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Die Behandlung distaler Radiusfrakturen im Alter – eine fast tägliche Kontroverse

Eine fiktive Debatte über die Behandlung einer 72-jährigen Patientin mit distaler Radiusfraktur.

Keypoints

  • Die Behandlung der distalen Radiusfraktur im Alter ist nach wie vor ein umstrittenes Thema, eine klare Empfehlung einer operativen oder konservativen Therapie kann nicht gegeben werden.

  • Mittels alleiniger Ruhigstellung kann ein gutes Outcome im Alter erreicht werden. Hierbei ist nicht das kalendarische Alter, sondern das biologische Alter zu berücksichtigen. Es muss betont werden, dass bei konservativer Therapie eine adäquate Betreuung und auch Nachbehandlung entscheidend für den Erfolg sind.

  • Bei Patienten über 65 Jahre gibt es keine statistisch signifikante Korrelation zwischen radiologischen Parametern und funktionellem Outcome.

  • Die Vorteile einer operativen Therapie, wie die schnellere Selbstständigkeit, die bessere anatomische Reposition sowie das geringere Risiko für einen Repositionsverlust durch winkelstabile Implantate sind auch bei über 65-jährigen Patienten zu respektieren und die Entscheidung ist individuell zu treffen.

  • Die operative Therapie birgt Risiken wie Wundheilungsstörungen, Infektionen und Narkoserisiken, gepaart mit höheren sozioökonomischen Kosten.

G: Hallo, lieber Philipp, ich würde mit dir gerne einen Fall besprechen. In der Ambulanz ist eine Patientin, sie ist 72 Jahre alt. Sie ist zu Hause gestolpert und hat sich dabei eine distale Radiusfraktur bei vorbekannter Osteoporose zugezogen. Ich habe dir die Röntgenbilder mitgebracht, vielleicht könntest du sie dir kurz ansehen (Abb.1). Soll ich sie schon zur OP anmelden?

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Abb. 1: Die primären Röntgenbilder der Patientin

P: Hallo, Georg, schau ich mir gerne an. Ich kann nachvollziehen, warum du hier gleich an die operative Versorgung denkst. Sie hat einige Kriterien, die dafürsprechen, wie zum Beispiel die Dorsalkippung des peripheren Fragmentes von über 20°, eine Trümmerzone mit Radiusverkürzung, einen basisnahen Abbruch des Processus styloideus ulnae sowie eine radiale Inklination von unter 10°.1,2 Reden wir aber auch über die konservativen Therapiemöglichkeiten. Ich liebe konstruktive Diskussionen. Was bringt die Patientin an Begleitumständen noch mit? Kennst du aktuelle Arbeiten zu dem Thema?

G: Ich weiß, die aktuelle Literatur zeigt unterschiedliche Meinungen über die Versorgung der distalen intraartikulären Radiusfraktur. Während einige Autoren ein besseres funktionelles Outcome beschreiben, sehen andere keinen signifikanten Vorteil der operativen Versorgung im Vergleich zur nicht operativen Therapie im Alter.3 Ich mache mir jedoch Sorgen über eine sekundäre Dislokation bei einer konservativen Therapie, weil die Patientin unter Osteoporose leidet sowie ihren kranken, bettlägerigen Gatten pflegen muss, und glaube, dass die Fehlstellung schon Schmerzen und Bewegungseinschränkungen mit sich bringen kann.

P: Die Patientin ist über 70 Jahre alt und hat einige Nebenerkrankungen: Sie hat Diabetes mellitus, leidet unter Niereninsuffizienz und braucht auch neben einer Basistherapie mit Methotrexat Cortison bei chronischer Polyarthritis. Hier würde ich doch eine konservative Therapie in Betracht ziehen. In der Leitlinie wird kein funktioneller Unterschied zwischen operativem und nichtoperativem Behandlungsweg bezüglich des subjektiven und des funktionellen Outcomes beschrieben. Ich würde der Patientin die Risiken einer operativen Intervention, wie beispielsweise eine Wundheilungsstörung, eine Infektion oder die Komplikationen im Rahmen einer Narkose, ersparen wollen und ein konservatives Verfahren wählen. Zugegebenermaßen sind die Risiken gering, aber du weißt selbst, dass es auch trotz korrekt durchgeführter operativer Therapie zu einem Korrekturverlust kommen kann oder gar eine Osteosynthese fehlschlagen kann.

