Hasler. «Den kann man auch in der virtuellen Realität trainieren.»</p> <p>Kontaktadresse für das VR-Programm Paradigma: Karsten Grzella, grzella@uke.de</p></p>
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<p><strong>1</strong> Pot-Kolder R et al.: Lancet Psychiatry 2018;<strong> 5</strong>: 217-26 2 https://www.drks.de/drks_web/navigate.do?naviga tionId=trial.HTML&TRIAL_ID=DRKS00013947<strong> 3</strong> Raihani NJ et al.: Nature Human Behaviour 2019; 3: 114-21</p>
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