G: Das wundert mich, denn in einer Studie aus Spanien, die ich kürzlich gelesen habe, wird das konservative und operative Vorgehen bei intraartikulären Frakturen bei Patienten über 60 Jahre verglichen. Die Autoren kommen zum Schluss, dass das funktionelle Outcome sowie die Lebensqualität bei operativ versorgten Frakturen deutlich besser sind.4

P: Ich kenne diese Studie sogar – hier wurden ältere Patienten miteinander verglichen, ohne auf das Aktivitätslevel oder die medizinischen Grunderkrankungen einzugehen. Eine 65-jährige, adipöse Patientin mit Begleiterkrankungen ist nicht mit einem 72-jährigen, sportlich aktiven Bergsteiger zu vergleichen, wie wir sie ja bei uns im Ennstal finden.5 Somit würde ich diese Studie nicht in die Entscheidungsfindung bezüglich der bestmöglichen Behandlung unserer Patientin einbeziehen.

G: Da wir davon ausgehen müssen, dass unsere Patientin unter Osteoporose leidet, sollten wir damit rechnen, dass diese Frakturen häufig instabil sind und die Stellung im Stützverband oft verlieren, obwohl man den Gips nach den Regeln von Böhler anlegt. Bei Osteoporose ist ein alleiniger Stützverband oft nicht ausreichend, im Gegensatz dazu ist mit einem winkelstabilen Implantat nicht so sehr von einem Repositionsverlust auszugehen.6–8

P: Du sprichst den Repositionsverlust an. Du hast recht, bei unter 65-Jährigen gibt es funktionelle Konsequenzen bei einem sekundären Repositionsverlust. Diese Patienten haben ein höheres Risiko, an Schmerzen, Bewegungseinschränkungen sowie einem Kraftdefizit zu leiden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die dorsale radiale Inklination mehr als 10° beträgt, die radiale Deviation 15° oder weniger beträgt, sowie bei einer Ulna-Plus-Verschiebung, die 3mm oder länger ist.9 Bei Patienten über 65 Jahre gibt es jedoch keine statistisch signifikante Korrelation zwischen radiologischen Parametern und dem funktionellen Outcome.9,10 Letztendlich ist ja das funktionelle Ergebnis entscheidend, nicht das Röntgenbild!

G: Bei älteren Patienten muss auch die Reposition nicht perfekt sein; eine anatomische Reposition führt nicht zu einem besseren Outcome, solange es nicht zu einem sekundären Repositionsverlust kommt! Aber die Zahl der sekundären Dislokationen bei konservativer Therapie ist beträchtlich: Bei bis zu 50% der reponierten und gegipsten Frakturen kommt es zu einem signifikanten Repositionsverlust.9 Ich verstehe dich schon, eine anatomische Reposition und Plattenosteosynthese führen nicht immer zu einem besseren Ergebnis, jedoch verhindern sie auch ein schlechtes Outcome! Zusätzlich sollte man erwähnen, dass mit einer Operation eine Selbstständigkeit der Patientin früher erreicht werden kann, was speziell für diese Patientin schon wichtig wäre.9 Obwohl es keine hinreichende Evidenz gibt, geht in den Industrieländern der Trend zur operativen Therapie der distalen Radiusfraktur, meist zur winkelstabilen volaren Plattenosteosynthese.11,12 Dies wird auch einen Grund haben.

P: Zur Repositionsnotwendigkeit sollten wir uns extra unterhalten: ob diese überhaupt erforderlich ist oder ob es nicht eigentlich nur um die Ruhigstellung als Schmerztherapie geht.13 Man muss davon ausgehen, dass die Reposition bis zur endgültigen Heilung des Knochens vollständig verloren geht, also bringt das vielleicht gar nicht so viel, wie man angenommen hat.14 Wir sollten eine Nutzen- Risiko-Abwägung machen. Viele über 65-jährige Patienten haben signifikante Vorerkrankungen. Wie wir schon besprochen haben, kann bei vielen distalen Radiusfrakturen ein gutes Ergebnis mittels Gipsbehandlung erreicht werden, ohne dass die Patienten die Strapazen und Risiken einer Operation in Kauf nehmen müssen. Und auch sozioökonomisch hat die unreflektierte Operation aller Radiusfrakturen einen Einfluss. Viele Patienten klagen nach einer Operation über die Platte oder möchten kein Metall im Körper haben. Hier wäre dann sogar eine zweite Operation zur Metallentfernung notwendig. Vom Risiko für die Ruptur der Sehne des langen Daumenstreckers ganz abgesehen.

G: Es müsste doch einen eindeutigen Konsens geben, oder? Schließlich ist die Radiusfraktur eine extrem häufige Verletzung gerade bei älteren Patienten.

P: Leider nein, es gibt keine entscheidenden Kriterien in der Behandlung einer Radiusfraktur vergleichbar mit der unserer Patientin, die die konservative oder die operative Therapie klar vorgeben würden. Zusätzlich ist die Studienlage schwer zu interpretieren. Viele Studien vergleichen Patienten mit verschiedenen Aktivitätsgraden, andere haben keine klare Definition der Frakturen. Intra- und extraartikuläre Frakturen sind nicht vergleichbar. Es gibt nur wenige Studien, die all diese Umstände berücksichtigen. Bei Patienten über 65 Jahre variieren Aktivitätslevel und Vorerkrankungen, und demenzielle Erkrankungen werden oft nicht berücksichtigt.

G: Was machen wir jetzt also mit unserer Patientin? Zusammenfassend kann man sagen, dass die operative Intervention die Anatomie gut rekonstruieren würde, die Wahrscheinlichkeit eines schlechten Outcomes geringer ist und die Selbstständigkeit frühzeitiger erreicht werden kann.

P: Der Gips kann jedoch auch zu einem sehr guten Outcome führen, eine perfekte Reposition ist bei älteren Patienten gar nicht notwendig und zusätzlich ersparen wir der Patientin die Risiken der Operation. Wir sollten die Patientin umfassend aufklären, ihr die Vor- und Nachteile erörtern und sie in die Entscheidungsfindung einbinden. Du hast mir viel über diese Patientin berichtet und hast dir viele Gedanken gemacht. Ich glaube auch, dass eine operative Therapie für diese Patientin vorteilhaft ist. Mir geht’s nur darum, dass man die Entscheidung individuell trifft und argumentiert, warum man operativ agiert. Schreib sie bitte auf das OP-Programm, wenn wir mit ihr gesprochen haben – es sollte sich heute vielleicht noch ausgehen (Abb. 2). Morgen könnten wir die Patientin dann bereits entlassen, sodass sie ohne Gips, aber vielleicht mit einer komfortableren Schiene sich auch wieder um ihren Angehörigen kümmern kann.

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Abb. 2: Die Röntgenbilder nach der operativen Versorgung mit winkelstabiler Plattenosteosynthese

G: Ja, die 24-Stunden-Pflege kümmert sich in der Zwischenzeit um den Gatten. Ich habe sie eh schon über die Möglichkeiten aufgeklärt und der Anästhesie Bescheid gegeben. Danke, Philipp!

1 Leone J et al.: Predictors of early and late instability following conservative treatment of extra-articular distal radius fractures. Arch Orthop Trauma Surg 2004; 124(1): 38-41 2 Mackenney PJ et al.: Prediction of instability in distal radial fractures. J Bone Joint Surg Am 2006; 88(9): 1944-51 3 Lizaur-Utrilla A et al.: Volar plate for intra-articular distal radius fracture. A prospective comparative study between elderly and young patients. Orthop Traumatol Surg Res 2020; 106(2): 319-23 4 Martinez-Mendez D et al.: Intra-articular distal radius fractures in elderly patients: a randomized prospective study of casting versus volar plating. J Hand Surg Eur Vol 2018; 43(2): 142-7 5 Omokawa S: Commentary on Martinez-Mendez D. et al. Intra-articular distal radius fractures in elderly patients: a randomized prospective study of casting versus volar plating. J Hand Surg Eur Vol 2018; 43(2):148-9 6 Murillo B et al.: Diagnosis and treatment incidence of osteoporosis in patients with distal radius fractures. Rev Asoc Argent Ortop Traumatol 2019; 84(2): 99-104 7 Ostergaard PJ et al.: Considerations in the treatment of osteoporotic distal radius fractures in elderly patients. Curr Rev Musculoskelet Med 2019; 12(1): 50-6 8 Saving J et al.: External fixation versus volar locking plate for unstable dorsally displaced distal radius fractures - a 3-year follow-up of a randomized controlled study. J Hand Surg Am 2019; 44(1): 18-26 9 Loisel F et al.: Treatment goals for distal radius fractures in 2018: recommendations and practical advice. Eur J Orthop Surg Traumatol 2018; 28(8): 1465-8 10 Dario P et al.: Is it really necessary to restore radial anatomic parameters after distal radius fractures? Injury 2014; 45(Suppl 6): S21-6 11 Hevonkorpi TP et al.: Incidence of distal radius fracture surgery in Finns aged 50 years or more between 1998 and 2016 - too many patients are yet operated on? BMC Musculoskelet Disord 2018; 19(1): 70 12 Dresing K et al.: Leitlinie Distale Radiusfraktur des Erwachsenen. Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie e.V. (DGU) 2021; AWMF-Nr. 012-015 13 Löw S et al.: The requirement for closed reduction of dorsally displaced unstable distal radius fractures before operative treatment. Dtsch Arztebl Int 2020; 117(46): 783-9 14 Kelly AJ et al.: Is manipulation of moderately displaced Colles‘ fracture worthwhile? A prospective randomized trial. Injury 1997; 28(4): 283-7

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